Mit dem vorläufigen Scheitern der Ukraine-Gespräche zwischen den USA und Russland, die Anfang Januar in Genf und Brüssel unter Ausschluss der EU geführt wurden,1 forderte der russische Aussenminister die Vereinigten Staaten und die Nato auf, rasch eine schriftliche Stellungnahme zu den Sicherheitsforderungen des Kremls zu geben, in der jede einzelne Forderung Russlands beantwortet würde.2 Zugleich liess Lawrow die Tür offen für weitere Gespräche, zu denen Moskau bereit sein solle.3 Es grosser Teil dessen, was „in diesen Tagen gesagt“ werde, stehe möglicherweise mit einem „künstlichen Anfachen der Flammen“ im Zusammenhang, so Lawrow unter Anwendung der üblichen Verhandlungstaktik von Zuckerbrot und Peitsche.
Washington drohte wiederum Moskau, man sei auf „jede Eventualität“ vorbereitet – dies gelte auch für den Fall einer „militärischen Eskalation“ durch Russland. Man habe den Kreml auf „die Kosten und Folgen militärischer Aktionen oder einer Destabilisierung der Ukraine hingewiesen“, so der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, der mit harten Wirtschafts- und Finanzsanktionen sowie Waffenlieferungen an Kiew drohte. Im Klartext: Die USA werden nicht direkt militärisch intervenieren,4 sollte Moskau die Invasion der Ukraine starten. Kiew ist militärisch – abgesehen von Waffenlieferungen – weitgehend auf sich selbst gestellt.
Die zentrale Konfliktlinie, die zur gegenwärtigen geopolitischen Konfrontation geführt hat, besteht in der etwaigen Ostexpansion der Nato im postsowjetischen Raum. Die Ukraine bildet das geopolitische Objekt der Begierden. Seit dem westlich unterstützten Umsturz von 2014, als die damalige prorussische Regierung Janukowitsch von nationalistischen Kräften gestürzt wurde,5 ist Kiew bemüht, trotz Bürgerkrieg, eingefrorener Konflikte und ungeklärter Territorialfragen in die Nato und EU aufgenommen zu werden, um hierdurch die Westintegration des postsowjetischen Landes irreversibel zu machen.
Russlands wichtigste Forderung besteht folglich darin, dem Vorrücken des westlichen Militärbündnisses an seiner Südflanke einen Riegel vorzuschieben. Die Nato soll vor allem darauf verzichten, weitere postsowjetische Länder – konkret sind es die Ukraine und Georgien – aufzunehmen.
Laut Einschätzung der New York Times (NYT) geht es dem Kreml um ein Sicherheitsabkommen, wie es zu Zeiten des Kalten Krieges üblich war – was aber seitens der Nato „sofort abgelehnt“ wurde.6 Der Kreml will faktisch die Nato dazu bringen, einen Puffer neutraler Staaten zwischen der Russischen Föderation und dem Westen zu akzeptieren. Während des Kalten Krieges übten neutrale Länder wie Österreich oder Finnland eine solch deeskalierende Funktion aus. Österreich, aus dem sowjetische Truppen 1955 unter der Zusage einer dauerhaften Neutralität abzogen,7 ist bis zum heutigen Tag formell neutral. Finnlands Aussenminister erteilte Spekulationen über einen etwaigen Nato-Beitritt seines Landes am 14. Januar öffentlich eine Absage.8
Russland sieht sich in dem Punkt der Nato-Osterweiterung ohnehin vom Westen getäuscht und hintergangen, der im 21. Jahrhundert die baltischen Staaten und etliche ehemalige Länder des Warschauer Paktes in seine Militärallianz aufnahm. Moskau verweist dabei auf mündliche Zusagen der USA gegenüber der damaligen sowjetischen Führung aus den frühen 90er-Jahren, wonach die Nato auf jegliche Ostexpansion verzichte würde. Westliche Diplomaten sprechen hingegen von einem Missverständnis, dem der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow unterlag, so die NYT.
