Russland fühlt sich an diese Regeln nicht mehr gebunden – sei es, weil Russland darauf verweist, dass der Westen die Regeln zuerst gebrochen habe.[1] Oder sei es, weil das europäische Sicherheitssystem nach russischer Lesart ein Konstrukt des Westens ist, welches Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufoktroyiert wurde, ohne dessen Interessen zu berücksichtigen.[2] Russland möchte das Verhältnis zum Westen daher neu verhandeln. Der Westen hingegen will die geopolitischen Ansprüche Moskaus weder akzeptieren noch legitimieren und hält an den bestehenden Grundprinzipien fest.
Die Differenzen zwischen den Konfliktparteien sind so gross, dass sie unüberbrückbar scheinen. Sie umfassen den Kern dessen, was die Sicherheitsordnung in Europa bislang ausgemacht hat: Das Prinzip der staatlichen Souveränität sowie der territorialen Integrität, das Gewaltverbot, die Nicht-Intervention in innere Angelegenheiten, die Unverletzbarkeit von Grenzen und das nationale Selbstbestimmungsrecht. Moskau und der Westen haben unterschiedliche Interpretationen dieser Prinzipien, die auf die Schlussakte von Helsinki zurückgehen, entwickelt. Beide Interpretationen schliessen sich gegenseitig aus. Sie werden in ebenso unterschiedliche historische Narrative über die Entstehung des aktuellen Konflikts eingebettet, welche das Prisma bilden, durch das beide Parteien auf das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen schauen.
Für die Länder der Europäischen Union ist der ungewollte Konflikt mit Russland mit einer schmerzhaften Erkenntnis verbunden: Ihre bisherige Russlandpolitik, basierend auf der Idee von Partnerschaft und gemeinsamen Regeln, ist gescheitert. Ihre Hoffnung, dass eine enge Zusammenarbeit automatisch zu einer Annäherung Russlands an den Westen führen würde, hat sich als Illusion entpuppt. Doch auf eine Politik in der unmittelbaren Nachbarschaft, die nicht auf Partnerschaft beruht, sondern die durch Konfrontation bestimmt wird, ist die „Zivilmacht“ Europa nur schlecht vorbereitet. Europa fällt es schwer, den Konflikt mit Russland auszuhalten; es herrscht Ratlosigkeit darüber, wie mit dem „Störer“ umzugehen ist.
Nachdem infolge der Annexion der Krim Anfang 2014 in Europa zunächst Stimmen laut wurden, darunter die zweier deutscher Altbundeskanzler, die Verständnis für das russische Vorgehen äusserten und davor warnen, Putin mit erhobenem Zeigefinger gegenüberzutreten, ist inzwischen deutlich geworden, dass der Westen – anders als noch nach dem Georgien-Krieg 2008 – nicht einfach zu einem „business as usual“ mit Russland zurückkehren kann. Auch Russland zeigt bislang keine Bereitschaft, dem Westen entgegenzukommen und einzulenken. In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Politik die europäischen Staaten gegenüber einem Russland verfolgen sollten, das nicht mehr nach den Regeln spielt – und welche Handlungsoptionen den Akteuren überhaupt offen stehen.
Es gilt, eine weitere militärische Eskalation des Konfliktes unbedingt zu verhindern und Russland gleichzeitig deutlich zu machen, dass der Westen die Infragestellung der grundlegenden Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung nicht akzeptiert. Deutschland kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Zum einen, weil es traditionell die europäische Politik gegenüber Russland massgeblich geprägt hat. Zum anderen, weil es im Zuge der russischen Interventionen in der Ukraine zur europäischen Führungsnation in diesem Konflikt wurde.
