In Russland kann man die Medienlandschaft in traditionelle Medien (Fernsehen, Radio, Presse), die fast vollständig vom Kreml kontrolliert werden, und verschiedene Arten von Online-Medien unterteilen, die eine andere als die offizielle Perspektive ermöglichen.
Das Beispiel Alexei Nawalny – ein Blogger, der die Regierung herausfordert
Die Internetaktivität des Oppositionellen Alexei Nawalny – heute der Hauptgegner von Wladimir Putin – ist nicht nur der Grund für seine wachsende Bekanntheit im Land, sondern auch der Beginn, das Informationsmonopol des Kremls zu brechen und den Nutzer*innen von RuNet (des russischen Internets) ein Bewusstsein vom Ausmass der Gesetzlosigkeit in Russland zu geben.Von dem Moment an als Nawalny als eifriger Jäger der Korruption an der Spitze der russischen Regierenden bekannt wurde, wurde die Aufmerksamkeit nicht nur auf seine Energie und sein Charisma gelenkt, sondern auch auf seine organisatorischen Fähigkeiten und innovative Art politische Aktivitäten durchzuführen. Nawalny entwickelt und erweitert seine Online-Aktivität seit Jahren: Er betreibt einen Blog, hat einen eigenen YouTube-Kanal, ist äusserst aktiv in sozialen Netzwerken und die von ihm gegründete Stiftung zur Korruptionsbekämpfung veröffentlicht systematisch im Internet Ermittlungsvideos, in denen der Nepotismus und die Bestechlichkeit der herrschenden russischen Klasse aufgedeckt werden.
Einer der am meisten kommentierten Filme über Betrug unter Mitgliedern der herrschenden Elite war das Video „Für euch ist er kein Dimon“ [2] – über die Korruption und den Missbrauch öffentlicher Gelder durch den damaligen Premierminister Dmitri Medwedew und Menschen aus seinem Umfeld. Nawalny sagt über sich und seine Internetaktivität: „Als wir anfingen online zu arbeiten und ich meinen Blog startete, war es nicht, weil ich immer davon geträumt habe, Blogger zu werden, oder weil ich es liebe zu schreiben. Wir haben es getan, weil es keine andere Art der Kommunikation gab, keine andere Möglichkeit, Menschen über unsere Ermittlungen zu informieren.“ [3]
Dank seiner Präsenz im Internet konnten Nawalny und seine Mitstreiter über andere wichtige Initiativen berichten und für sie werben: zum Beispiel Informationen über die Proteste, die der Oppositionelle in den Jahren 2017 und 2018 organisiert hat, oder das Projekt „Klug Wählen“ (smart voting), um unabhängigen Kandidat*innen bei Wahlen auf verschiedenen Ebenen zu helfen, die Kandidat*innen von „Einiges Russland” zu besiegen.
Die Aktivität Nawalnys wurde und wird als Bedrohung der russischen Regierenden angesehen. Selbst als er sich in Deutschland von dem Versuch erholte, ihn mit einer Substanz der Nowitschok-Gruppe zu vergiften, waren die Informationen, die er über das Internet verbreitete, für die Regierenden äusserst schädlich. In einem YouTube-Video enthüllte Nawalny die Details der Bellingcat-Podcast-Untersuchung, aus der hervorgeht, dass acht FSB-Mitarbeiter hinter dem Mordversuch an ihm stecken.
Im nächsten Film rief er einen seiner Attentäter an, der die Details der Operation zur Vergiftung enthüllte. Der Kreml ist sich bewusst, wie gefährlich das Internet in den Händen seiner Kritiker*innen ist. Deshalb versucht er seit mehreren Jahren, das Informationsmonopol in Russland zu festigen und verschiedene Aspekte der Meinungsfreiheit einzuschränken.
