1. Zwei Schiffstragödien und der Massstab der Seenotrettung
Artikel 98 Pflicht zur Hilfeleistung(1) Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist,
a) jede Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten;
b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. (Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, 23.6.1998)1
Beinahe gleichzeitig ereigneten sich im vergangenen Juni zwei Schiffsunglücke, die von der Öffentlichkeit als Schiffstragödien wahrgenommen wurden. Die eine Schiffstragödie spielte sich am 14. Juni etwa 80 Kilometer vor der griechischen Küste auf einem Fischereikutter namens Adriana mit 750 bis 800 Menschen an Bord ab. Die andere Schiffstragödie am 18. Juni mit 5 Mann Besatzung in einem Tauchboot von 6,70 Meter Länge im Atlantik, etwa 1500 Kilometer östlich von Boston und 600 Kilometer vor der kanadischen Insel Neufundland entfernt.
Beide Male waren die staatlichen Küstenwachen darüber informiert und alarmiert, dass offensichtlich Menschen in akute Seenot geraten waren; beide Male hatten die Küstenwachen "Kenntnis" über das unbedingte "Hilfsbedürfnis" in beiden Tragödien erhalten. Beide Male startete die Seenotrettung.
Damit endet auch die Gemeinsamkeit. Davon, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, wonach die völkerrechtliche Verpflichtung besteht, jedem Menschen, der "auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten" weiterhin gilt, kann im angebrochenen 21. Jahrhundert keine Rede mehr sein. Denn im 21. Jahrhundert macht es mitunter einen gewaltigen Unterschied aus, in welcher Weise die staatliche Seenotrettung sich verpflichtet fühlt und aktiv wird.
Das hängt davon ab, wer in akute Seenot gerät. Das wer ist, was Europa angeht, bestimmt durch die nationalstaatlichen Interessen und durch das unter deutscher Führung gesamteuropäisch gemachte Interesse, welchen Nutzen sich Deutschland, die EU-Mitglieder und die EU von den ihnen zu Gebote stehenden Teilen der Menschheit oder Weltbevölkerung für ihren Erfolg in der globalen Staaten-, Standort und Nationen-Konkurrenz gegen konkurrierende "Partner und Rivalen" von heute und morgen versprechen. Das ist der Massstab für moderne Seenotrettung. Mutas mutandis gilt das auch für die USA.
Diesem Massstab gemäss ist das ausgreifende und inzwischen global agierende "Grenz- und Migrationsmanagementsystem" (EU-Kommission, 15.7.2023)2 der EU entlang folgendem Ideal ausgestaltet: Über einen länderübergreifenden bürokratisch-administrativen und polizeilich-militärischen Gewaltapparat zu verfügen der je nach konjunktur-, geo- und weltpolitischer Beurteilungslage jederzeit frei und fein säuberlich differenziert, begutachtet und selektiert zwischen nützlichen, also willkommenen und nutzlosen, also weniger willkommenen Fremden, Ausländern oder "Gästen" - unter der ihm zu Gebote stehenden Menschheit. Diese global angelegte Sortierungsleistung entlang des nationalstaatlichen und gesamteuropäisch gemachten Interesses entscheidet darüber, ob und welcher staatliche Nutzen aus einer Seenotrettung zu ziehen ist. So funktioniert der Massstab moderner, abendländischer Seenotrettung. Demnach sehen die Seenotrettungsmassnahmen aus. Wie die beiden im vergangenen Juni.
2. Die Nutzlosen kommen und niemand hat sie gerufen
Wir sagen deutlich: Wir wollen nicht, dass mehr Menschen ins Land kommen, sondern wir fordern ein spürbares Umsteuern, damit weniger kommen, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen...Das muss die Politik begrenzen, wenn sie nicht versagen will. (ehemaliger bayer. Inneminister G.Beckstein, 11.7.2000)3Legal migration can bring benefit to our society and the economy..Member States retain the right to determine volumes of admission for people coming from third countries to seek work...(EU-Kommission, 23.9.2020, New Pact on Migration and Asylum)4
Das immerhin ist den Menschen an Bord des vollkommen überfüllten und seeuntauglichen Fischkuttters Adriana gelungen: Über alle Grenzen, über alles staatliche Gewaltmonopole, nationalen Hoheitsgebiete, Stacheldrahtzäune, Mauern, Grenzwächter, Wachposten und Küstenwachen hinweg haben die Flüchtlinge aus Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Syrien und Palästina es nach Tagen oder Wochen Flucht mit ihren Familien bei Bezahlung von ca 7.500 Dollar pro Kopf geschafft, vom libyschen Tobruk aus auf der berüchtigten, zentralen Mittelmeer-Route nach 6 Tagen Seefahrt bis in die Nähe der griechischen Küste vor Pylos zu gelangen.
