Die Kundgebung in Belgrad begann also mit einer 15-minütigen Gedenkfeier für die Opfer. Die Schuld an der Katastrophe wurde der Regierung zugeschrieben. Die Staatsanwaltschaft wurde aufgefordert, den Fall zu untersuchen. Der Bahnhof war im Rahmen einer von China geleiteten Modernisierung der serbischen Eisenbahninfrastruktur renoviert worden. Die Strecke Belgrad –Budapest über Novi Sad ist auch Teil der „Neuen Seidenstrasse“. Die Arbeiten hatten 2021 begonnen, und der Bahnhof wurde während des Wahlkampfs 2022 eingeweiht. Die Renovierung dauerte jedoch bis Juli 2024, als die örtlichen Behörden erklärten, dass der Bahnhof nun „nach europäischen Standards“ renoviert worden sei.
Das serbische Bauministerium hatte die Renovierungsunterlagen als vertraulich eingestuft, was das Misstrauen der Demonstrant:innen verstärkte. Sie werfen der Regierung vor, mutmassliche Schlampereien bei den Arbeiten aus Rücksicht auf China zu vertuschen und korrupt zu sein.
Der Vorwurf der Korruption ist in den ausgebeuteten und abhängigen Ländern Südost- und Osteuropas ebenso populär wie banal. Die Regierungen sind abhängig von ausländischen Investor:innen und Institutionen, die diese Länder ausbeuten oder politisch gefügig machen wollen. Das bringt wenig Gutes und viele Nachteile für die Bevölkerung. Also verteilt jede Regierung den geringen Nutzen, den sie bringt, unter den Bevölkerungsteilen, die ihre Machtposition unterstützen. Korruption ist also systemischer Bestandteil eines abhängigen, ausgebeuteten Landes, einer Halbkolonie. Jede Oppositionspartei und jede Protestbewegung wirft der amtierenden Regierung deshalb Korruption vor.
Hat sich Aleksandar Vučić, seit 2017 Präsident Serbiens, neben dieser systemischen Korruption auch persönlich bereichert, wie viele vermuten? Er bestreitet es natürlich. Aber es wäre kein Wunder, wenn er es getan hätte. Nicht weil er in Serbien regiert und das auf dem Balkan liegt, sondern weil er ein bürgerlicher Politiker ist und somit die Macht hat, die Verteilung öffentlicher Gelder zu kontrollieren.
Die Deutschen werden sich daran erinnern, dass in den Jahren 2020 – 2021 Zahlungen in Höhe von jeweils bis zu 50 Millionen Euro an CDU/CSU Politiker:innen für die „Beratung“ der staatlichen Stellen und „Vermittlung“ beim Kauf von Covid-Masken geleistet wurden, und die Brit:innen werden sich an den Skandal um einen Grossspender der Konservativen Partei und Parlamentskandidaten erinnern, der für ein Unternehmen, mit dem er und seine Frau in Verbindung standen, Aufträge im Wert von 200 Millionen Pfund für Persönliche Schutzausrüstung (PSA) sicherte.
Die Wut über die fahrlässige Tötung von 15 Menschen ist vollauf berechtigt. Der Vorwurf der Korruption ist eher hilflos. Eine Bewegung, die dabei stehenbleibt, wird das Ziel einer nicht-korrupten Regierung nicht ereichen – egal ob sie versandet, unterdrückt wird oder ob sie die amtierende Regierung stürzt und duch eine andere bürgerliche Regierung ersetzt. Die Korruption wird weitergehen.
Nötig ist ein Kampf, der das System beseitigen kann, das Vorfälle wie in Novi Sad produziert. Nötig sind entsprechende Forderungen und Aktionen.