Kampf gegen die Meinungsfreiheit
Die Medienpolitik im autoritären System Russlands besteht aus einer Reihe von Massnahmen. Beispielsweise werden in den staatlichen Medien ausgefeilte sozio-technischer-Mittel eingesetzt, um die grösstmögliche Anzahl Empfänger*innen von bestimmten Meinungen und Ansichten zu überzeugen und Alternativen zu diskreditieren. „Wer bezahlt, bestellt die Musik“ [4] – sagte Wladimir Putin 2005 in einem Interview mit dem Fernsehjournalisten Wladimir Pozner und beantwortete so die Frage nach der Möglichkeit eines von den Herschenden unabhängigen Staatsfernsehens.Um regierungskritische Veröffentlichungen sowohl in traditionellen als auch in elektronischen Medien einzuschränken, werden rechtliche Instrumente verwendet. Obwohl sich der Kreml in den letzten Jahren mehr auf die Umsetzung einer wirksamen Internet-Zensur konzentriert hat, haben die „gesetzlichen” Angriffe des Kremls auch die letzten Brückenköpfe unabhängiger traditioneller Medien ins Visier genommen. 2014 hat die Staatsduma ein Gesetz verabschiedet, das die Anteile ausländischer Investoren am Grundkapital von in Russland ansässigen Medienunternehmen auf 20% begrenzt. Experten zufolge bestand eines der Hauptziele des Gesetzes darin, die am meisten meinungsbildenden Titel zu treffen, die eine unabhängige redaktionelle Politik verfolgen. [5]
Fälschungen bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 2011 trugen zum Ausbruch von Massendemonstrationen in vielen Städten Russlands bei. Die Demonstranten organisierten und koordinierten ihre Strassenaktionen hauptsächlich über das Internet. Daher zielten die nachfolgenden Aktionen der Herrschenden auf die Online-Sphäre.
Rechtliche Lösungen reichen jedoch nicht aus, um Journa-list*innen davon abzuhalten, die Wahrheit zu schreiben. Daher beobachten wir in den letzten Jahren eine Zunahme von Strafverfahren gegen junge Journalisten (Iwan Golunow [6], Iwan Safronow [7]), Versuche, sie zu vergiften (Pjotr Wersilow [8]) oder mysteriöse Todesfälle (Timur Kuashew [9]). Auch die redaktionelle Politik bisher weitgehend unabhängiger Tageszeitungen verschärft sich. Ein wichtiger Aspekt dieser Politik ist die daraus resultierende Selbstzensur, bei der bewusst auf die Veröffentlichung bestimmter Inhalte verzichtet wird. [10]
Nach den Protesten für „Freie Wahlen“ („For Fair Elections“) 2011/2012 ist das wichtigste Ziel der Medienpolitik des Kremls jedoch das Internet. Fälschungen bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 2011 trugen zum Ausbruch von Massendemonstrationen in vielen Städten Russlands bei. Die Demonstranten organisierten und koordinierten ihre Strassenaktionen hauptsächlich über das Internet. Daher zielten die nachfolgenden Aktionen der Herrschenden auf die Online-Sphäre.
Im Jahr 2013 wurden Änderungen am Gesetz „Über Information, Informationstechnologien und Informationsschutz“ vorgenommen, die es dem Roskomnadzor (Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation) ermöglichen, Websites, die extremistische Informationen verbreiten oder zu Massendemonstrationen aufrufen, sofort zu blockieren.
„Extremistische Information“ kann jedoch sehr weit interpretiert werden: Dies können auch die Kommentare unter dem Artikel eines kremlkritischen Autors sein, die von denjenigen abgegeben wurden, die möchten, dass die Website blockiert wird. Zahlreichen russischen Experten zufolge hat der Begriff Extremismus im 21. Jahrhundert in Russland eine einzigartige Bedeutung erhalten und wird hauptsächlich in staatlichen Medien verwendet, um ein negatives Image zu schaffen und soziale Aktivist*innen, Mitglieder von Oppositionsbewegungen und unabhängige Journalist*innen zu bestrafen. [11]
2017 unterzeichnete Präsident Putin das Gesetz über „Auslandsagenten” in den Medien. Ein Subjekt mit diesem Status kann als „Fremdstruktur” betrachtet werden, die „Nachrichtenmaterial, sei es gedruckt, audio, audiovisuell oder anderes für eine unbegrenzte Anzahl von Personen“ verbreitet. Ende 2020 wurde die Definition von „Auslandsagenten” durch neue Vorschriften erweitert. Gegenwärtig kann jede*r Bürger*in, die*der sich mit politischen Angelegenheiten befasst und zu diesem Zweck z.B. Geld aus dem Ausland erhält, als Auslandsagent betrachtet werden.