Der libyschen Küstenwache ist es nicht gelungen, das nationale Hoheitsrecht in Anschlag zu bringen, sie abzufangen, um sie in die hinlänglich bekannten, KZ-ähnlichen Inhaftierungslager zu verfrachten, sie mit welchen Mitteln auch immer, in ihre Herkunftsländer zurück zu schieben oder sie in der Wüste auszusetzen. Auch konnten die Flüchtlingen auf dem Schiffskutter offensichtlich Tunesien umgehen; jedenfalls nicht in die Fänge der tunesischen Polizei, des tunesischen Militärs oder der tunesischen Nationalgarde zu geraten, um von der tunesischen Hafenstadt Sfax in das Wüstengebiet der Grenze zwischen Tunesien und Libyen transportiert und der sengenden Sonne ohne Wasser und Brot sich selbst überlassen zu sein.5
Angesichts des soeben mit Tunesien beschlossenen Flüchtlings-Deals, dem "comprehensive partnership package"6 nach dem bereits bewährten Motto "cash contre migrants"7, dürfte es sich für alle Flüchtlinge dieser Welt ohnehin empfehlen, Tunesien bei ihren Fluchtversuch nach Europa endgültig zu vermeiden. Desgleichen ist von den Flüchtlingen dieser Welt auch Algerien zu umgehen, um nicht von algerischen Sicherheitskräften wie Tausende vor ihnen der Sahelzonen-Wüste ausgeliefert zu werden. (Maghreb-Post, 23.3.2023)8 Und es droht, dass es der deutsch-europäischen Migrationspolitik gelingt, mit Algerien und Marokko gleichermassen Flüchtlings-Deals abzuschliessen wie mit dem tunesischen Verschwörungstheoretiker und Migrantenhetzer in Amt und Würden.
Dies droht umso mehr, als der EU-Tunesien-Deal inzwischen folgende Ergebnisse erzielte: „Ab in die Wüste Dutzende Flüchtlinge sind nach ihrer Deportation durch tunesische Behörden in die Wüste verdurstet. Während die ersten starben, schloss „Team Europe“ (von der Leyen) mit Tunis einen Flüchtlingsabwehrdeal...Kurz zuvor hatten die tunesischen Behörden 1.200 Menschen aus Ländern Afrikas südlich der Sahara in ein Wüstengebiet an der tunesisch-libyschen Grenze deportiert und sie dort schutzlos ausgesetzt; während „Team Europe“ mit Tunesiens Präsident Kaïs Saïed zusammenkam, um weitere Schritte zur Flüchtlingsabwehr in die Wege zu leiten, verdursteten die ersten von ihnen. Bisher wurden 27 Leichen gefunden... Dass Flüchtlinge von den nordafrikanischen Küstenstaaten in die Wüste deportiert werden, ist nicht neu und auch in Europa seit langem bekannt. Bereits vor knapp zwei Jahrzehnten wurde berichtet, Marokko habe soeben rund 500 Flüchtlinge ohne Nahrung an der Grenze zu Algerien ausgesetzt und sogar mehr als tausend Flüchtlinge in Handfesseln an die Grenze der besetzten Westsahara zu Mauretanien verschleppt... Derlei geschieht immer wieder... (German Foreign Policy, 10.8.2023)9
Solchem Schicksal sind die Flüchtlinge auf dem Fischkutter Adriana entgangen. Bis fast vor die griechische Küste hatten sie es jedenfalls geschafft. Und Lampedusa war auch nicht mehr weit. Umrahmt war ihre Flucht allerdings von der europäischen, am 8. Juni 2023 beschlossenen Übereinkunft über die Reform des "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems" (GEAS): Dem Asylkompromiss 2.0, der das nationalstaatliche und gesamteuropäische Hoheitsrecht über den Umgang mit Fremden, Ausländern oder Gästen innerhalb und an den Aussengrenzen des Schengenraums fest- und fortzuschreiben gedenkt.
