Warum ändert sich an der miserablen Situation grosser Teile der Bevölkerung in diesen Ländern so wenig? Dass deren Situation eher schlimmer als besser wird, zeigt die grosse und stetig zunehmende Zahl der Flüchtenden, von denen mehr und mehr ihre Heimat verlassen müssen, weil die Bedingungen für eine halbwegs auskömmliche ökonomischen Existenz immer schlechter werden.
Kein Geld, kein Brot
Die erste Antwort ist ganz grundsätzlich und heisst: Die Menschen in den Ländern der Dritten Welt haben nichts zu essen, weil sie es sich in einer Welt des Eigentums schlicht nicht kaufen können –, und sei es auch nur das tägliche Brot. Das ist nämlich die erste und elementarste Regel unserer »regelbasierten Weltordnung«: Für alles muss bezahlt werden, und wer nichts im Portemonnaie hat, weil er nichts zu verkaufen hat und/oder niemand etwas mit seiner Arbeitskraft anfangen will, der scheitert daran eben auch sehr elementar – und (ver)hungert. Der Einbezug der ehemaligen Kolonialländer in den Weltmarkt hat eben diese harte Konsequenz!²Das führt zu einer nächsten Frage: Warum sehen die Ökonomien dieser Länder – zumindest weitgehend, es gibt ja auch welche, die Öl zu verkaufen haben und damit anders gestellt sind – so aus, dass sie bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht die »Entwicklung« genommen haben, die ihnen für die Zeit nach der Entkolonialisierung versprochen wurde?
Die Kolonialländer wurden ganz auf die Interessen der Kolonialmächte zugerichtet. Der Einsatz und die Ausbeutung von Arbeitskräften und Bodenschätzen wie überhaupt die Ausrichtung des wirtschaftlichen Lebens orientierte sich nicht an der Entwicklung von Land und Leuten, sondern hatte den Charakter ökonomischer Ausplünderung. Soweit Infrastruktur entwickelt wurde, zielte sie meist schlicht auf den Abtransport von Gütern bzw. diente dem Zweck der Herrschaftssicherung. Mit der Einrichtung von Plantagen für Erzeugnisse, die sich in den kolonialen Mutterländern verkaufen liessen (Kaffee, Kakao, Baumwolle, Tee), begann die Zerstörung der (Subsistenz)Produktion in diesen Ländern, insbesondere der Nahrungsmittelproduktion. Die Herstellung der neuen, »souveränen« Nationen ab den 1950er Jahren vollzog sich auf Basis der territorialen Grenzen der ehemaligen Kolonien, ausgehandelt zwischen den Kolonialmächten und in den meisten Fällen ohne Rücksicht auf vormals bestehende Siedlungsräume und ethnische Bedingungen. Ökonomisch sollten sich die frisch in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten in den Weltmarkt integrieren. Ausnahmen grundsätzlicher Natur – es gab eine Reihe von Staaten, die sich sozialistisch definierten – oder nationale Sonderwege, bei denen relevante Produktionszweige verstaatlicht wurden, sollten nicht zugelassen werden bzw. wurden militärisch oder geheimdienstlich bekämpft: Iran, Guatemala, Vietnam, Chile, Kuba, Libyen, Venezuela, Bolivien – die Liste westlicher Interventionen unter Führung der USA ist lang und setzt sich bis in die Gegenwart fort.
Für eine eigenständige Entwicklung hat die Kolonialherrschaft den Staaten der Dritten Welt äusserst nachteilige Bedingungen hinterlassen. Für die allermeisten von ihnen stand ein unabhängiges ökonomisches Entwicklungsprogramm aber ohnehin nicht zur Debatte, die einzige Option der neuen Regierungen hiess: Integration in den Weltmarkt. Das bestimmte das zukünftige Schicksal der ehemaligen Kolonialländer.
Weltmarktteilnahme hiess: Verkaufen, was die eigene Wirtschaft zu bieten hat, und kaufen, was sie nicht produziert, was aber unbedingt gebraucht wird. Weder war die Produktion von Nahrungsmitteln gewährleistet noch gab es ausreichende Mittel, die die neuen Staaten allein schon für die elementare Ausstattung ihrer neuen Souveränität benötigten, also für Armee und Polizei. Die Antwort auf die Frage, was am Weltmarkt mit Aussicht auf Erfolg angeboten werden könnte, hiess für diese Staaten im Normalfall daher: das, was schon die alte Kolonialökonomie nachgefragt bzw. produziert hatte – Kaffee, Kakao, Erdnüsse usw. – im günstigsten Fall natürlich Rohstoffe und Energieträger wie Öl.
