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Anarchisten in Griechenland gegen Sparpolitik

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Rouvikonas und die Lage in Griechenland Anarchisten in Griechenland gegen Sparpolitik

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Politik

Farbanschläge verüben sie am helllichten Tag, korrupte Ärzte konfrontieren sie mit der Live-Kamera und in Botschaften und Firmenbüros dringen sie massenhaft ein. Dabei stehen sie mit Namen und oft auch mit Gesicht zu ihren Taten.

Bankautomat in Athen.
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Bankautomat in Athen. Foto: Sharon Mollerus (CC BY 2.0 cropped)

Datum 11. November 2019
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Die Mitglieder des griechischen anarchistischen Kollektivs Rouvikonas (dt. Rubikon) erhalten für ihre Aktionen viel Beifall. Die neue Regierung der liberal-konservativen Nea Dimokratia (ND) hat die Gruppe deswegen ganz besonders im Visier. Wir haben die Rouvikonas-Anarchist*innen in Athen getroffen und mit dem Gründungsmitglied und langjährigen Militanten Spiros Daperolas über Robin Hood, das Spektakel und die neue Rechtsregierung gesprochen.

Rouvikonas hat sich 2013 formiert, zu einem Zeitpunkt also, als die grossen Massenbewegungen gegen die Austerität (Sparpolitik) ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Was war die Motivation hinter eurem Gründungsprozess?

Die Anti-Austeritätsbewegung starb mit dem Aufstieg Syrizas – sie starb wegen Syriza. Als wir begannen als Gruppe zu arbeiten, waren die Massenbewegungen bereits am Auseinanderfallen. Wir suchten nach Wegen, die Flamme der sozialen Kämpfe weiterbrennen zu lassen. Viele von uns waren seit Jahren in der anarchistischen Bewegung aktiv. Wir wollten aber etwas anderes machen als das, was damals schon existierte.

Was wolltet ihr anders machen?

Aus unserer Sicht handelt die anarchistische Bewegung in Griechenland oft elitär. Wir entschieden uns für eine Praxis, die näher an die sozialen Problemen und näher an die Kämpfen der Arbeiter*innenklasse geht. Dies hat uns viel Stärke und Rückhalt gegeben. Wir haben mit Aktionen angefangen. Die theoretischen Diskussionen kamen später.

Mit zahlreichen direkten Aktion ist es Rouvikonas gelungen, viel Aufmerksamkeit zu generieren. Nicht nur in Griechenland, sondern international. Ihr habt zahlreiche Farbangriffe auf Botschaften durchgeführt, Scheiben von Konzernen eingeschlagen und seid in Büros staatlicher Institutionen eingedrungen, um Missetäter*innen mit einer Kamera zur Rede zu stellen. Kannst du uns mehr über die dahinter stehenden Konzepte erzählen? Wie wählt ihr Ziele aus?

Unsere erste Entscheidung war es, solche Probleme zu behandeln, die sehr offensichtlich sind. Wir wollten das Spektrum erweitern, in das Anarchist*innen für gewöhnlich involviert sind. Wir verhalten uns zu Themen, die mit Arbeitskämpfen und Klassenkämpfen zu tun haben, zu staatlichen Korruptionsfällen, generell zu sozialen Problemen, wo immer wir sie antreffen. Gleichzeitig versuchen wir unsere politischen Ansichten und Taten möglichst verständlich zu halten. Wir wollen nicht elitär sein. Weder in der Art wie wir sprechen oder schreiben, noch in der Art wie wir handeln.

Auch im Verhältnis zu den Medien geht ihr neue Wege. Was unterscheidet euch von der bisherigen Praxis der anarchistischen Bewegung in Griechenland?

Wir benutzen die medialen Möglichkeiten zu unserem Vorteil. Von unseren Aktionen produzieren wir Videomaterial, das wir über die sozialen Medien verbreiten – und wir machen das organisiert und geplant. Zudem haben wir ein bewusstes Verhältnis zu den Mainstream-Medien. Die anarchistische Bewegung in Griechenland lehnt normalerweise jegliche Verbindungen zu den Medien ab. Auch wir kooperieren in keiner Weise mit den griechischen Medien, aber wir versuchen ihre Funktionsweise zu nutzen. Die Videos unserer Aktionen fanden auf den sozialen Medien derart grosse Verbreitung, dass die Mainstream-Medien gezwungen waren, darüber zu berichten.

