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Plädoyer für einen selbstbewussten und offensiven Antimilitarismus

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Militär als Extremform der Herrschaft Plädoyer für einen selbstbewussten und offensiven Antimilitarismus

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Politik

In ihrem Roman Gone to Soldiers verflechtet Marge Piercy die Leben sehr unterschiedlicher Menschen in den antifaschistischen Kämpfen des 2. Weltkriegs.

Krivak I Klasse.
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Krivak I Klasse. Foto: Unknown author (PD)

Datum 12. Oktober 2023
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Murray, einer ihrer Protagonist:innen, kämpft mit der US-Armee im Pazifikkrieg. In einem Gefecht entscheidet er sich seinen direkten Vorgesetzten von hinten zu erschiessen. Als Jude wurde er von diesem Vorgesetzten schikaniert und es scheint eine Frage der Zeit, bis dieser ihn in einen Einsatz schickt, der den sicheren Tod bedeutet. Mit seinem Entschluss sichert er also das eigene Überleben. Erholen wird er sich im weiteren Verlaufe des Romans davon und von den grausamen Schlachten des Pazifikkriegs nicht mehr.

Im Gegenteil, der feministische Roman beschreibt aus Sicht seiner Verlobten, Ruthie, wie schwer es ist, mit einem Menschen weiterzuleben, der derartige Gewalt als Soldat überlebt hat. Der Roman beschränkt sich nicht darauf, die Charaktere und Geschehnisse vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs zu schildern, sondern es gelingt Piercy ein sehr vielschichtiges Bild dessen zu zeichnen, was der Krieg für die Leben unterschiedlicher Menschen bedeutete, insbesondere für jüdische Frauen. Im Hintergrund steht dabei immer die Frage, unter welchen Bedingungen, ihre Protagonist:innen auch — oder gerade im Krieg selbstbestimmte Entscheidungen treffen können.

Militär als Extremform der Herrschaft

Neben dem Hinweis auf den sehr lesenswerten Roman, erinnert uns die Kurzanalyse an die seit der Eskalation des Ukrainekrieg auch von einigen Anarchist:innen vergessenen Gründe für einen konsequenten Antimilitarismus. Krieg bedeutet nicht nur für die Zivilbevölkerung, sondern auch für die aktiven Kämpfer:innen oft entsetzliches Leid. Er reduziert für die Mehrzahl der Menschen die Handlungsspielräume drastisch.

Wenn sich der ukrainischer Präsident Selenskyj seit Kriegsbeginn im olivgrünen Militärshirt präsentiert, muss dies als ein besonders widerwärtiger wenngleich geschickter Versuch gelten, den Unterschied zwischen denjenigen zu verschleiern, die Befehle erteilen und denen die sie ausführen müssen. Die Botschaft lautet: „Wir kämpfen alle im selben nationalen Boot.” Ein Mitglied des anarchistischen Kollektivs Assembly aus Charkiw hat daraufhingewiesen, dass der Job des Soldaten allerdings nicht so begehrt ist, wie uns einige Medien Glauben machen wollen:

„Etwa seit März hat es keine massenhaften Wellen von Kriegsfreiwilligen mehr gegeben. Allgemein gilt: Je mehr jemand selbst oder über Verwandte vom Militär mitbekommt, umso weniger nationalistisch ist er. Wer die Demütigungen beim militärischen Drill erlebt hat oder die miserable Ausrüstung der Soldaten, wer die Horrorgeschichten über die Offiziere kennt, über ihre mangelhafte Ausbildung und die irrwitzigen Befehle, kaum bewaffnet in wenigen Tagen eine Stadt einzunehmen, der wird die optimistischen Geschichten über die zügige Rückeroberung „unserer verlorenen Gebiete”, die Selenskyj uns tagtäglich eintrichtert, eher nicht glauben... .“[1]

Das Militär ist der Inbegriff von Herrschaft, der sowohl nach innen in Form straff durchgesetzter Hierarchien als auch nach aussen wirkt. In beide Richtungen entfaltet sich das Unterdrückungspotential nicht nur durch direkte körperliche Gewalt, sondern es nimmt auch massiv Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse und erzeugt rechte Weltbilder bei den Soldaten. Die sogenannte »Zeitenwende« ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Gewaltapparat mit 100 Mrd. Euro materiell aufgerüstet wird und zeitgleich eine militärische Herangehensweise an Konflikte fast schon alternativlos zu werden droht. Plötzlich wimmelt es in der Öffentlichkeit von (Ex-)Militärs, die die Lage der Ukraine erklären und als Expert:innen belegen, dass es jetzt wirklich noch viel mehr Geld für Waffen braucht. Noch vor kurzem hingegen recherchierte selbst die taz dazu, wie Nazi-Prepper alles unterhalb der Grösse eines Kampfpanzers mit nach Hause nehmen, und eine widerstandslose Durchsetzung des 2%-Ziel der NATO schien schwer vorstellbar.[2]