Nicht konkurrenzfähig
Der Einbezug in den Weltmarkt mit seinen für alle gleichen Bedingungen (rentable Produktion, Preiskonkurrenz um monetäre Einnahmen) führte im Fall der Exportstruktur von Drittweltländern zum durchweg gleichen Resultat: Sie haben Erzeugnisse angeboten, die in den meisten Fällen nur in den kapitalistisch entwickelten Ländern Abnehmer fanden; was sie dabei anbieten, ist dank ererbter Monokultur oft ihr einziges Erzeugnis, auf dessen unbedingten Verkauf sie insofern alternativlos angewiesen sind. Diese Sorte »Notverkauf« hat entsprechend niedrige Preise an den westlichen Warenbörsen zur Folge – eine Tendenz, die noch dadurch verschärft wird, dass andere Länder als Konkurrenten um denselben Warenabsatz auftreten. Diese »Terms of Trade« bringen den »Entwicklungsländern« vor allem zweierlei: eine negative Handelsbilanz und den Verfall ihrer Währung.Ob als Reaktion darauf (Diversifizierung der Exportstruktur) oder gleich als Versuch einer nachholenden Industrialisierung, gab es in den meisten Ländern Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen Industrie. Das machte allerdings zunächst einmal Kredite für Infrastruktur und den Aufbau der entsprechenden staatlichen Unternehmen (Energie, Stahl etc.) nötig. Als Kreditgeber waren und sind westliche private Banken behilflich, allerdings mit Risikoaufschlag angesichts unsicherer Verwertungsperspektive. Zum Teil sprangen auch die westlichen Staaten mit ihren Entwicklungshilfeprogrammen ein, gern auch in Form von Militärhilfen.
Das Resultat dieser Anstrengungen fiel auf seiten der Entwicklungsländer in den meisten Fällen unbefriedigend aus. Auf Basis der bereits fix und fertigen Konkurrenz rentabler kapitalistischer Unternehmen auf dem Weltmarkt, die in Sachen Kapitalbildung und Produktivitätszuwachs 150 Jahre Vorsprung hatten, erwiesen sich ihre Projekte durch die Bank als untauglich – nicht, weil ihre Stahlwerke und Fabriken nicht funktionierten, sondern weil sie hinsichtlich der Produktionskosten nicht konkurrenzfähig waren und auf staatliche Zuschüsse angewiesen blieben.
Da sich die Regierungen das auf Basis ihrer Haushalts- und Devisensituation nicht lange leisten konnten, war das Ergebnis dieser Bemühungen: erstens die »Entwicklungsruinen«, an denen jeder volkswirtschaftlich geschulte westliche Verstand kopfschüttelnd den »Grössenwahn« dieser Länder und ihrer Regierungen erkennen konnte. Und zweitens die schnell ansteigenden Schulden, die Anfang der 1980er Jahre zur ersten grossen Staatsschuldenkrise der Entwicklungsländer führten.
Beim Westen in der Kreide
Daraus erwuchsen einerseits einige schöne neue Instrumente des Weltfinanzkapitals (Umwandlung von im Grunde wertlosen Schuldpapieren in werthaltige Investments), vor allem aber die dauerhafte Verpflichtung der Entwicklungsländer auf den fälligen Schuldendienst – und damit erneut auf ihre Beteiligung am Weltmarkt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verlangte für die weitere Gewährung von Krediten (die inzwischen vor allem zur Bedienung der Schulden gebraucht wurden und werden) die Zurichtung der jeweiligen Wirtschaft auf die Produktion exportfähiger Güter als einzig zulässiges Ziel und machte damit alle Vorstellungen einer nachholenden Entwicklung und eines eigenständigen industriellen Aufbaus zunichte. Zudem wurden die Regierungen aufgefordert, ihre Nahrungsmittelsubventionen zurückzufahren, wodurch die Staaten in einen immer grösseren Gegensatz zu ihrem Volk traten, dessen »Brotaufstände« sie nun regelmässig niederschlugen.Nebenbemerkung: Angesichts dessen, dass mit der Integration der ehemaligen Kolonialländer in die Weltmarktkonkurrenz von einer nachholenden Entwicklung immer weniger die Rede sein konnte, wurde das Verhältnis der neuen Staaten zu ihrem Volk immer schlechter. Alle eventuell vorhandenen Vorstellungen, dass die Befreiung von der kolonialen Unterdrückung der Bevölkerung einen ihr zugewandten Staat bescheren würde, der ihre Interessen wahrt und ihr zu einem besseren Lebensstandard verhilft, blieben Illusion.