Wirtschaftliche Lage
Die Krise von 2008/9 stürzte Serbien in eine Depression, aus der es fünf Jahre lang nicht herauskam. Seit 2015 wächst das BIP jedoch stetig, mit Ausnahme des Covid-Jahres 2020. Im Durchschnitt liegt der Anstieg bei etwa 3,6 % pro Jahr. Ein wichtiger Faktor dabei ist der Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen (ADI), die überproportional in Industrie- und Bergbauprojekte fliessen. Der Anteil Chinas an diesen ADI nimmt kontinuierlich zu. 2024 wurde es zum grössten Investor und gewinnt auch als Handelspartner an Bedeutung, wobei Serbien hauptsächlich Kupfer nach China exportiert. Die EU-Länder investierten immer noch etwas mehr, aber ein Grossteil davon kam aus den Niederlanden; dahinter verbergen sich schlicht internationale Kapitalgesellschaften, die dort ihren Sitz haben.Das bedeutet, dass auch die grossen imperialistischen Global Player auf Serbien aufmerksam geworden sind. Die USA drohen dem Land mit Sanktionen wegen der anhaltenden Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, das sein Hauptöllieferant ist. Das russische Aussenministerium warnte nach den Belgrader Protesten schnell vor einer vom Westen inspirierten „Farbenrevolution“. Deutschland, das Serbien seit Jahrzehnten links liegen gelassen hatte, hatte sich im Juli 24 in der Person von Kanzler Scholz aufgemacht und die Hand nach der grössten Lithium-Lagerstätte in Europa ausgestreckt, die im Jadar-Tal in Westserbien liegt. Schon vor Jahren hatte sich Rio Tinto die Abbaurechte dort gesichert, aber nach massiven Protesten der serbischen Umweltbewegung und der lokalen Bevölkerung hatte die Regierung 2022 die Raumordnungspläne so geändert, dass ein Abbau unmöglich wurde. Der britisch-australische Konzern aber hat nicht aufgegeben und weiter Land aufgekauft. Anfang Juli 2024 setzte das serbische Verfassungsgericht die Entscheidung von 2022 aus.
Am 19. Juli kam Scholz mit dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maroš Šefčovič, nach Belgrad, um mit Vučić die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen. Laut Vucic soll Scholz ihn auch den Bau einer Batteriefabrik versprochen haben und erwähnte Mercedes, VW und Stellantis, sowie koreanisches Interesse. China hatte sich übrigens auch bemüht: Xi war schon im Mai mit dem selben Ziel in Belgrad gewesen, offensichtlich erfolglos.
Vordergründig sieht so aus, also ob Vučić es geschafft habe, EU und China zum Wohle Serbiens gegenseitig auszuspielen. Tatsächlich hat er eine fruchtbare Landschaft im Nordwesten des Landes mitsamt ihren Flüssen und der Existenzgrundlage ihrer Bewohner:innen verkauft. Die Profite aus dem Bergbau wie aus der Batteriefabrik werden nach Brittanien, Deutschland, Italien und Korea gehen, und von dort in die Taschen der Aktionär:innen.
Wenn aber das Verfassungsgericht auf Wunsch von Vučić den Raumordnungsbeschluss von 2022 kippt, wieviel Hoffnung kann man auf ein Eingreifen der Staatsanwaltschaft im Fall des eingestürtzten Bahnhofsdach haben? Im Fall der Fabriken, die China zuletzt in Serbien gekauft hatte, hatte es übrigen verlangt, dass dort das serbische Arbeitsrecht ausser Kraft gesetzt wird. Das Parlament in Belgrad hatte eilfertig die geltenden Gesetze und die Rechte der Gewerkschaften ausser Kraft gesetzt.
Vom Volksprotest zum Klassenkampf
Für Sozialist:innen und Kommunist:innen muss klar sein, dass Versuche, eine imperialistische Macht gegen eine andere auszuspielen oder eine zu bevorzugen, nur kurzfristige Erfolge haben können. Genauso wie wenn Arbeit„nehmer“:innen zu einem anderen Unternehmen wechseln, das auch kein Kampf für Lohnerhöhungen ist.So positiv es wäre, wenn die Protestbewegung Vučić stürzen würde, so wäre ein Nachfolger den gleichen Zwängen des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Weltordnung unterworfen. Es besteht sogar die Gefahr, dass imperialistische Mächte solche Volksbewegungen instrumentalisieren, missbrauchen und zerstören. Auch wenn wir die Versuche des russischen Aussenministeriums und Vučićs selbst, die Protestbewegung als von aussen gesteuert zu diffamieren, entschieden ablehnen, zeigt das Beispiel des Maidan im Jahr 2014, dass eine kleine, aber entschlossene Gruppe, die ukrainische/n extreme Rechte und Faschist:innen, mit viel Geld eine legitime, aber diffuse Bewegung kapern können.