Deutsche Projektionen „Zaristischer Ambitionen“
Die aktuellen geopolitischen Spannungen wurden in den westlichen Medien mit der üblichen tendenziösen Berichterstattung begleitet, die klar antirussische Züge aufweist. Während westliche Politiker den Kreml auffordern, seine „zaristischen Ambitionen“ fallen zu lassen,9 sprechen US-Diplomaten inzwischen offen von „Kriegstrommeln“, die in Europa aufgrund der „schrillen Rhetorik“ gerührt würden.10Und wenn es um schrille Töne geht, dann macht deutschen Leitmedien niemand etwas vor: Ganz in orwellscher Tradition bezeichnete die Tagesschau die Moskauer Forderungen nach Sicherheitsgarantien, die nur aufgrund der drohenden Nato-Expansion im postsowjetischen Raum gestellt werden, als „imperiale Ansprüche“.11 Beim Frontbesuch im Baltikum sprach sich die neue Verteidigungsministerin Christine Lambrecht für eine glaubhafte Abschreckung aus,12 während Aussenministerin Baerbock13 und Kanzler Scholz14 sich darin überboten, Warnungen an Moskau zu richten, da Aggressionen gegen unsere Ukraine schwere Folgen nach sich zögen.
Schon fordern „Experten“ in der Zeit,15 dass Deutschland als „grösste europäische Wirtschaftsmacht“, als „Schlüsselland“ der EU und Nato, dem Treiben Moskaus nicht tatenlos zuschauen dürfe, schon fordern Politiker der SPD und FDP Lieferungen militärischer Ausrüstung an die Ukraine.16 In der FAZ ist man indes bemüht, der deutschen Öffentlichkeit die „nicht immer rationale Angst vor der Eskalation“ gegenüber Moskau zu nehmen,17 sowie unter Verwendung der üblichen Projektionen deutschen Grössenwahns die Gefahr einer russischen Hegemonie in dem durch Berlin dominierten Europa zu halluzinieren – um der Aufrüstung der EU das Wort zu reden.18
Dabei enthalten die derzeitigen westlichen Medienangriffe gegen den Kreml durchaus einen gewissen Anteil verzerrter Wahrheit. Russland ist eine repressive und postdemokratische Macht, die imperiale Ambitionen hegt. Putin trauert der Sowjetunion als einem imperialen Gebilde nach, nicht aufgrund ihres staatssozialistischen Charakters. Die Machtpolitik des Kremls ist erzreaktionär. Russland finanziert und unterstützt die Neue Rechte in Europa,19 während zugleich linke Kräfte vom Kreml bekämpft werden. Putin half etwa 2015 Schäuble dabei, die links-sozialdemokratische Regierung in Griechenland in die Knie zu zwingen, die sich damals dem deutschen Spardiktat in der Eurozone widersetzte.20 Die Aufstände in Belarus21 und Kasachstan sind nur aufgrund russischer Interventionen gescheitert.
Armenien, ein formeller Bündnispartner Russlands, wurde vom Kreml 2020 zum Abschuss durch Aserbaidschan und die Türkei freigegeben,22 weil dort im Rahmen einer bürgerlich-demokratischen „Revolution“ die alten moskauhörigen Machteliten abgelöst wurden. Derzeit nötigt Moskau das am Boden liegende Kaukasusland dazu, aus einer Position der Schwäche heraus mit der Türkei – die immer noch den türkischen Völkermord an den Armeniern leugnet – „Verhandlungen“ zu führen, in denen Jerewan weitere Zugeständnisse an Ankara und Baku abgerungen werden sollen.23 Das Vorgehen Russlands gegenüber der basisdemokratischen Selbstverwaltung im nordsyrischen Rojava unterscheidet sich durch nichts von demjenigen der Trump-Administration: Putin gab der Türkei 2018 aus geopolitischem Kalkül den Freifahrtschein für die Eroberung und ethnische Säuberung des kurdischen Kantons Afrin.24 Ähnlich agierte die Trump-Administration im westlichen Rojava 2019.25
Die „imperialen Ambitionen“ des erzreaktionären Russlands sind ein Faktum. Doch genauso verhält es sich mit der imperialistischen Politik des Westens. Wenn russische Staatsmedien davon berichten, dass „Schweigen und Missinformation“ westlicher Medienkonzerne „imperialen Interessen“ westlicher Mächte dienen,26 dann haben sie ausnahmsweise damit genauso recht, wie ihre westliche Konkurrenz bezüglich der Charakterisierung russischer Medien als weitgehend „staatlich kontrolliert“27