Wir versuchen ihre Logiken für uns zu nutzen. Auch wenn sie gegen uns hetzen und versuchen Ängste zu schüren. Letztlich machte das unsere Gruppe noch bekannter und unsere Aktionen sind mittlerweile auf Titelseiten und in grossen TV-Nachrichtensendungen gelandet. Diese Medienpräsenz hat anarchistische Ideen und Taten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Teile der anarchistischen Bewegung kritisieren, dass eure Praxis einen Spektakel-Charakter hat und alle nicht-Beteiligten in eine passive Zuschauerrolle zwingt. Was meint ihr dazu?

Diese Kritik hat eine gewisse Berechtigung. Die Gefahr besteht, ein Robin-Hood-Bild zu produzieren: Die gute Bande, die den Armen hilft und dafür Applaus erntet. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen nach Stellvertretern für ihr Handeln suchen. Aber wir stimmen nicht mit Guy Debords Analyse der «Gesellschaft des Spektakels» überein, wir sind keine Situationist*innen. Wir denken, dass spektakuläre Aktionen sehr nützlich sein können. Unsere Aktionen sind eine Art von Propaganda, mit der wir unsere Positionen verbreiten. Die bisherige Unfähigkeit der Bewegung, eine grössere Reichweite zu erlangen, müssen wir überwinden. Wir wollen eine breite gesellschaftliche Basis erreichen.

Ausserdem: Die Genoss*innen, die das Spektakel kritisieren, übersehen was jenseits davon passiert. Das Meiste, was Rouvikonas macht, passiert abseits der Kameras: Etwa unsere antifaschistische Praxis oder unsere Beteiligung an der anarchistischen Föderation.

Wenn wir auf die vergangenen Jahre zurückblicken, sehen wir, dass diese Praxis uns und der Bewegung viel geholfen hat. Die Menschen in der griechischen Gesellschaft haben durch diese Aktionen Anarchist*innen auf eine Art und Weise gesehen, wie nie zuvor: wir sind verständlicher, näher an der sozialen Realität.

Mit eurer Taktik von direkten Aktionen, zu denen ihr öffentlich steht, setzt ihr euch auch Repression aus. Mit welcher Art von Repression habt ihr es zu tun und wie begegnet ihr dem?

Wir spielen immer hart an der Kante. Das ist unsere Taktik. Auch wenn unsere Mitglieder zum Teil früher an revolutionären Aktionen mit einem hohen Militanzniveau beteiligt waren und viele im Gefängnis waren, haben wir uns heute für etwas anderes entschieden. Rouvikonas macht normalerweise Aktionen im Rahmen von Straftaten «zweiten Grades», welche die Grenze zu Delikten «dritten Grades» knapp nicht überschreiten. Denn das ist die Grenze zwischen Geldstrafen und Gefängnisstrafen. Straftaten zweiten Grades, wozu Sachbeschädigungen wie Farbangriffe und Scheibenbrüche gehören, führen kaum zu Gefängnisstrafen.

Wir haben uns ausserdem dazu entschieden, Namen und Gesichter zu zeigen. Viele unserer Leute gehen sehr offen mit ihrer Mitgliedschaft bei Rouvikonas um. Das war eine politische Entscheidung, weil uns das für die Bevölkerung fassbarer macht. Wir denken, dass uns das in unserer Beziehung zu den Menschen geholfen hat. Wir sind normale Leute, mit Namen, Jobs und einem normalen Leben.

Seit Juli 2019 ist nun die neue Rechtsregierung von Mitsotakis im Amt und die hat euch, den Besetzungen und ganz Exarchia den Krieg erklärt. Wie schätzt du die aktuelle Lage ein?