Vučić und die herrschende Klasse in Serbien haben eine lange Geschichte der Ausbeutung des Nationalismus für ihre eigenen Zwecke. In einer Fernsehsendung versprach er, dass „die Bürger:innen Serbiens bis zum 31. März den heftigsten Kampf gegen Korruption in den letzten 24 Jahren erleben werden“. Er fragte auch: „Wer hat die Proteste unterstützt? Hat Albin Kurti sie unterstützt? Offen und öffentlich in Zagreb. Haben alle kroatischen Politiker:innen und Medien mit einer brutalen Kampagne für die Proteste Partei ergriffen?“. So bringt Vučić die Bewegung mit den „nationalen Feinden“, Kroatien und dem Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, in Verbindung, um sie zu diskreditieren.
Diese Worte zeigen auch die zweite Funktion des Nationalismus: die Aufmerksamkeit von der Ausbeutung und den Übergriffen der imperialistischen Länder und ihrer Unternehmen auf die serbische Bevölkerung und ihre Rechte abzulenken. Es ist völlig berechtigt, wenn serbische Gewerkschafter:innen oder die Bevölkerung des Jadartals auf den Aspekt der nationalen Unterdrückung in den Aktionen chinesischer oder deutscher Imperialist:innen hinweisen, zum Beispiel mit dem Slogan „Ne damo Jadar“ („Wir geben Jadar nicht her“).
Aber Kurti ist nicht verantwortlich für die entsetzlichen Bedingungen in der Mine Cukaru Peki der Zijin Mining Group Co. bei Bor (Ostserbien) oder beim Bau der Linlong-Reifenfabrik in Zrenjanin (Vojvodina) oder für die Vertreibung der Bevölkerung im Jadartal.
Und genausowenig wird es diese imperialen Übergriffe bekämpfen, wenn Vucic verspricht,: „Es wird weitere Länder geben, die dem Kosovo die Anerkennung entziehen werden, Länder von den wunderbaren Kontinenten – Afrika und Asien.“
Sozialist:innen und Kommunist:innen müssen nicht nur vor der Falle des Nationalismus warnen, sie müssen auch eine andere Perspektive aufzeigen, damit solche Kämpfe nicht in einer kleinbürgerlich-demokratischen Sackgasse enden. Die Arbeiter:innenklasse muss ins Spiel kommen. Nicht, weil sie besonders stark und gut organisiert wäre. Das ist sie in Serbien nicht, obwohl sie stärker ist als in einigen anderen Balkanländern. Aber sie kann sich sowohl von der Erpressung durch internationale Unternehmen als auch von der durch die serbische Bourgeoisie unabhängig machen. Sie kann sich für ihre Kämpfe mit den Arbeiter:innen in den Nachbarländern sowie in den imperialistischen Ländern zusammenschliessen. Eine politisch und gewerkschaftlich organisierte Klasse kann durch Streiks politischen und wirtschaftlichen Druck ausüben, die Regierungsmacht übernehmen und die Wirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht der multinationalen Konzerne umgestalten. Es ist Aufgabe revolutionärer Sozialist:innen, dieses Potenzial deutlich zu machen, sowohl durch Propaganda als auch durch Vorschläge an Aktivist:innen. Mögliche Ansätze sind:
- Arbeiter:inneninspektionen: Teams aus Gewerkschafter.innen, Bau-Fachleuten, Bahnhofsangestellten und der Arbeiter:innen, die am Bau beteiligt sollen den Bahnhof untersuchen. Sollte es sich um chinesische Wanderarbeiter:innen handeln, soll die chinesische Botschaft eine Einreise finanzieren und Repressionsfreiheit zusichern. Alle Pläne und Verträge für den Eisenbahnbau müssen auf den Tisch, damit die zur Vemeidung ähnlicher Fälle überprüft werden können.
- Im Fall des Jadar-Tals schlagen wir eine internationale Konferenz von Umweltaktivist:innen, Delegierten der lokalen Bevölkerung und Gewerkschaftern aus anderen Rio-Tinto-Minen und aus der europäischen Autoindustrie vor. Der Europäische Gewerkschaftsbund und IndustriAll, der internationale Gewerkschaftsverband für Industrie und Bergbau, sollten diese Konferenz organisieren und finanzieren. Auf einer solchen Konferenz sollte entschieden werden, ob es eine Förderung geben sollte oder nicht. Sollte das Lithium abgebaut werden, sollte der Konzern Rio Tinto entschädigungslos enteignet werden und der Lithiumabbau unter Arbeiter:innenkontrolle organisiert werden.