Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am 12. September, dass die Bundesregierung nun zu einer Zusammenarbeit mit Russland im Syrien-Konflikt bereit sei. Zur Beilegung des nicht enden wollenden Bürgerkrieges sei „die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch die Zusammenarbeit mit Russland“ von Nöten, da es ansonsten „keine Lösung geben“ werde, betonte Merkel, kurz bevor Aussenminister Steinmeier sich mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Berlin traf, um die Krise in der Ukraine zu diskutieren.
Zuvor hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gegenüber dem Spiegel erklärt, dass sie die Beteiligung Russlands am Kampf gegen den „Islamischen Staat“ begrüssen würde: „Es ist in unserem gemeinsamen Interesse, dass alle zusammen den IS bekämpfen. Wenn es Russland darum geht, treffen sich unsere Interessen.“
Damit akzeptiert Berlin überraschend schnell den rasch voranschreitenden Aufbau der militärischen Präsenz Russlands in Syrien, die insbesondere in den USA massiv kritisiert wird. Am Freitag – also einen Tag vor dem Kooperationsangebot Merkels an den Kreml – erklärte US-Präsident Barack Obama, dass die russischen Aktionen „die Vereinigten Staaten und andere Mitglieder der US-Koalition davon abhalten könnten, eine politische Lösung in Syrien zu finden“, wie Voice of America berichtete. Auch die New York Times sprach in einem Leitartikel davon, dass die Hoffnungen auf eine Beilegung des Konflikts in Syrien durch das verstärkte russische Engagement einen Dämpfer erhalten hätten.
Damit ist es offensichtlich, dass sich Berlin in seiner Politik gegenüber Russland zunehmend von Washington absetzt. Während der transatlantische „Partner“ die verstärkte Präsenz Russlands in Syrien heftig kritisiert und nicht als hilfreich betrachtet, sieht Berlin gerade Russland als unverzichtbar bei der Lösung der Konflikts. Die russophilen „Deutsche Wirtschafts Nachrichten“ jubelten gar über einen vermeintlichen „Ausbruch“ der BRD aus der „US-Allianz gegen Russland“.
Diese nun offensichtlich rasch voranschreitende Normalisierung der Beziehungen zwischen Berlin und Moskau, die noch vor einem Jahr als „dauerhaft geschädigt“ galten, ging – wie in solchen Kurswechseln üblich – eine Reihe von Initiativen und angeblichen „Tabubrüchen“ aus der „zweiten Reihe“ der Politprominenz voraus. Der deutsche Ex-Aussenminister Hans-Dietrich Genscher sprach sich Ende August für einen „Neuanfang“ mit Russlands Präsident Putin aus, den er als „durchaus pragmatisch“ bezeichnete.
Die Grundlage dieser politischen Annäherung bilden – wie so oft im Kapitalismus – die erneut aufblühenden Geschäfte zwischen den „Partnern“. Nirgends wird die wirtschaftliche (Wieder-) Annäherung zwischen Deutschland und Russland eifersüchtiger beobachtet als in der veröffentlichten Meinung der Vereinigten Staaten, des im Abstieg befindlichen Welthegemons, dessen geopolitische Strategie gerade auf die Verhinderung eines einheitlichen eurasischen Machtblocks unter Einbeziehung der BRD abzielt. Die von Washington zielstrebig beförderte Eskalation der Krise in der Ukraine sollte nicht zuletzt einen nicht mehr überwindbaren Keil zwischen Berlin und Moskau treiben.