Um die aktuelle Situation zu verstehen, müssen wir auf die Zeit des Aufstiegs von Syriza zurückblicken. Die Anti-Austeritätsbewegung war damals sehr stark, es war eine Periode intensiver sozialer Kämpfe. Die antagonistischen Kräfte sind aber daran gescheitert, eine Strategie zu finden. Die Lösung, die Syriza anbot, schien deshalb alternativlos. Syriza übernahm und kanalisierte die Anti-Austeritäsbewegung. Das ist die historische Rolle der Sozialdemokratie. Sie übernehmen die Führung in den Perioden sozialer Kämpfe, übernehmen die Staatsmacht und befrieden die Kämpfe. Syriza kam mit dem Versprechen an die Macht, das Spar-Diktat der EU zu brechen – und sie haben genau das Gegenteil getan. Die darauffolgende Enttäuschung führte zu einer starken Demobilisierung. Davon hat die Rechte profitiert. Sie ist nun wieder an der Macht. Das ist der Tango der bürgerlichen Demokratie. Natürlich haben die Sozialdemokratie und die Rechte politische Differenzen, aber in historischer Perspektive bedingen sie sich gegenseitig.

Es gibt viele Menschen, deren Glauben ans politische System nachhaltig zerstört wurde. Und es gibt auch viele Menschen, die von den neoliberalen Angriffen der neuen Regierung betroffen sind. Diese hat nämlich begonnen, die verbliebenen sozialen Sicherheiten anzugreifen. Diese Leute wollen wir erreichen.

In gewisser Hinsicht, und das mag seltsam klingen, sind wir auch froh über den Regierungswechsel. Syriza und die Sozialdemokratie haben auch unterdrückt, aber auf eine subtilere Art. So sind unter Syriza mehr Besetzungen geräumt worden, als unter der vorherigen rechten Regierung. Sie haben das aber nicht öffentlich beworben. Die Nea Dimokratia hingegen bewirbt öffentlich eine Law-and-Order-Politik, um damit konservative und rechte Stimmen zu gewinnen. Tatsächlich ist die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte bei den Wahlen kollabiert. Ihre Wähler sind zur Nea Dimokratia übergelaufen.

Die ersten staatlichen Angriffe auf Exarchia wurden von der antagonistischen Bewegung stark beantwortet. Wir haben am 14. September eine grosse «No Pasaran»-Demonstration erlebt. Zu einer klar anarchistischen Demo kamen 5000 bis 7000 Menschen. Das hat uns positiv überrascht. Noch vor drei Monaten schaffte es die Bewegung gerade einmal, tausend Leute auf die Strasse zu bringen. Wir denken, dass nun die erste Welle der Angriffe vorbei ist. Die Kombination von grossen Mobilisierungen und verschiedenen legalen und illegalen Aktionen brachte die Regierung dazu, diese erste Welle des Angriffs zu stoppen. Aber es wird sicherlich eine zweite Runde geben.

Was bleibt heute noch übrig von den selbstorganisierten Strukturen aus der Periode vor Syriza?

Während des Kampfzyklus' ab 2008 sind die Menschen zwar massenhaft auf die Strasse gegangen, aber es wurden zu wenige kontinuierliche Strukturen aufgebaut. Gewiss gab es auch eine Organisierung an der Basis: Die Versammlungen auf den Plätzen oder in der Nachbarschaft. Mit dem Rückgang der Proteste, sind aber auch diese Strukturen weitgehend verschwunden. Der Kollaps der Bewegung hat es Syriza ermöglicht, diese zu übernehmen. Ein grosser Fehler der antagonistischen Bewegung war, zu stark auf die direkte Konfrontation mit dem Staat zu fokussieren.

Es braucht unbedingt eine Wiederbelebung der Nachbarschaftsversammlungen. Diese selbstorganisierten Strukturen an der Basis sind unserer Ansicht nach jene, die eine revolutionäre Veränderung anstossen und tragen sollten. Wir denken nicht, dass eine Partei die Revolution macht. Auch Rouvikonas ist nicht die Lösung, denn diese liegt allein in der Selbstorganisierung der Gesellschaft. Diese Organe der Selbstverwaltung versuchen wir in unserer Propaganda zu bewerben. In fast jedem unserer Communiqués nach Aktionen betonen wir die Notwendigkeit dieser Selbstorganisierung. Darüber hinaus sind wir auch selber Teil solcher Prozesse.

Kannst du einige Beispiele von Basisstrukturen nennen, an denen ihr euch beteiligt?