Nicht nur die endlose Reihe von Kriegen und Interventionen der USA zeugt von deren imperialistischer Politik, auch die BRD ist bemüht, dahingehend den imperialen Vorbildern in nichts nachzustehen. Um beim Beispiel Rojava zu bleiben: Während Russland und die USA der türkischen Soldateska den Weg zu ihren Eroberungskriegen ebneten, finanzierte Berlin anschliessend die ethnische Säuberung dieser Gebiete.28 Die zerstrittenen imperialistischen Staaten konnten somit in einem Punkt faktisch reibungslos kooperieren: Als es darum ging, dem emanzipatorischen Anlauf in Rojava die Luft zum Atmen zu nehmen. Und wie man zerstörerische Wirtschaftskriege führt, hat Deutschland 2015 am Bespiel Griechenlands vorgeführt, dem durch Schäuble Unterwerfungsbedingungen oktroyiert wurden, die „früher nur durch Waffengewalt durchgesetzt werden konnten“, wie es damals in der europäischen Presse hiess.29
Postsowjetische Dominos
Es liesse sich gar argumentieren, dass die „Feindpropaganda“ der jeweiligen Seite des Öfteren auch Interessantes produziert, in dem die soziale Realität der Gegenseite adäquat wiedergegeben wird. „Russia Today“ etwa fabriziert nicht nur Desinformationen, es finden sich dort auch Beiträge über die katastrophale Lage der Obdachlosen in Los Angeles, die einfach keiner ideologischen Verzerrung bedürfen, um ihre propagandistische Funktion zu erfüllen.30Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Westen und Russland, der immer deutlicher zutage tritt: Der imperiale Anspruch des Kremls kollidiert immer stärker mit einer Realität, in der sich Moskau in der geopolitischen Defensive befindet. Im Kaukasus, in Belarus und zuletzt in Kasachstan scheint das spezifische postsowjetische Herrschaftsgefüge, dessen prominentester Vertreter Wladimir Putin ist, immer deutlichere Risse aufzuzeigen. Es ist offensichtlich, dass die Einflusssphäre des Kremls im postsowjetischen Raum, der den Planungen des Kreml zufolge zu einem dritten geopolitischen Machtzentrum zwischen der EU und China ausgebaut werden sollte, von einem raschen Erosionsprozess erfasst wurde.
Und gerade in diesem Zusammenhang spielte die Ukraine eine zentrale Rolle.31 Zur Erinnerung: Ende 2013 musste die damalige ukrainische Regierung unter Viktor Janukowitsch aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Misere32 sich für die Einbindung des Landes in ein Bündnissystem entscheiden: Entweder in ein östliches,33 gemeinsam mit Russland, oder Richtung Westen, in die EU. Janukowitsch, der seine politische Basis in der ostukrainischen Oligarchie hatte, entschied sich für die russische Zollunion. Daraufhin intervenierte der Westen in der Ukraine, indem er den gewaltsamen Umsturz der gewählten Regierung Janukowitsch förderte, der in seiner militanten Spitze von westukrainischen Rechtsextremisten34 durchgesetzt wurde. Es folgte der derzeit „eingefrorene“ Bürgerkrieg35 im Osten des Landes,36 die Annexion der Krim durch Russland, sowie die bis zum heutigen Tag andauernde Alimentierung des Landes durch den IWF.37
Der Westen, der nun Krokodilstränen über die Verletzung der Souveränität der westorientierten Ukraine vergiesst, trat bei seinem imperialistischen „Great Game“38 deren Souveränität selber mit den Füssen, solange es galt, die Ostorientierung der Regierung Janukowitsch zu sabotieren und das Land aus dem geopolitischen Orbit Russlands39 zu lösen. Und eben dies war auch die zentrale Zielsetzung der westlichen Intervention, bei der es trotz aller Differenzen zwischen EU und USA substanzielle Interessensübereinstimmungen gab: Es galt, einen konkurrierenden Machtblock östlich der EU zu verhindern, der die Machtprojektionen des Westens im postsowjetischen Raum langfristig blockiert hätte – und vor allem auch der östlichen Peripherie der EU eine alternative Bündnisoption eröffnet hätte. Dass es dem Westen bei seiner Intervention nicht um die Schwarzerdeböden der Ukraine oder um deren anachronistische Schwerindustrie ging, macht ein Blick auf das Schicksal der Ukraine nach dem Umsturz deutlich, da das Land vor allem als Exporteur von Arbeitskräften in die EU fungiert.40
Russlands ambitionierte Planungen für eine umfassende Zollunion im postsowjetischen Raum konnten – um den Preis eines Umsturzes und Bürgerkrieges – vom Westen torpediert werden. Denn was der Westen dem Kremlchef tatsächlich nicht verzeihen kann, ist sein einziges historisches Verdienst: die Stabilisierung der Russischen Föderation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nicht zu einer Peripherie zugerichtet werden, sondern sich als eigenständiger imperialistischer Machtfaktor, als eine Konkurrenz zum Westen, etablieren konnte. Die Intervention in der Ukraine hatte gerade den Zweck, die Stabilisierung eines postsowjetischen Bündnissystems nach Vorbild der EU zu verhindern.