„Deutsch-russisches Tauwetter“
Doch hierbei scheinen Washingtons knallharte Geopolitiker die Geschäftstüchtigkeit des „Exportweltmeisters“ Deutschland unterschätzt zu haben. Deutschland sei trotz fallender Preise der „zuverlässigste Gaskunde“ Russlands, meldete verbittert Mitte August Bloomberg.„Vergiss die Ukraine“, jammerte zudem Newsweek Anfang September auf seiner Webpräsenz, da zwischen Deutschland und Russland wieder „Business as usual“ herrsche. Wenn das mal keine Untertreibung war. Der deutsch-russische Deal, den Newsweek thematisierte, stellt einen wirtschaftspolitischen Durchbruch dar, bei dem im Zuge der Ukraine-Krise blockierte Vorhaben realisiert werden. Im Rahmen eines Tauschs von Vermögensgegenständen, eines sogenannten Asset-Swap zwischen Gazprom und der BASF-Tochter Wintershall, konnte die russische Seite Zugriff auf 50 Prozent von Wingas erhalten, einem Gasgrosshändler, der allein in der BRD einen Marktanteil von 20 Prozent hält. Im Gegenzug bekommt Wintershall direkten Zugriff auf die russische Gasförderung in Sibirien.
Beide Seiten sind hier gewissermassen über ihren Schatten gesprungen: Bislang weigerte sich Berlin, Teile der Energieinfrastruktur – wie die im Besitz von Wingas befindlichen Gasspeicher – an Russland zu verkaufen, während Russland für gewöhnlich seine Rohstoffvorkommen nicht an ausländische Investoren veräussert. Dieser „Gazprom-Deal“ deute auf ein „deutsch-russisches Tauwetter“, schlussfolgerte Bloomberg Anfang September korrekt.
In Polen, wo die Annäherung zwischen beiden Grossmächten misstrauisch verfolgt wird, wurde der ebenfalls Anfang September zwischen Gazprom und E.ON beschlossene Ausbau der Nordseepipeline heftig kritisiert, die russisches Erdgas unter Umgehung der mittelosteuropäischen Transitländer (Weissrussland, Ukraine, Polen) direkt nach Deutschland befördert.
Die wirtschaftspolitische Annäherung zwischen Berlin und Moskau wird von verstärkten diplomatischen Bemühungen der deutschen Diplomatie flankiert. Das Wall Street Journal empörte sich beispielsweise darüber, dass deutsche Diplomaten „alte Freunde aus dem Westen“ bedrängen würden, ihre Haltung gegenüber Russland zu lockern.
Wann wurde dieses Tauwetter zwischen Berlin und Moskau initiiert? Etliche Berichte in englischsprachigen und griechischen Medien deuten darauf hin, dass diese Annäherung auf dem Höhepunkt der letzten Griechenlandkrise, als Berlin die ehemalige griechische Linksregierung in eine erniedrigende Kapitulation zwang, auf den Weg gebracht wurde.
Hat Russland die linke griechische Regierung zugunsten von Berlin hängen lassen?
„Hat Putin Griechenland verkauft?“ – unter dieser Schlagzeile fasste Bloomberg Ende Juli griechische Medienberichte, unter anderem in der Zeitung To Vima, zusammen, die auf ein doppeltes Spiel Moskaus während der Griechenland-Krise hindeuteten, mit dem die Athener Linksregierung ins Abseits manövriert wurde. Es kursierten „Verschwörungstheorien“, wonach Putin „Griechenland helfen konnte, den Euro zu verlassen, aber er hat den Kurs im letzten Moment geändert, und so den griechischen Premierminister Alexis Tsipras in die kalte Umarmung der europäischen Führer getrieben“. Demnach habe der Kreml, angestossen durch die beiden Russland-Visiten des griechischen Premiers Tsipras, Geheimverhandlungen mit Athen über Notkredite geführt.Konkret ging es bei den Verhandlungen um Kredite von bis zu 10 Milliarden Euro, die dazu dienen sollten, im Notfall eine Rückkehr Griechenlands zur eigenen Währung zu ermöglichen. Mit diesen Mitteln hätte Athen einen Ausstieg aus dem Euro wagen können, der nicht notwendigerweise in eine sozioökonomische Katastrophe geführt hätte. Wen man so will, wäre dies der griechische „Plan B“ gewesen, über dessen angebliches Fehlen sich viele Beobachter der deutsch-griechischen Auseinandersetzungen den Kopf zerbrochen haben. Auch die Financial Times berichtete hierüber unter Berufung auf den ehemaligen griechischen Energieminister Panagiotis Lafazanis, der bei beiden Russland-Visiten des griechischen Premiers zugegen war. Die Kredite sollten demnach als Vorauszahlungen für die Transitgebühren aus russischen Pipelineprojekten in Hellas fliessen.