In der Gastronomie und in den Motorradlieferdiensten gibt es starke anarchistisch beeinflusste Gewerkschaften. Aber es sind wenige Sektoren. Momentan findet ein Generalstreik nur dann statt, wenn er von den grossen Gewerkschaften beschlossen wird, welche von den reformistischen Parteien kontrolliert werden. Diese Gewerkschaften sind komplett gescheitert, etwas gegen die Austeritätspolitik zu tun. Sie haben alles verraten. Trotzdem kann es derzeit keinen Generalstreik ohne diese Gewerkschaften geben. Bis zu dem Zeitpunkt an dem die Basis-Gewerkschaften fähig sind, einen Generalstreik auszurufen – und sei es nur für einen Tag – sind wir abhängig von diesen Gewerkschaftsbürokratien.

Zu den Quartiersversammlungen: Einige von ihnen existieren noch in den Vororten Athens. Aber sie haben an Stärke verloren. Natürlich gibt es die Besetzungen der Bewegung und viele migrantische Besetzungen. Aber es bleibt alles sehr marginal. Das, was an Selbstverwaltungsstrukturen übrig geblieben ist, wird meistens von politischen Aktivist*innen am Leben erhalten. Wir haben auch als Gruppe eigene Strukturen. Beispielsweise haben wir hier, in unserem Zentrum «Vox» eine medizinische Versorgung aufgebaut. So versuchen wir, die Lücken des griechischen Gesundheitssystems zu schliessen. Es gibt verschiedene Initiativen, aber wir sind noch weit davon entfernt, eine reale Stärke an der Basis der Gesellschaft zu haben.

Mitsotakis hatte ja in seinem Wahlkampf die Zerschlagung von Rouvikonas versprochen. Spürt ihr bereits eine Verschärfung der Repression mit der neuen Regierung?

Wir haben fast täglich Scherereien mit dem Staat. Gerade gestern hatte ich den Geheimdienst vor meinem Haus. Sie haben mich angehalten und mir Dinge über mein Privatleben erzählt, die sie eigentlich nicht wissen sollten.

Die wirkliche Gefahr ist aber, dass der Staat versuchen wird, uns als eine terroristische Organisation einzustufen. Aber in einem bürgerlichen Rechtsstaat ist es schwierig, eine Gruppe, welche Flyer herumwirft und ab und zu mal eine Scheibe zerbricht, als Terror-Gruppe zu deklarieren. Das ist der Widerspruch, in dem sich der Staat befindet. Er hat bisher keine klare Strategie, uns im Rahmen des Rechtsstaates zu bekämpfen. Der Staat hätte selbstverständlich die Kapazitäten, uns umgehend zu zerschlagen. Sie könnten uns morgen alle verhaften, aber das würde das demokratische Gewand des Staates zerstören.

Wir verfügen zudem über viel Rückhalt in der Bevölkerung, wir haben viele Unterstützer*innen. Würde der Staat unsere Gruppe frontal angreifen, hätte das eine grosse Welle der Solidarität zur Folge.

Zudem darf nicht vergessen werden, dass die anarchistische Bewegung in Griechenland über eine Erfahrung mit der Ausübung von Gegengewalt verfügt. Wie der Staat seine Repression verstärken kann, so kann auch die anarchistische Bewegung ihr Militanz-Niveau steigern. Es ist ein Spiel, in dem jede Seite das Kräfteverhältnis einschätzt und ihre Möglichkeiten auslotet.

Viele eurer Aktionen beziehen sich auf Kämpfe an anderen Orten auf der Welt. Ihr bezeichnet euch auch selbst als Internationalist*innen. Nun erlebt die anarchistische Bewegung in Griechenland einen starken Angriff des Staates. Wie können Militante in Westeuropa ihre Solidarität mit euch ausdrücken?

Wir haben in den letzten Jahren viel internationale Solidarität gegeben und erhalten. Natürlich sind wir Internationalist*innen und versuchen dies auch in unserer Praxis auszudrücken. Nun brauchen wir viel Solidarität aus dem Ausland. Dies kann verschieden ausgedrückt werden. Natürlich brauchen wir finanzielle Unterstützung – vor allem zur Deckung unserer Gerichtskosten. Was es ebenfalls braucht, ist Druck auf die griechische Regierung von aussen. Griechenland ist sehr abhängig von der Tourismus-Industrie und damit auch von einem guten Ruf. Und ausserdem: Botschaften gibt es überall.

Leon Feiss und Nico Nussbaum
ajour-mag.ch