Doch die Ukraine ist kein Einzelfall. In einer ähnlich aussichtslosen sozioökonomische Lage, wie die Ukraine des Jahres 2013, befand sich das in ökonomischer Stagnation verfangene Belarus41 des Autokraten Lukaschenko 2020: Getrieben von Massenprotesten – diesmal ganz ohne westliche Intervention oder Finanzierung – und einem drohenden Regierungssturz, musste sich der zuvor auf Unabhängigkeit setzende Lukaschenko zwischen der Integration in die belarussisch-russische Union, oder dem schlichten Machtverlust entscheiden. Lukaschenko, dessen Land hauptsächlich von der Weiterverarbeitung russischen Erdöls in den Staatsraffinieren lebt, entschied sich fürs Erste.42 Die sozioökonomische Instabilität des pleitebedrohten osteuropäischen Landes legte somit den Boden für die breite Protestbewegung in Belarus, auf die der Westen nur im Nachhinein Einfluss zu nehmen versuchte.
Ähnlich verhält es sich im Fall der jüngsten, blutigen Unruhen in Kasachstan, wo die desolate soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit den wichtigsten Faktor bildete, der zur jüngsten Explosion führte.43 Die Spekulationen über Machtkämpfe innerhalb der Oligarchie des zentralasiatischen Landes,44 über etwaige Einflussnahme des Westens oder oder andere Mächte in diesem russischen „Hinterhof“, verdecken gerade die sozioökonomische Instabilität des kasachischen Staates, dessen Machtgefüge durch die russische Intervention aufrechterhalten werden musste. Ohne die kurzfristige Intervention45 des Kreml hätten die Zerfallserscheinungen im Staatsapparat, wo nach wenigen Tagen etliche Polizei- und Militäreinheiten den Dienst verweigerten oder sich den Aufständischen anschlossen,46 nicht gestoppt werden können.
Neoimperialismus und Krise
Putin ist somit derzeit vorwiegend damit beschäftigt, die autoritären, im Verlauf des Zerfalls der Sowjetunion entstandenen Machtstrukturen in seinem geopolitischen Hinterhof zu stabilisieren, deren herausragender Vertreter er selber ist:47 Es handelt sich zumeist um oligarchische Systeme oder schlichte Kleptokratien, die aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen sind und sich weite Teile der ökonomischen Konkursmasse der Sowjetunion angeeignet haben – entweder in formell privatwirtschaftlicher Form (ukrainische Oligarchie), oder in Form einer Staatsoligarchie (Russland). Nahezu alle postsowjetischen Regimes leben vom Export von Rohstoffen, Vorprodukten oder Energieträgern. Die in den 80er-Jahren gescheiterte Modernisierung der staatssozialistischen Sowjetunion konnte auch von deren Zerfallsprodukten nicht mehr nachgeholt werden. Dies gilt weitgehend auch für Russland, dessen einziger global wettbewerbsfähiger Industriezweig die Militärindustrie ist. Alle Modernisierungsbemühungen des Kreml48 sind bislang im Grossen und Ganzen gescheitert.Dabei spiegelt sich in dieser postsowjetischen Misere nur der globale Krisenprozess des spätkapitalistischen Weltsystems,49 das aufgrund eines fehlenden Akkumulationsregimes, das massenhaft Lohnarbeit verwerten würde, nicht nur in der Semiperipherie, sondern auch in den Zentren nur noch auf Pump läuft50 – diese aber haben noch ihre ökonomischen Grossräume samt dem Euro und Dollar, die bis vor Kurzem eine Verschuldung über die Geldpresse ermöglichten.51 Mit ihrer Intervention in der Ukraine 2013/14 stellten EU und USA sicher, dass dem postsowjetischen Raum kein ähnliches Kriseninstrument zur Verfügung stehen wird. Das „Great Game“ um Eurasien gleicht somit faktisch einem Krisenimperialismus, einem Kampf gegen den krisenbedingten sozioökonomischen Abstieg, wobei die Zentren bemüht sind, ihre dominante Stellung auf Kosten der Peripherie zu halten. Es ist eine Art Kampf auf der Titanic. Deswegen nehmen die geopolitischen Auseinandersetzungen oft die Form von innenpolitischen Unruhen, Aufständen, etc. an, die erst durch die krisenhafte Destabilisierung der betreffenden Gesellschaften ermöglicht werden.