Und zwar auf erweiterter Stufenleiter, das heisst: Dass die Entscheidungsfreiheit darüber, wer aus der zur Verfügung stehenden Weltbevölkerung als willkommene, weil als nützlich erachtete Human- und Kapitalressource für die ausgreifenden Interessen und Ambitionen einer im 21. Jahrhundert global weltmacht- und konkurrenzfähigen EU in Betracht zu ziehen ist und wer nicht, gemeinsam verpflichtend für alle EU Mitglieder wird. Für eben "Ein stärkeres Europa in der Welt - Festigung der verantwortungsvollen globalen Führungsrolle Europas" (EU-Kommission, Juni 2023)10
Das schliesst eine wertegeleitete, auch noch feministisch orientierte Willkommenskultur gegenüber erwünschten Flüchtlingen aus der Ukraine zur Bebilderung der Unmenschlichkeit Putins und Russlands ebenso ein, wie die von der EU eröffnete sogenannte "legale Migration" von Kapital-, Standort- und Europa-nützlichen Menschenmaterial aus aller Herren Länder. Auch aus solchen Ländern wie Tunesien, das über jede Menge Nutzloser wie für Europa nützlich zu verwertender Fachkräfte-Tunesier gebietet.
Die bislang geltende Praxis gegenüber den als Nutzlosen und deshalb Unerwünschten betrachteten Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden innerhalb und an den Aussengrenzen des Schengenraums in eins mit der frei gehandhabten und vorwärtsorientierten Definition "sicherer" Herkunftsländer, Transit- und Drittstaaten, soll per Asylkompromiss 2.0 definitiv legal gemacht und unumkehrbar sein. Ausgreifende und endgültige Legalisierung einer europäischen Migrationspolitik, die mittels ihres polizeilich-militärischen Gewaltapparates seit jeher so funktioniert und betrieben wird: "Die französische und die europäische Migrationspolitik besitzen seit Jahrzehnten einen rein repressiven Charakter gegenüber die als unerwünscht beurteilten Völkerschaften." (Sophie-Anne Bisiaux, 10.3.2023)11
Dementsprechend und ganz entsprechend der im Asylkompromiss 2.0 auf erweiterten Stufenleiter bestätigten Maxime im staatlichen und gesamteuropäischen Umgang mit den Nutzlosen,12 die niemand gerufen hat, ist die griechische Küstenwache aktiv geworden, als sie von dem am 13. Juni in akute Seenot geratenen Fischkutter mit den etwa 800 an Bord zusammengepferchten Menschen erfahren hatte. Von einem irgendwie gearteten "Versagen" kann bei dieser Seenotrettungsmassnahme keine Rede sein.
3. Die Europäische Seenotrettung wird aktiv
Deeply saddened by the news of the shipwreck off the Greek coast and the many reported deaths. Very concerned by the number of missing people. We must continue to work together, with Member States and 3rd countries, to prevent such tragedies. (von der Leyen, 14.6.2023)13die Heuchelei...sich überhaupt äusserlich als gut, gewissenhaft, fromm u. dgl. zu stellen, was auf diese Weise nur ein Kunststück des Betrugs für andere ist. (Hegel, 1821)14
Wie die europäische Seennotrettung gegenüber dem in akute Seenot geratenen Fischkutter vor der griechischen Hafenstadt Pylos aktiv wurde, ist inzwischen gut dokumentiert:15 Am Morgen des 13.6.2023 um 6:35 Uhr informierte der Twitter-User Nawal Soufi die italienischen, griechischen und maltesischen Behörden, über den in akuter Seenot geratenen Schiffskutter Adriana einschliesslich dessen GPS-Positionsdaten, die erweisen, dass sich der Schiffskutter innerhalb der griechischen Seenotsrettungszone, der griechischen SARS-Zone befand. Um 14:17 Uhr empfängt Alarmphone den ersten Notruf vom Schiffskutter, jedoch ohne Positionsdaten. Nachdem nach mehreren Versuchen Alarmphone die GPS-Positionsdaten bekommt, informiert Alarmphone per Email um 16:53 Uhr u.a.: die griechische Küstenwache; die Hellenic Police HQ; das Ministery of Citizen Protection HQ; UNHCR Greec; UNHCR Turkey; Greek Ombusdman; nicht zuletzt: Frontex und die NATO.