Wie also weiter mit Russland? Gibt es hinter den konkurrierenden Sichtweisen nicht doch Anknüpfungspunkte, um die „Sprachlosigkeit zu überwinden“ und ein „Rapprochement“ voranzutreiben, wie der deutsche Aussenminister jüngst vorgeschlagen hat?[3] Der Wunsch nach einem „positiven Dialog“ ist in Europa gross, wo man noch immer hofft, einen „neuen Deal“ mit Russland zu finden, „mit dessen Hilfe man Moskau zurück auf den Pfad der Kooperation“ führen könnte.[4]
Kann man mit Russland gar wieder eine gemeinsame Vision für die europäische Sicherheitsordnung entwickeln, um jenes integrierte System umfassender Sicherheit zu schaffen, von dem der damalige russische Präsident Medwedew 2008 sprach?[5] Etwa im Rahmen einer neuen Schlussakte von Helsinki? Um diese Fragen beantworten zu können, erscheint es hilfreich, sich die jeweiligen Narrative über die Entstehung des Konflikts sowie die wesentlichen Streitpunkte noch einmal genauer vor Augen zu führen.
Der Kern der Auseinandersetzung
In Russland hat sich, wie Kadri Liik es treffend formuliert, ein „kohärentes antiwestliches Narrativ festgesetzt, in das einzudringen unmöglich erscheint“[6]. In der sogenannten „Ukraine-Krise“, die in Wahrheit ein russisch-ukrainischer Krieg ist, ist die tiefe Frustration, die Russland in den letzten 25 Jahren gegenüber dem Westen entwickelt hat, offen zutage getreten. So wirft Russland dem Westen unter anderem vor, es sei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gelungen, eine wirkliche gesamteuropäische Sicherheitszone zu etablieren und dadurch die geopolitische Teilung Europas zu überwinden. Statt ein „gemeinsames europäisches Haus“ auf einem gleichberechtigten westlichen und östlichen Pfeiler zu errichten, sei Russland gezwungen worden, sich dem westlichen Siegerdiktat zu beugen – einem Diktat, das ausschliesslich westlichen Interessen diene.Nach russischer Lesart sollte sich Russland demnach einer von EU und NATO dominierten europäischen Ordnung unterordnen, ohne diese Ordnung selbst beeinflussen und als Vetomacht Regeln setzen zu können. Russische Initiativen, die OSZE aufzuwerten und sie als euro-atlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft zur dominierenden Institution innerhalb einer europäischen Sicherheitsarchitektur zu machen, um einen gemeinsamen und unteilbaren Sicherheitsraum ohne Trennlinien und Zonen mit unterschiedlichen Sicherheitsniveaus zu schaffen, habe der Westen konsequent vernachlässigt.[7]
Dies führte auf russischer Seite zu der Wahrnehmung, vom Westen gedemütigt und geopolitisch kleingehalten worden zu sein. Durch die östlichen Erweiterungen von EU und NATO sei Russland immer weiter an den Rand Europas gedrängt worden, ohne dass das russische Sicherheitsbedürfnis und die russische Position als Hegemon im post-sowjetischen Raum vom Westen akzeptiert worden seien. Die Europäische Union habe es zudem versäumt, Russland den speziellen Status zukommen zu lassen, der Moskau nach eigenem Ermessen auch gegenüber anderen, „gewöhnlichen“ post-kommunistischen Staaten zustehe. Damit habe Russland sich nicht abfinden können, so dass der Westen Moskau schliesslich dazu gezwungen habe, sich wieder als eigenständigen Pol im europäischen Sicherheitssystem zu positionieren – was mit Gründung der von Russland angeführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) seinen konkreten Niederschlag gefunden habe.