Sobald keine ausreichenden Rohstoffvorkommen zum Export vorhanden sind, setzen im postsowjetischen Raum eben jene sozioökonomischen Krisenprozesse ein, die Belarus und der Ukraine ihre politische Instabilität verschafften. Es liesse sich gar argumentieren, dass die durchweg autoritären postsowjetischen Regimes in der Einflusssphäre Russlands gar nicht mehr zu einer demokratisch-kapitalistischen Modernisierung fähig sind, da solche demokratischen Transformationen tatsächlich dem Westen die Chance zur Intervention verschaffen würden. Historisch betrachtet, setzte die grosse autoritäre Formierung in Belarus, Kasachstan und Russland im vollen Umfang erst nach der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine ein, als westliche Denkfabriken und NGOs die relativen Freiräume dort ausnutzen konnten, um die prowestliche Regierung Juschtschenko durchzusetzen.
Der russische Traum von der Etablierung eines eigenständigen ökonomischen Grossblocks zwischen der EU und China – der resistenter gegenüber Krisenerschütterungen wäre – ist nun ausgeträumt, stattdessen muss Russland um seinen Status als Grossmacht kämpfen, da der Westen sich anschickt, seinen Einfluss dort dauerhaft zu etablieren, wo bislang nur deutsche Panzerverbände kurzfristig vorstossen konnten. Putin steht gewissermassen mit dem Rücken zur Wand. Während es an allen Ecken und Enden im russischen „Hinterhof“ brennt (Belarus, Ukraine, Kasachstan, Südkaukasus), will der Westen sich in einer Region etablieren, die jahrhundertelang Teil Russlands war. Keine russische Regierung könnte es sich innenpolitisch erlauben, dies hinzunehmen. Die gegenwärtige Situation ist gerade deswegen so gefährlich, weil Putin keine Rückzugsoptionen hat, es ist ausgeschlossen, dass der Kreml die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptiert.
Die derzeit auf Touren kommende, antirussische Propaganda, die aus Putin einen allmächtigen Weltbösewicht macht, muss praktisch vom Kopf auf die Füsse gestellt werden. Russland ist eine reaktionäre, dem Westen sozioökonomisch unterlegene, imperialistische Grossmacht, die vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Systemkrise um ihr Überleben kämpft, um nicht doch noch von den westlichen Neo-Imperialisten zur Peripherie zugerichtet zu werden. Diese gefährliche Situation sollte – unabhängig vom Charakter des russischen Regimes – auch progressive und emanzipatorische Kräfte dazu veranlassen, mit aller Kraft gegen die akut gegebene Kriegsgefahr, insbesondere gegen den deutschen Drang nach Osten, zu opponieren. Wenn etwa die sozialdemokratische Parteizeitung „Vorwärts“ inzwischen „rote Linien“ gegenüber der „russischen Aggression“ fordert, dann sollte daran erinnert werden, dass die SPD 1914 die Arbeiterschaft unter Verweis auf die reaktionäre Zarenherrschaft in die Schützengräben des ersten Weltkrieges marschieren liess.