Die Widersprüche der ukrainischen Linken

Es gibt keine Rechtfertigung für den von Russland geführten Krieg zur Durchsetzung der eigenen Herrschaftsinteressen. Der Krieg hat besonders in der Ukraine Leid über Millionen von Menschen gebracht. Im Vorgehen des russischen Staats und in seiner gesellschaftlichen Vision lässt sich nicht das geringste emanzipatorisches Potential ausmachen. Wir sollten uns entschieden dagegen wehren bzw. diejenigen unterstützen, die es in emanzipatorischer Absicht tun. Nur wie? Auch wenn es nicht immer einfach ist praktische Antworten auf diese grossen Frage zu finden, ist das kein Grund sie gar nicht erst zu stellen. In der öffentlichen Debatte wird militärischer Widerstand unhinterfragt als die einzig denkbare effektive Form des Widerstands gegen die russische Invasion gehandelt.

Wenn Anarchist:innen wie Black Flag oder andere Linke in der Ukraine wie Sotsialnyi Rukh sich der eigenen Regierung im Kampf gegen Russland anschliessen, geben sie die Möglichkeit auf, sich dieser Regierung inanderen Fragen entgegenzustellen. Dieses Dilemma zeigt sichan dem Protest des Vorsitzenden von Sotsialnyi Rukh, Vitalyi Dudin, gegen die neoliberale Arbeitsreform der ukrainischen Regierung. Das Gesetz „kommt zu einer Zeit, in der die ukrainischen Gewerkschaften und die Arbeitenden insgesamt im popularen Widerstand und in der Organisation gegenseitiger Hilfe mobilisiert sind und es ist ein Schlag ins Gesicht für ihren Mut und ihre Aufopferung.

Durch solche Massnahmen wird die Last des Krieges von den Reichsten auf die arbeitende Mehrheit verlagert. Es muss zurückgewiesen werden.'[3] Da ernsthafter Widerstand gegen das Gesetz dem obersten Ziel der Verteidigung des ukrainischen Nationalstaats im Weg stünde, muss er zähneknirschend unterlassen werden. „Die Mehrheit derjenigen, die sich in der Ukraine als Anarchisten bezeichnen, [...] haben sich sofort mit der herrschenden Klasse zu einer einzigen nationalistischen Bewegung zusammengeschlossen,” kritisiert das anarchistische Kollektiv Assembly diese Position.[4]

Was gilt es zu verteidigen?

Radikale Linke in Deutschland, in der Ukraine und in Russland sind weitestgehend marginalisiert und haben wenig Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Hierzulande scheitern Linke regelmässig daran, sich selbst und andere — etwa Geflüchtete —gegen den Zugriff der demokratischen Herrschaft zu schützen. Mit demokratischer Herrschaft sind nicht nur die direkten Angriffe von Polizei und Justiz gemeint, sondern etwa auch die netzwerkartig zu denkende Fähigkeit und Vielzahl an Techniken, gesellschaftliche Institutionen und Diskurse im eigenen Interesse zu prägen. Die entscheidenden Fragen lauten also: Wie können wir uns vor dem Zugriff der Herrschenden schützen sei es der eigenen oder anderer Nationalstaaten? Und was wollen wir überhaupt schützen?

Eine emanzipatorische Antwort auf die zweite Frage kann dabei nicht einfach lauten: das nationale Selbstbestimmungsrecht des ukrainische Volkes. Auch die erste Frage nicht vorschnell mit Bakunin-Zitaten abgetan werden. Denn die Entscheidung zwischen der „unvollkommenste Republik” und der „aufgeklärtesten Monarchie,”[5] führt schnell zu dargelegten Widersprüchen regierungstreuer Linker. Die Hoffnung, dass eine andere Welt möglich ist, wird so schnell zu einer rein theoretischen, aber nichts für dass es sich zu kämpfen lohnt. Die antiautoritäre Linke schafft sich so selbst ab.

Der Autoritarismus der anderen

„Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit die Ukraine ihre Freiheit und Einheit erfolgreich verteidigen kann,“ schreibt Ralf Fücks, Geschäftsführer des grünen Zentrum Liberale Moderne, im Spiegel.[6] Die Ukraine sei „neben Iran der zentrale Schauplatz der globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus,“ so Fücks. Autoritarismus wird von Fücks zu einem Problem der anderen erklärt. Das ist Blödsinn. Es sei beispielsweise an die staatliche Corona-Politik oder jüngst die Räumung Lützeraths erinnert. Allerdings scheint die liberal-demokratische Strategie durchaus aufzugehen.

Im direkten Vergleich mit Putin, sieht Brechmittel-Scholz gerade zu wie ein Freiheitskämpfer aus. Dierechten Tendenzen in der deutschen Gegenwartsgesellschaft haben mit dem grünen Liberalismus eines Ralf Fücks natürlich nichts zu tun. Stattdessen wird gerne die Finanzierung der AfD mit russischen Geldern betont. Mit einer solchen binären Reduktion lässt sich anschliessend hervorragend wertebasierte Aussenpolitik machen. Russland ist böse, da bleibt Robert Habeck ein Guter, auch wenn er noch so viele Treibstoffund Waffendeals mit Saudi Arabien und Katar macht. Auch in der Ukraine wird der eigene Autoritarismus externalisiert und auf Russland projiziert.