Aus westlicher Sicht ist jedoch wenig nachvollziehbar, wieso Russland das Gefühl entwickelt hat, vom Westen nicht ebenbürtig bzw. nicht „auf Augenhöhe“ behandelt worden zu sein. Um diesen Vorwurf zu entkräften, wird argumentiert, der Westen habe Russland Zugang zu westlichen Institutionen gewährt, ohne dass Russland in jedem Fall auch dafür qualifiziert war. Die russische Mitgliedschaft im Europarat oder in der G8 sind dafür gute Beispiele. Aus der Perspektive des Westens sind die Erweiterungen von NATO und EU zudem notwendige Schritt gewesen, um das legitime Sicherheitsbedürfnis mitteleuropäischer Staaten, die jahrzehntelang unter sowjetischer Herrschaft zu leiden hatten, zu befriedigen und zu verhindern, dass in der mitteleuropäischen Nachbarschaft eine Zone der Instabilität und des Staatenzerfalls entsteht.
Der Westen betont, er habe alles daran gesetzt, diese Erweiterungen nicht als Bedrohung für Russland erscheinen zu lassen und zahlreiche Angebote gemacht, um Russland konstruktiv einzubinden – sei es in Form des NATO-Russland-Rates, sei es durch die Modernisierungspartnerschaft zwischen Russland und der EU. Selbst eine Mitgliedschaft Russlands in beiden Institutionen sei zeitweise theoretisch angedacht worden.
Hier offenbart sich ein fundamentaler Dissens zwischen beiden Seiten. Die Erweiterungsperspektive von NATO und EU funktioniert nach dem Prinzip der einseitigen Anpassung. Wer Mitglied werden will, muss die Regeln der Institutionen befolgen – die Institutionen passen ihre Prinzipien nicht an potentielle neue Mitglieder an. Dieses Modell, das in Mittel- und Osteuropa funktioniert hat, ist für Russland inakzeptabel. Moskau möchte kein „einfaches“ Mitglied sein und sich auch keiner Sicherheitsordnung unterwerfen, die auf euro-atlantischen Institutionen und Prinzipien basiert. Dies gilt aus Sicht Russlands auch für den post-sowjetischen Raum, den es als russischen Hinterhof begreift.
Denn anders als der Westen interpretiert der Kreml die KSZE-Schlussakte von Helsinki in der Tradition der Abkommen von Jalta und Potsdam vor allem als Dokument, welches die territoriale Aufteilung Europas in Interessenssphären und Einflusszonen festgeschrieben habe. Das Ende der Blockkonfrontation habe dann auch das Ende dieser „festgefügten Vereinbarungen“ eingeläutet und in Europa ein Vakuum hinterlassen.[8] Hier offenbart sich ein weiterer Kern der russisch-westlichen Auseinandersetzung über die europäische Sicherheitsarchitektur: Während Russland heute gerne in das Europa von 1917 zurückkehren würde, als Einflusssphären legitime Schlüsselbedingung für ein funktionierendes und stabiles Miteinander der europäischen Staaten waren, möchte der Rest Europas nicht wieder hinter die 1990er Jahre zurückfallen.
Denn in den Staaten der Europäischen Union und der übrigen westlichen Welt herrscht die Überzeugung, dass die in der Charta von Paris 1990 vereinbarten Prinzipien und Grundsätze, die im Budapester Memorandum 1994 sowie der NATO-Russland-Grundakte von 1997 noch einmal bekräftigt wurden, sehr wohl „festgefügte Vereinbarungen“ darstellen, die nach wie vor auch für Russland gelten. Zum einen, weil die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion deren Rechte und Pflichten aus der Charta von Paris übernommen hat. Zum anderen, weil die ehemaligen Sowjetrepubliken mit dem Ende der Sowjetunion formell einwilligten, gegenseitig ihre Grenzen und ihre territoriale Integrität zu achten sowie ehemals innerstaatliche Grenzen als internationale anzuerkennen.
Und zum Dritten, weil das Budapester Memorandum sowie die NATO-Russland-Grundakte explizit das freie Bündniswahlrecht anerkennen und beide Dokumente auch von Russland unterschrieben wurden. Russland kann sich nach Meinung des Westens unter Verweis auf eine Art „Versailles-Syndrom“ nicht plötzlich von diesen „festgefügten Vereinbarungen“ lossagen – oder deren Existenz gar bestreiten. Auch wer diese Regeln bricht, bleibt an sie gebunden – das gilt für Russland wie auch für den Westen selbst.