Mit dem Erfolg, dass die griechische Küstenwache zwei in der Nähe des Fischkutters befindliche Handelsschiffe beauftragt, nicht die Menschen an Bord des Schiffskutters zu retten, sondern sie mit Wasser und Lebensmittel zu versorgen. Frontex begleitete und filmte den Schiffskutter aus der Luft und die griechische Küstenwache nähert sich dem Schiffskutter mit ihrem EU-finanzierten Küstenwachboot "PPLS 920". Die NATO ihrerseits lässt nichts von sich hören, da ihre "Kernaufgabe" mit anderem beschäftigt ist, als Menschenleben zu retten.
Am 14.6. um 00:46 Uhr ein letzter Anruf des Schiffskutters an Alarmphone: “Hello my friend. …. The ship you send is…”. Von der griechischen Küstenwache heftig bestritten, unabhängig voneinander durch Überlebende, denen die griechische Küstenwache vorsorglich die Handys weggenommen hat, bestätigt, und inzwischen durch eine aufwendige 3-D-Forensik-Rekonstruktion untermauert (nd journalismus von links, 14.7.2023),16 haben sich die letzten Augenblicke der Menschen auf dem Schiffskutter 15 Stunden nach ihrer Entdeckung und Seenotmeldung so zugetragen: das Küstenwachboot PPLS 920 näherte sich endgültig dem Schiffskutter, warf ihm ein blaues Tau zu und versuchte offensichtlich mit der seit Jahr und Tag nicht nur in der Ägäis üblichen Methode, die Adriana in italienische Gewässer zu Pushen, zu ziehen; so ruckartig, dass der Fischkutter das Gleichgewicht verlor und zu sinken begann. Nicht ohne, dass die griechische Küstenwache vergass, schnell das Tau zu kappen und sich in sichere Entfernung zu begeben. Dass die griechische Küstenwache darüber hinaus die protokollierten Aussagen der Überlebenden nachweislich zugunsten der griechischen Küstenwache fälschte, rundet diesen Einsatz der europäischen Seenotrettung gegenüber für Europa Nutzlose, die niemand gerufen hatte, ab.
Die massgebenden politischen Auftraggeber der europäischen Seenotrettung in den Hauptstädten der EU, allen voran die in Brüssel, Berlin, Paris und auch in London, wissen auch hier, angesichts dieser Tragödie, die ihr souveränes "Grenz- und Migrationsmanagement" produziert und dem Mittelmeer, diesem „grössten Friedhof der Welt“ (J.Ziegler, 2.6.2023)17 als dem Friedhof für nutzlose Migranten weitere Opfer zuführt, umgehend das Beste daraus zu machen. Sie erteilen sich den offensiven Auftrag, ganz Afrika in einen kontinentalen Hotspot, in eine "Guantanamo-Flüchtlings-Mülldeponie"18 zu verwandeln und darüber hinaus mit einem globalen Migrationsmanagement in alle Länder der Welt so hinein zu regieren, dass die ihrerseits in der Lage sind, stellvertretend jegliche für Europa unerwünschte Fluchtbewegung gleich im Keim zu ersticken: "Fluchtursachenbekämpfung vor Ort und Bekämpfung transnational agierender krimineller Schleusernetzwerke" heissen die schönen Titel. Darüber versiegen die Tränen der "tiefen Trauer" (EU-Kommission, 14.6.2023) auch wieder ganz schnell. So betrachtet ist auch diese europäische Seenotrettungsaktion angesichts der Menschen an Bord der Adriana im Grunde angemessen, was andererseits die Reform des GEAS unterstreicht.
Nur wenig später, am 18. Juni ereignete sich eine weitere, diesmal aber weltweit beachtete und von der Weltöffentlichkeit, vor allem von der abendländisch-westlichen Weltöffentlichkeit fieberhaft mitverfolgte Schiffstragödie. Auch die löste eine Seenotrettung aus. Eine, die unter anderem auch Aufschluss gibt über die transnationale abendländische Kollektivmoral und Parteinahme.