Wie sich am Verbot der nicht rechten Oppositionsparteien, den Verboten russischer Kultur, [7] den Debatten um den Holodomor und die Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen im »Holocaust durch Kugeln« zeigt, wird Autoritarismus vor allem als Kontinuität von Sowjetherrschaft und Stalinismus gesehen. Der identitätspolitische Vorwurf des Westsplaining meint in diesem Zusammenhang, dass Menschen aus »dem Westen«, die nicht im direkten Einflussgebiet Moskaus leben, die Bedrohung durch das russische Regime nicht verstehen können.

Der Hinweis, die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen ernst zu nehmen, ist in der Tat ein berechtigter Einwand gegen die Ignoranz und Arroganz so mancher friedensbewegter Linker. Er verkommt jedoch zu einer identitätspolitischen Nebelkerze, wenn er benutzt wird, um Kritik am durch den Krieg befeuerten ukrainischen Nationbuilding abzuwehren. Denn der Vorwurf des Westsplaining verschleiert die innerhalb der ukrainischen Gesellschaft bestehenden Unterschiede, die sich selbst innerhalb der ukrainischen Linken an den konträren Positionen von Gruppen wie Assembly und Sotsialnyi Rukh zeigen.

Eine ernst gemeinte Auseinandersetzung mit der ukrainischen Geschichte müsste immer auch die eigene Verwicklung in die Verbrechen des Stalinismus hinterfragen und Ukrainer:innen nicht ausschliesslich als Opfer darstellen. Eine solche Perspektive könnte verstehen helfen, warum die Gesellschaften des ehemaligen Warschauer Pakts auch heute noch vom Stalinismus geprägt sind.[8] In vielen Familien im postsowjetischen Raum gab und gibt es sowohl Täter als auch Opfer des Stalinismus. Diese Erfahrungen in ihrer Komplexität anzuerkennen, zu verstehen, welche Spuren sie individuell und kollektiv hinterlassen haben und wie sie sich in Zukunft verhindern lassen, sollte Kern der gesellschaftlichen Aufarbeitung sein. Die Schuld alleine Russland zuzuweisen, verstellt den Blick auf die eigene Verwicklung in diese Verbrechen. Das Perfide daran: das ukrainische Nationbuilding präsentiert sich heute trotz dieses Widerspruchs als Emanzipationsbewegung gegen das stalinistisch-autoritäre Gesellschaftsmodell.

Perspektiven autonomer Politik

Im Februar wurde in den deutschen Debatten das von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht veröffentlichte Manifest für Frieden aus den verschiedensten Gründen heftig kritisiert.[9] Aus antimilitaristischer Sicht lässt sich allerdings durchaus begrüssen, dass das Manifest mit dem Zynismus der Herrschenden bricht, die Menschen für »unsere Werte« in den Tod schicken und demgegenüber wieder eine ernsthafte Debatte darüber anstösst, wie der Krieg beendet werden kann. Nach der ‚Free the Leopards“ Kampagne brauchte es dringend eine Intervention, die nicht-militärische Lösungen überhaupt wieder in den Bereich des Sagbaren zurückholt. In diese Kerbe stösst auch Jürgen Habermas Plädoyer für Verhandlungen.[10]

Zugleich ist offensichtlich, dass die genannten Vorschläge aus emanzipatorischer Sicht nicht weit genug gehen und es antimilitaristische Perspektiven jenseits eines Appelierens an die Regierenden zu entwickeln gilt. Denn Antimilitarismus ohne Herrschaftskritik ist ein Witz. Wir sollten uns daher auf die Stärken autonomer Politik besinnen. Statt uns in den lähmenden Diskursen der grünen Kriegsapologet:innen zu verfangen und Antworten auf die grossen real-politischen Fragen zu suchen, sollten wir antimilitaristische Positionen und Politik selbstbewusst vertreten.

Die Diskussion der angedeuteten Fragen nach (kollektiver) Selbstverteidigung gegen den autoritären Zugriff der Herrschenden gilt es zu führen, ohne dass es uns dabei gänzlich die Sprache verschlägt. Denn Widerstand gegen Militarisierung und Krieg ist dringend notwendig. Rüstungstransporte sabotieren, Militärfahrzeuge abfackeln, Bundeswehrwerbung verändern, Deserteur:innen und Kriegsdienstverweigerer:innen unterstützen — die Möglichkeiten von direkter Aktion und Sabotage der Kriegsmaschinerie bis Solidaritätsarbeit sind vielfältig. Wer aus den Kriegsländern fliehen oder desertieren kann, hat mehr Optionen, als sich mit der eigenen Regierung zu verbünden — diesen Weg Leuten zu ermöglichen, ist es wert zu kämpfen. Lasst uns jenseits der moralisierten medialen Debatten den Fokus wieder auf das Politik machen lenken, Kräfteverhältnissen verschieben und antimilitaristischer Standpunkte mit Wort und Tat durchsetzen.

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