Mangelnde Gemeinsamkeiten und multiple Krisen und Konflikte
Dieser Schlagabtausch russischer und westlicher Sichtweisen liesse sich noch eine ganze Weile fortsetzen. Die Differenzen erstrecken sich nicht nur auf die Entstehung der europäischen Sicherheitsarchitektur nach 1990 oder die Legitimität der Osterweiterung von NATO und EU, sondern daraus abgeleitet auch auf die völkerrechtliche Zulässigkeit der westlichen Interventionen im Kosovo 1999, im Irak 2003 oder in Libyen 2011 sowie der russischen Interventionen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014. Sie umfassen ferner die Frage, ob sich hinter dem westlichen Bestreben, die Zivilgesellschaften im post-sowjetischen Raum zu stärken, dort unabhängige Medien zu unterstützen und den demokratischen Transformationsprozess weiter auszuweiten, letztlich der Versuch verbirgt, mittels sogenannten Farbrevolutionen die Führung im Kreml zu stürzen.Auch die Rolle der USA in Europa wird von beiden Seiten höchst unterschiedlich interpretiert – vom Westen werden die USA als Alliierte und Partner gesehen, die man gerne in Europa halten möchte – trotz NSA-Skandal, Guantanamo und TTIP-Sorgen der Bevölkerung. In Russland hingegen gelten die USA als Okkupationsmacht Europas, deren Einfluss auf den Kontinent der Kreml gerne verringern würde.
Jede weitere Aufzählung an Differenzen, so aufschlussreich und lohnenswert eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Argumenten beider Seiten auch ist, läuft schlussendlich immer wieder auf die gleiche Erkenntnis heraus: Russland und der Westen haben tatsächlich keine gemeinsame Vision für das internationale System oder auch nur die europäische Sicherheitsordnung. Für einen neuen Vertrag über europäische Sicherheit, ein neues Helsinki, scheint es derzeit keinerlei Anknüpfungspunkte zu geben. Von einem gemeinsamen „europäischen Haus“, das dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow 1989 vorschwebte, oder von einem „geeinten, freien und friedlichen Europa“, von dem der amerikanische Präsident George H. W. Bush im selben Jahr sprach, scheinen wir heute weiter entfernt als damals zu sein. Stattdessen wurde der europäische Kontinent durch die zunehmende Entfremdung Russlands vom Rest Europas und der gesamten westlichen Welt scheinbar zurück in die Zukunft katapultiert. Von einem neuen „Kalten Krieg“ ist oftmals die Rede.[9]
Allerdings ähnelt die heutige Situation der Teilung Europas nach 1945 nur bedingt. Während die Welt im Zeitalter der Bipolarität von zwei Grossmächten in Atem gehalten wurde, die die internationalen Beziehungen fast vollständig dominierten, ist die heutige Auseinandersetzung Russlands mit dem Westen eingebettet in ein von vielfachen Krisen und Konflikten gezeichnetes internationales System. Der zunehmend aggressiv vorangetriebene Aufstieg Chinas und der sich anbahnende Konflikt mit den USA im südchinesischen Meer, der von Kriegen begleitete Zerfall des Nahen und Mittleren Ostens, die internen Krisen innerhalb der liberalen Demokratien des Westens und der Vormarsch autoritärer Staaten stellen die Stabilität des internationalen Systems ebenso infrage wie der internationale Terrorismus und die weitere Proliferation von Massenvernichtungswaffen.
Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist heute einer unter vielen in Europa: Während Russland den post-sowjetischen Raum destabilisiert, zieht sich in der südlichen Nachbarschaft ein Krisenbogen von Marokko bis zum Kaspischen Meer. Die Konflikte in Syrien, in Afghanistan oder im Irak haben Millionen Menschen in die Flucht getrieben, viele davon nach Europa. Die sicherheitspolitische Lage in der gesamten europäischen Peripherie verschlechtert sich zusehends. Gleichzeitig untergraben wachsende populistische und nationale Strömungen, die durch die Flüchtlingskrise neuen Zulauf bekommen, innerhalb der europäischen Staaten den Zusammenhalt der Europäischen Union.