Moskau schien – den besagten Berichten zu folge – auf den Deal eingegangen zu sein. Die Kehrtwende Moskaus erfolgte demnach erst am Abend des 5. Juli, gerade als die griechische Bevölkerung sich mit überwältigender Mehrheit in dem berühmten OXI-Referendum gegen das deutsche Ultimatum entschieden hatte. Durch diese Kehrtwende Putins habe Tispras keine andere Option gehabt, als zu kapitulieren und die deutschen Forderungen bedingungslos anzunehmen, da ihm jegliche ökonomische Optionen auf einen „Grexit“ genommen wurden. Dieses Vorgehen Russlands, das Athen mit der gefährlichen Illusion einer Alternative versorgte, spielte letztendlich auch dem Bestreben Schäubles in die Hände, Griechenland in einen katastrophalen Ausstieg aus der Eurozone zu treiben, um so ein Exempel zu statuieren.
Diese von Bloomberg und der Financial Times zirkulierte Story wurde auch von den Anarcho-Kapitalisten des beliebten Newsportals Zerohedge aufgegriffen, die über die Motivation Putins spekulierten. Sollten sich diese Berichte bestätigen, sei Putin letztendlich als der Retter der deutsch dominierten Eurozone anzusehen:
Das bedeutet, dass Merkel nun in einer grossen Schuld bei Vladimir steht, dessen Verrat an den „Marxisten“ es der Eurozone ermöglichte, in ihrer gegenwärtigen Form weiter zu bestehen. Es stellt sich nun die Frage, was das pro quo ist für das Fallenlassen der griechischen Regierung…
Es ist nun möglich, den Inhalt dieses „pro quo“ abzuschätzen: Die Annäherung zwischen Russland und Deutschland, die von Berlin nun forciert wird, könnte gerade Ausdruck der Dankbarkeit Berlins sein für den machtpolitischen Gefallen, über den Putin dem deutschen Hegemon bei seinem Machtkampf mit den aufmüpfigen Griechen leistete.
In einer existenziellen Krise der deutschen Eurozone – als Berlins Dominanz von Athen offen herausgefordert wurde – verzichtete der Kreml dieser Hypothese zufolge darauf, die deutsche Einflusssphäre zu destabilisieren. Putin respektierte den deutschen „Hinterhof“ und half Merkel, diesen unter Kontrolle zu halten. Die griechische Kapitulation wäre demnach das „Geschenk“, dass Putin dem ersehnten deutschen „Partner“ überreichte, um Berlin zu einem Politikwechsel zu animieren. Die Message ist klar: Wie akzeptieren eure Einflusssphäre, wenn ihr das Gleiche tut. Die aktuelle Annäherung zwischen Deutschland und Russland findet über der soziökonomischen Leiche Griechenlands statt.
Diese Hypothese würde vieles an den dramatischen Vorgängen im Gefolge des OXI-Referendums in Hellas erklären, was derzeit rätselhaft erscheint. Etwa das angebliche Fehlen eines „Plan B“ der griechischen Linksregierung oder die Niedergeschlagenheit in im Umfeld von Tsipras nach dem Sieg beim Referendum am 5. Juli, über die der ehemalige Finanzminister Varoufakis berichtete. Sie wurde bisher wenig einleuchtend damit begründet, dass Tsipras eigentlich im Referendum unterliegen wollte.