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Putins „ukrainische Fenster“: Ein Kommentar

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Ein Kommentar Putins „ukrainische Fenster“

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Politik

Der Kreml scheint die Ukraine für den mörderischen Anschlag in Moskau verantwortlich machen zu wollen.

Feuerwehrleute in Moskau nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall am 22. März 2024.
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Feuerwehrleute in Moskau nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall am 22. März 2024. Foto: Mosreg.ru (CC-BY 4.0 cropped)

Datum 25. März 2024
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Derzeit ist schlicht nicht ermittelbar, wer tatsächlich den Massenmord in einer Moskauer Konzerthalle organisiert hat, dem mehr als 140 Menschen zu Opfer fielen. Entscheidend aber ist, wie die russische Machtvertikale darauf reagieren wird. Wie wird der Kreml diesen Terroranschlag interpretieren? Und, vor allem, welche Narrative werden die kremltreuen Massenmedien in Umlauf bringen?

Die Urheberschaft des Anschlags scheint erwiesen. Es liegt ein Bekennerschreiben des Islamischen Staates vor,1 westliche Nachrichtendienste haben Russland schon Anfang März vor drohenden Anschlägen extremistischer Islamisten gewarnt.2 Am 7. März veröffentlichte die US-Botschaft in Moskau gar eine direkte Terrorwarnung, in der US-Bürger aufgrund anstehender Anschläge aufgefordert wurden, grosse Menschenansammlungen, darunter auch explizit Konzerte, zu meiden. Und gerade hieraus resultiert nun ein grosses Problem für den Kreml, da dieser verheerende Anschlag auf ein Scheitern der russischen Sicherheitskräfte – und des „starken Mannes“ im Kreml – hindeutet. Mehr noch: Vor wenigen Tagen hat Putin die westlichen Terrorwarnungen öffentlich als „Erpressung“ und blosse Panikmache abgetan, die Russland destabilisieren solle.3

Doch davon ist nicht mehr die Rede. Prominente Vertreter der russischen Machtvertikale beeilten sich stattdessen, die Anschläge in Zusammenhang mit der Ukraine zu bringen. Der ehemalige russische Präsident und Putin-Vertraute Medwedew drohte, die „Führer der Ukraine“ zu liquidieren, sollten sie für die Anschläge verantwortlich sein.4 Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Marija Sacharowa, erklärte öffentlich, dass die gefassten Terroristen „in der Ukraine“ Zuflucht gesucht hätten.5 Aus dem russischen Verteidigungsministerium hiess es ebenfalls, dass ukrainische Stellen in den Anschlag verwickelt sein sollen – und dass Russland, sollten sich die Indizien verhärten, hierauf eine „Antwort auf dem Schlachtfeld“ liefern solle.6 Die Chefpropagandistin Putins, Margarita Simonjan, erklärte rundweg zu wissen, dass Kiew für den Terror verantwortlich sei, und nicht der Islamische Staat. Man kenne „die Namen der Täter“, so Simonjan.7

In seiner Rede an die Nation griff Putin tatsächlich dieses Narrativ auf, indem er erklärte, die fliehenden Terroristen hätten sich „Richtung Ukraine bewegt“, wo ein „Fenster für den Grenzübertritt“ für die bereitstünde.8 Damit implizierte Russlands Staatschef, dass ukrainische Stellen mit den Terroristen kooperiert haben müssten. Laut dem russischen Nachrichtendienst FSB sollen die Täter tadschikische Staatsangehörige sein, die mitunter über die Türkei nach Russland einreisten. Sie sollen den Massenmord in der Region Moskau ausgeführt haben, um hiernach ihr Fahrzeug zu besteigen und in Richtung ukrainischer Grenze aufzubrechen.9 Die Festnahme der Terroristen soll erst nach einer Fahrt von mehreren hundert Kilometern, rund 150 Kilometer vor der ukrainischen Grenze (Region Brjansk), erfolgt sein.

Kiew wies diese Anschuldigungen Russlands umgehend als „absurd“ zurück. Und dennoch, unabhängig von der tatsächlichen Urheberschaft dieser Anschläge: Es öffnet sich ein Fester für den Kreml, ein Eskalationsfenster. Mittels eines Narrativs, das die Ukraine in Zusammenhang mit dem Terror in Moskau bringt, könnte eine weitere Eskalation des Kriegs leicht legitimiert werden – sowohl hinsichtlich einer weiteren Mobilisierungswelle, wie auch einer Ausweitung der Kampfzone durch neue Offensiven (Charkow ist im Gespräch) oder eine Intensivierung der Raketen-Angriffe.

Moskau könnte versucht sein, die für das Früher oder den Sommer oder das Frühjahr prognostizierte Grossoffensive bald zu starten, um sie der Bevölkerung als eine Vergeltungsmassnahme für den Terror von Moskau zu verkaufen. Dies könnte gerade in Reaktion auf die europäische Diskussion um eine Intervention in der Ukraine geschehen. Im Kreml nimmt auch schlicht die Angst vor einem direkten westlichen Einggreifen in dem Ukraine-Krieg zu, sodass sich auch das Zeitfenster schliessen könnte, in der Russlands Militärmaschine eine eindeutige materielle Übermacht geniesst.10

Putin könnte somit versucht sein, mit der Empörung über den Terror im Rücken schnell militärische Tatsachen zu schaffen, ehe der Westen doch noch direkt interveniert in der Ukraine. Die sich derzeit abzeichnende Konstellation weist schliesslich Parallelen mit auf den Aufstieg des russischen Präsidenten während des Zweiten Tschetschenienkrieges auf. Dem abermaligen Waffengang im Kaukasus, der Putin erst zu einer prominenten Figur mache, gingen 1999 Terror-Anschläge gegen Wohnblöcke in Russland voraus,11 die tschetschenischen Terroristen zugeschrieben worden sind, obwohl es auch Indizien für eine Urheberschaft des FSB gibt.

Tomasz Konicz