Zwischen all diesen unterschiedlichen Konflikten ist die Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen besonders gefährlich. Zum einen, weil sie in viele der anderen Konflikte destruktiv mit hineinspielt, sei es mit Blick auf die russische militärische Intervention in Syrien oder Russlands Unterstützung für die Anti-Establishment Parteien am linken und rechten Rand der europäischen Parteienlandschaft, die sich dezidiert zum Ziel gesetzt haben, die Europäische Union zu schwächen. Zum anderen, weil Russland noch immer die zweitgrösste Nuklearmacht der Welt ist und der Kreml seine nuklearen Fähigkeiten seit Ausbruch der Krise gegenüber dem Westen immer wieder betont – oder z.B. in Form von atomwaffenfähigen Iskander-Raketen in Kaliningrad gar demonstrativ zur Schau stellt.
Und zum dritten, weil Wladimir Putins Russland mit der Krim-Annexion in revisionistischer Absicht und mit militärischen Mitteln wieder europäische Grenzen verschoben hat. Wenn es in Europa erneut salonfähig wird, historische Gebietsansprüche gewaltsam durchzusetzen, ist die Möglichkeit zukünftiger Auseinandersetzungen auch in Zentralasien, im Kaukasus oder auf dem westlichen Balkan bereits angelegt. Das Eskalationspotential des Konflikts zwischen Russland und dem Westen ist folglich immens.
Welche Optionen für Deutschland und Europa?
Deutschland, die Europäische Union und der gesamte Westen müssen daher ein hohes Interesse daran haben, den Konflikt mit Russland nicht eskalieren zu lassen – bei gleichzeitiger Bereitschaft, ihn bis auf Weiteres auszuhalten. So verständlich der Wunsch nach einem, wie auch immer gearteten, neuen „Deal“ über eine stabile, kooperative und inklusive Sicherheitsordnung mit Moskau ist, er liesse sich momentan nur um den Preis der Dreingabe all jener Prinzipien verwirklichen, auf denen die euro-atlantische Architektur fusst. Um die russischen Erwartungen zu erfüllen, müsste Europa eine grundlegende Umwälzung seiner Institutionen akzeptieren – das betrifft nicht nur die NATO und die EU, sondern auch die OSZE und die WTO. Der Geist von Jalta ist nicht wiederzubeleben; klar definierte Einflusszonen stehen ausser Frage und sollten vom Westen weder explizit noch implizit anerkannt werden.Die Revolutionen in Georgien und in der Ukraine haben zudem gezeigt, dass Grossmachtdiplomatie über die Köpfe der Menschen hinweg im 21. Jahrhundert nicht mehr durchsetzbar ist. Die Gesellschaften im post-sowjetischen Raum wehren sich gegen eine Vereinnahmung durch Moskau. Sie wollen selbst über ihr politisches System und ihre Bündnisse entscheiden. Die Europäische Union muss sie in diesem Bestreben unterstützen, sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit.
Da der Konflikt zwischen Russland und dem Westen über die europäische Sicherheitsarchitektur bis auf Weiteres unlösbar scheint, müssen die europäischen Staaten mit ihren transatlantischen Partnern gutes Krisenmanagement betreiben. Dazu gehört es erstens, weiter aus einer Position der europäischen und transatlantischen Geschlossenheit und der westlichen Einigkeit zu agieren. Diese Einheit in der „Ukraine-Krise“, nicht zuletzt ein Verdienst der deutschen Krisendiplomatie, hat sich als wirkungsvollstes Instrument des Westens erwiesen. Die Führung im Kreml hat in den vergangenen Monaten allerdings immer wieder demonstriert, dass sie alles daransetzt, den Westens zu spalten, das europäische Projekt zu torpedieren und einen Keil zwischen die Mitgliedstaaten der NATO zu treiben. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau sollten die Mitgliedstaaten der NATO daher die Gelegenheit nicht verpassen, ihre Geschlossenheit weiterhin zu demonstrieren.