Den Regierungen gelang es umgekehrt ebenso wenig, ihr Volk als nützliche Produktivkraft in Wert zu setzen – wie dies die kapitalistischen Vorbildnationen vormachten. Für die wenigen kapitalistischen »Leuchttürme« in ihren Ländern (Plantagenwirtschaft, Rohstoffabbau, eventuell Tourismus) waren nur wenige Einheimische als Arbeitskräfte gefragt, und das im Normalfall zu extrem niedrigen Löhnen und sehr schlechten, gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen.
Der Grossteil der Bevölkerung blieb »überflüssig« und gilt damit gemäss dem realen Zynismus der Marktwirtschaft als »Überbevölkerung«. Wo die Menschen irgendwelchen Projekten ausländischer Kapitalanleger ins Gehege kamen, wurde das Wasser und das Land, das sie traditionell nutzten, in Beschlag genommen, sie selbst vertrieben. Dass unter solchen Bedingungen »demokratische Verhältnisse« aufkommen sollten – wie die tonangebenden westlichen Staaten ungerührt verlangen –, ist natürlich ein schlechter Witz, der dort, wo der Form nach Parteien gebildet, Wahlkampf gemacht und dann gewählt wird, meist zur Farce gerät.
Seit den 2000er Jahren gab es einen grosszügigen Schuldenerlass für die ärmsten Staaten, der der schlichten Tatsache Rechnung trug, dass dort nichts mehr zu holen war. Die Insolvenz dieser Länder war damit im Grunde besiegelte. Das Ergebnis war ein weiterer Verfall von Staatlichkeit in Afrika und ein dauerhafter Kampf um die wenigen verbliebenen finanziellen Ressourcen (»Korruption«). Es kam zu sogenannten Failed States und Bürgerkriegen der regionalen Clans, Warlords und Stämme. Die Auseinandersetzungen wurden teilweise ethnisiert (Tutsi gegen Hutu) oder finden heute zunehmend als Austragung religiöser Feindschaft (Christen gegen Muslime) statt.
Als sei das alles noch nicht genug – und gemäss der kapitalistischen Logik ist es das tatsächlich nie – nötigten die westlichen Staaten die Entwicklungsländer mit Freihandelsabkommen zum zusätzlichen Abbau von Schutzzöllen. Ein Beispiel: Das Abkommen EPA (Economic Partnership Agreement), das die EU mit den AKP-Staaten³ geschlossen hat und das 2020 in Kraft getreten ist.⁴ Eine Delegation des Europaausschusses der Französischen Nationalversammlung veröffentlichte mit Blick auf die Folgen eines solchen Abkommens mit der EU im Juli 2006 einen umfangreichen Bericht, der vier Schocks auflistet, denen die AKP-Staaten ausgesetzt wären, sollten sie ihre Märkte öffnen: »1. ein Haushaltsschock aufgrund der zu erwartenden Einnahmeverluste wegen der wegfallenden Importzölle; 2. ein Aussenhandelsschock durch sinkende Wechselkurse, wenn die AKP-Staaten nicht konkurrieren können; 3. ein Schock für die schwachen, im Aufbau befindlichen Industriesektoren in den AKP-Staaten, die der Konkurrenz aus der EU nicht gewachsen sind; 4. ein landwirtschaftlicher Schock, da lokale Märkte und Produzenten mit den Billigimporten aus der Europäischen Union (hoch subventioniert) nicht konkurrieren können.«⁵
Die Konsequenzen sind also allen Beteiligten bewusst! Das Abkommen wurde gegen breiten Widerstand in den betroffenen afrikanischen AKP-Staaten durchgesetzt, ungeachtet der Proteste der gesamten Hunger- und Entwicklungshilfe-NGOs und der Kritik zahlreicher regionaler Entwicklungsexperten. Das Resultat war das zuvor prognostizierte: Das »Partnerschaftsabkommen« beschleunigt die Zerstörung der lokalen Subsistenzwirtschaft (Getreideanbau und Kleinviehhaltung) und öffnet die Märkte der AKP-Staaten für die Lebensmittelexporte der überlegenen westlichen Konkurrenz. Die Bundesrepublik Deutschland exportiert zum Beispiel jährlich an die zehn Millionen Tonnen subventionierten Weizen, in den Iran, nach Marokko, den Sudan, Nigeria, Senegal und weitere Länder, was die dortigen kleinbäuerlichen Produzenten aus dem Rennen wirft.⁶ Absolute Abhängigkeit So wird die Wirtschaft dieser Länder immer weiter auf die wenigen Produkte zugerichtet, die am Weltmarkt absetzbar sind. Zugleich steigt die Abhängigkeit von Importen der hochindustrialisierten Landwirtschaften kapitalkräftiger Länder. Vor dem Hintergrund der aktuell durch Spekulation hochgetriebenen Getreidepreise, aber eben auch mit Blick auf die Folgen des Klimawandels mit seinen zunehmenden Dürren oder bei einer Covidpandemie und ähnlichen Katastrophen ist das für die ehemaligen Kolonialländer ein Verderben.