Das Absurdeste im Gesetz ist das Phänomen der Selbstkritik, d.h. eine Person soll sich melden und sagen, dass sie ein Auslandsagent sei, um so eine Geldstrafe zu vermeiden. Das Gesetz verbietet Auslandsagenten Aktivitäten durchzuführen, um bestimmte Kandidat*innen für Wahlen zu fördern oder sie in einem ungünstigen Licht darzustellen. Höchstwahrscheinlich zielt der Gesetzentwurf auf Nawalny ab: Wenn er als „Auslandsagent“ anerkannt würde – und die Regierenden suggerierten wiederholt, dass Nawalny für ausländische Dienste arbeite –, könnte er keine Informationen über die bevorstehenden Wahlen für die Staatsduma im September verbreiten.
Die neuen Bestimmungen von Ende 2020 gelten auch für Kampagnen im Internet. Der Zentralen Wahlkommission ist es durch Roskomnadzor erlaubt, Websites ohne Gerichtsverfahren zu blockieren, wenn deren Autor*innen gegen die Wahlkampfverfahren verstossen. Dadurch kann jede Information über Parteien oder Kandidat*innen im Internet als illegale Wahlkampagne gelten. Legale Wahlkampagnen im Internet sind aus Wahlfonds zu bezahlen, genauso wie Wahlspots in den traditionellen Massenmedien veröffentlicht und bezahlt werden.
Die Strafen für illegale Agitation im Internet liegen zwischen 20.000. Rubel (weniger als 250 Euro) für normale Bürger*innen und bis zu 500.000 Rubel (über 5.500 Euro) für Beamte. Es ist nicht ganz klar, welche Kritierien bei der Bewertung der Legalität einer Wahlkampagne im Internet von der Wahlkomission angewendet werden.
Russische Entscheidungsträger sind zunehmend besorgt über die Zunahme von Antikorruptionsuntersuchungen im Land, die von verschiedenen Ermittlungsportalen durchgeführt werden (wie „Wichtige Geschichten“ [12] und „Projekt“ [13]). Diese Untersuchungen treffen das Image der wichtigsten Staatsbeamten, weshalb die neue Gesetzgebung darauf abzielt, die von den staatlichen Behörden festgestellten Imageverluste zu minimieren. Im Dezember 2020 unterzeichnete der russische Präsident ein Gesetz, das die Offenlegung von Informationen über das Privatleben und das Vermögen der Funktionäre von Strafverfolgungs- und Regulierungsbehörden verbietet. [14]
Ein anderes, kürzlich verabschiedetes Gesetz erlaubt es, Facebook, Twitter oder YouTube in Russland zu blockieren, wenn diese Plattformen nach Ansicht der Behörden russische Inhalte zensieren. Die Plattformbetreiber begründeten die Löschung einzelner Inhalte z.B. mit dem Argument, es sei Verbreitung von Desinformation. Beispielsweise hat YouTube im Jahr 2020 unter anderem den Zugang zu einem Dokument von „Russia Today” (RT) über den islamischen Staat blockiert. Ebenfalls wurden ein Dokumentarfilm von „Rossija 1“ (Russland 1) mit Gewaltszenen und der Kanal „Krim 24“ (Crimea 24) aufgrund eines Verstosses gegen die Nutzungsbedingungen der Website blockiert.
Zusammenfassung
Das Beispiel von Nawalnys Vergiftung zeigt nicht nur, wie gefährlich es in Russland ist „Regierungskritiker zu sein“, sondern vor allem, wie sehr der Kreml Angst vor jeder Oppositionsaktivität und der Verbreitung von Inhalten hat, die Schwächen des russischen Systems zeigen.Aufgrund der zunehmenden sozialen Unzufriedenheit mit der Politik der herrschenden Elite wird das Machtzentrum jedoch bald gezwungen sein, nach repressiveren Massnahmen zu suchen, um Informationen in der Öffentlichkeit zu kontrollieren und den Eindruck sozialer Legitimität aufrechtzuerhalten.
Die Ausweitung der Verfolgung von Bürger*innen ist jedoch eine ad hoc Massnahme und bei weitem nicht ausreichend, um die Stabilität des Systems aufrechtzuerhalten: Sie trägt nicht zur Lösung der Probleme bei, die die Russen frustrieren, sondern verstärkt diese Frustrationen nur.