Zu einem erfolgreichen Krisenmanagement gehört zweitens, von einer Position der Stärke aus zu operieren: Dies bedeutet die Einhegung der Konfrontation durch „Containment“ – sei es militärisch im Rahmen einer gestärkten NATO, die Russland glaubwürdig abschrecken kann, oder sei es in Form der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen, die der Westen wegen des Ukraine-Konfliktes gegen Russland verhängt hat, solange Minsk II nicht vollständig umgesetzt ist. Eine Position der Stärke beinhaltet darüber hinaus, die eigene Verwundbarkeit im wirtschaftlichen, infrastrukturellen und Energiebereich zu reduzieren, sich noch weniger abhängig von Russland zu machen und die eigene Resilienz zu erhöhen.
Schliesslich bedeutet eine Position der Stärke, an die eigenen Normen und Werte zu glauben – und sich auch selbst daran zu halten. Allen unterschiedlichen und konkurrierenden Narrativen, von denen heute so oft die Rede ist, zum Trotz: Die Grundprinzipien, die in der Schlussakte von Helsinki und darauf aufbauend in der Charta von Paris ihren Niederschlag gefunden haben, und die Europa sicher durch das Ende des Kalten Krieges brachten, haben sich heute, mehr als 40 Jahre später, keineswegs überlebt. Der Zuspruch, den diese Prinzipien in dem ganz überwiegenden Teil Europas erfahren, spricht eine eigene Sprache.
Als Gegenpol zu einer Politik der Eindämmung und der Abschreckung wird seitens der europäischen Politik darüber hinaus immer wieder erwogen, trotz bestehender Differenzen punktuell mit Russland zusammenzuarbeiten oder „taktisch“ zu kooperieren. So hat beispielsweise die EU-Aussenbeauftragte Mogherini im Januar 2016 ein Papier vorgelegt, in dem sie die Frage aufwarf, ob nicht differenzierte, interessengeleitete Dialoge mit Russland in verschiedenen Formaten aufgenommen bzw. wieder intensiviert werden sollten. Als Blaupause dienen die Verhandlungen der E3+3 über das iranische Atomprogramm.
Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, des grenzüberschreitenden Drogenhandels oder des organisierten Verbrechens werden in diesem Zusammenhang ebenso als mögliche Kooperationsfelder angeführt wie die Aufrechterhaltung einer stabilen Ordnung im Mittleren und Nahen Osten und eine mögliche Zusammenarbeit im Bereich Energie. Dennoch sollte man die gemeinsame Agenda nicht überbewerten und sich von einer punktuellen Zusammenarbeit zu viel erhoffen: Denn auch wenn Russland und der Westen angeben, sich für eine Beilegung des Syrien-Konflikts einzusetzen und den sogenannten IS bekämpfen zu wollen, verstehen beide Seiten doch unter der konkreten Ausgestaltung dieses angeblich gemeinsamen Interesses etwas völlig anderes. Vielversprechender scheint dagegen Kadri Liiks Vorschlag zu sein, den Dialog mit Russland auf die Unterschiede, statt auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren.[10] Denn Einigkeit über das Wesen der Differenzen macht die Handlungen der Gegenseite für den jeweils anderen berechenbar und hilft, Missverständnisse zu vermeiden.
Wenn richtig ist, dass Gründe für die aussenpolitische Neuorientierung Russlands vor allem in der Innenpolitik liegen und der Kreml viel Legitimation aus der momentanen Auseinandersetzung zieht, braucht der Westen in erster Linie strategische Geduld und einen langen Atem.