Nebenbemerkung: Wenn die Staaten der Dritten Welt mit eigenen Programmen wie etwa im Rahmen einer Initiative der Afrikanischen Union aus dem Jahr 2014 daran gehen, die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu bekämpfen, sind die Lösungsvorschläge leider ebenfalls kapitalkonform und weisen kaum über den Problemzusammenhang hinaus: beschleunigtes Wachstum mittels monokultureller Plantagenwirtschaft, mehr Einsatz von verbessertem Saatgut, Düngemitteln und Pestiziden. Denn damit wird reproduziert, was westliche Geldgeber, beispielsweise die von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung gegründete Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA), vorschlagen und mit viel Geld fördern: den Anbau von Weizen und Mais, der Saatgut-, Düngemittel-und Pestizidhersteller wie Monsanto ins Spiel bringt – statt der heimischen und agrarökologisch sinnvolleren, weil widerstandsfähigeren Sorten Sorghum und Hirse.⁷
Hunger und Unterernährung sind das Resultat der Weltordnung, für die Politiker wie US-Aussenminister Antony Blinken und Bundesaussenministerin Annalena Baerbock einstehen. Mit ihrem Einbezug in den Weltmarkt wurden die »Entwicklungsländer« ganz im Interesse des Westens zurechtgemacht: Sie liefern das, was man von ihnen haben will, zu den Preisen, die man ihnen zahlen möchte. Sie stellen Anbaugebiete, Arbeitskräfte und Absatzmärkte zur Verfügung und sind dem Westen als Schuldnerstaaten auf Jahrzehnte verpflichtet. Aus dem Entwicklungsideal der 1960er und 1970er Jahre ist inzwischen ein Betreuungsfall von Failed und Failing States, von Hunger, Armut und Seuchen geworden. Was den Westen an diesen Ländern interessiert, ist vor allem eines: Ob die Regierungen es schaffen, ihre Bevölkerungen, die unter diesen Umständen nicht mehr leben können und wollen, bei sich zurück-und von »uns« fernzuhalten.
Ein zynisches Spiel
Es ist vor diesem Hintergrund ein wirklich gelungener Einfall, wenn sich die Protagonisten und Nutzniesser dieser Weltordnung jetzt hinstellen und mit dem Finger auf Russland als »politischem Verantwortlichen« für die nächste sich anbahnende Hungerkatastrophe deuten – wie es die deutsche Aussenministerin Baerbock und der amerikanische Aussenminister Blinken mehrfach getan haben. Baerbock warf Russland vor, den Hunger in der Welt »ganz bewusst als Kriegswaffe« einzusetzen und »die ganze Welt als Geisel« zu nehmen; Blinken beschuldigte die russische Regierung, sie lasse »zielgerichtet Lebensmittelpreise explodieren (...), um ganze Länder zu destabilisieren«.⁸Ebenso gelungen ist es, wenn die westlichen Staaten heute China als »neokoloniale Macht« anklagen, weil es sich in »ihren« angestammten Hinterländern breitmacht, und vor dem Hintergrund der schäbigen Resultate jahrzehntelanger westlicher »Entwicklungspolitik« mit seinen Angeboten auf Wohlwollen stösst.
China ist übrigens das einzige »Entwicklungsland«, das mit seinem Eintritt in die Weltmarktkonkurrenz tatsächlich reich und mächtig geworden ist – und darin ein erklärenswerter Sonderfall!⁹ Am inzwischen offen ausgerufenen Kampf gegen diesen Staat, der den etablierten Nutzniessern des Weltmarkts heute auf Augenhöhe gegenübertritt, sieht man noch einmal die ganze Verlogenheit der herrschenden Entwicklungspolitik.