Ich nehme es ihr nicht übel, genauso wenig wie die unzähligen Menschen um mich, mit denen ich eine gefühlte Ewigkeit lang Körper an Körper dicht gedrängt an der Eingangskontrolle zur Demo warte. Wo die Menschen vor überquellenden Strassen nicht mehr zur Kundgebung kommen, halten sie einfach ihre eigene spontane Kundgebung ab. Das Fahnenmeer wogt und als Pervin Buldan, Co-Vorsitzende der HDP und Rednerin, die „Cliquenmentalität der Barbaren in Suruç“ verflucht, geht eine Welle der Entrüstung durch die Menge. Als sie Selahattin Demirtas grüsst, jubeln die Tausenden noch lauter. Sertac Kayar, langjähriger Profifotograf in der Region, redet davon, dass er so etwas noch nie gesehen hat. Auch die anderen Beobachter*innen reden von einer Energie und einer Menge an Menschen, die die Grössenordnung der HDP-Abschlusskundgebung vom 5. Juni 2015 übertrifft, welche als bisheriger Höhepunkt der HDP galt.
Inmitten von Sturmwinden
Ein Tag zuvor: Als wir das Büro des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakır betreten, sind diese gerade damit beschäftigt, Strafanzeige gegen den Innenminister Süleyman Soylu zu stellen. Der hatte zwei Tage vor unserer Ankunft in Diyarbakır zu verstehen gegeben, dass im Prinzip alle wichtigen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Diyarbakır PKK-Organisationen oder Unterstützer der PKK seien. Grund dafür war der Versuch einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Diyarbakır, inklusive der Ärzte- und der Industrie- und Handelskammer, gemeinsam nach Suruç zu fahren.In der HDP-Hochburg hatten am 14. Juni zwei schwerbewaffnete Securities des lokalen AKP-Parlamentskandidaten İbrahim Halil Yıldız das Feuer auf den Laden von Hacı Esvet Şenyaşar eröffnet. Dieser hatte dem AKP-Mann zuvor zu verstehen gegeben, dass die AKP von dort keine Stimmen bekäme. Im daran anschliessenden Gefecht sterben zwei Menschen, weitere müssen schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht werden. Dort geht das Massaker weiter. Der Ladenbesitzer Hacı Esvet und seine Familienangehörigen Adil und Celal Şenyaşar werden von den AKP-Männern auf brutale Weise angegriffen, gefoltert und an Ort und Stelle erschossen beziehungsweise erstochen. Mehmet Şenyaşar, ein anderes Familienmitglied, überlebt durch Glück. Er hatte sich totgestellt. Einen Tag vor diesem brutalen Angriff wurde ein Video von Erdoğan geleakt, in dem er gegenüber Ortsvorstehern betont, dass diese „besondere Massnahmen“ gegenüber der HDP anwenden müssten, weil deren Scheitern an der Wahlhürde ein entscheidender Moment für die AKP wäre.
Obgleich die Situation vor Ort oberflächlich viel ruhiger und entspannter ist als Anfang 2016, als ich das letzte Mal vor Ort war – mitten im Krieg –, zeigen alleine diese aufeinanderfolgenden Ereignisse als Spitze einer Reihe von Eskalationen, wie angespannt und extrem polarisiert die Situation wirklich ist. Der faschistoide rollback setzte zwar mit der militärischen Niederschlagung der Selbstverwaltungsstrukturen in den Jahren 2015-16 ein, verschärfte sich aber dramatisch mit dem Ausnahmezustand, der im Zuge des Militärputsches im Juli 2016 quasi in Permanenz verhängt wurde.
Seitdem sind alle bis auf zwei der über 100 kurdischen Bürgermeister*innen per Gesetzesdekret (KHK) ihres Amtes entfernt und durch von Ankara eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt worden. Diese revidierten alle Errungenschaften der letzten Jahre: Sehr oft wurden mehrsprachige Schilder mit rein türkischsprachigen Schildern ersetzt oder in nationalistischer Manier Orte umbenannt; Dutzende Vereine, darunter über 40 Vereine, die auf die Stärkung und Gleichstellung von Frauen zielen, wurden geschlossen und ihre Vereinsräume samt Mobiliar und Archiven geleert oder für niemanden mehr zugänglich abgesperrt.
In den verbliebenen Frauenvereinen werden nun Korankurse abgehalten und am 8. März dozierte der Mufti Diyarbakırs im Kongresszentrum der Stadt darüber, was die Stellung der Frau im Islam ist. Hinzu kommen Tausende Entlassungen und Schliessungen von Presse- und Medienorganen. Die „frei“ werdenden Stellen werden ersetzt durch eigene Leute – manchmal gar durch Familienmitglieder. Zieht man noch in Betracht, dass auch Erinnerungsorte wie zum Beispiel das Monument zur Erinnerung an das Massaker von Roboski entfernt wurden, dann lässt sich mit Fug und Recht von einem Versuch der „Auslöschung kollektiver Erinnerung und kollektiven Gedächtnisses“ sprechen, wie es die Kolleg*innen im IHD tun.
Anstelle dessen schmückt das Konterfei Erdoğans seit dem Referendum 2017 das – ohne Übertreibung – gesamte Stadtbild. An jeder Laterne hängt ein Bild von ihm als Präsidenten – trotz, dass der Hohe Wahlrat YSK entschieden hat, dass die Plakate abgehängt gehören. „Es gibt keine Institutionen, die diese Entscheidung des Wahlrats umsetzen“, so erzählen uns die IHD-Vorstandsmitglieder trocken.
Das Repressionsregime der „Sicherheit“
Im Namen der Ordnung und der Wahrung der „Sicherheit“ herrscht hier ein Repressionsregime. Öffentliche Veranstaltungen, Treffen, Versammlungen, Demonstrationen sowieso sind fast durchgehend verboten – ausser sie findet aus Regierungskreisen heraus organisiert statt. Als die HDP Diyarbakır wegen der Invasion Afrins eine Demo machen will, verhindern Polizisten sie daran, überhaupt das Büro zu verlassen. Sogar die Samstagsmütter, die für die Aufklärung der „Morde unbekannter Täter“ in den 1990ern, denen ihre Kinder zum Opfer fielen, kämpfen, dürfen nicht mehr im Freien demonstrieren – seit über 90 Wochen demonstrieren sie drinnen.„Es gibt keine Vorstandsperson in demokratischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen in Diyarbakır, die nicht im Zuge dieser Entwicklungen mal kürzer, mal länger in Untersuchungshaft sass“, so Yüksel Aslan Acer, Sekretärin des IHD Diyarbakır und ehemalige Angestellte der Stadt, bis sie ebenfalls per KHK gefeuert wurde. Sie selbst sass 20 Tage in U-Haft, bis ihre Aussage aufgenommen wurde. Danach erhielt sie eine wöchentliche Meldeauflage. Beim ersten Gerichtsverfahren wurde sie freigesprochen. „Pure Willkür, um zu zermürben“, so ihr Kommentar.
In der Tat: Gegen fast jede Person, die wir treffen und die auch nur entfernt pro-kurdisch und oppositionell eingestellt ist, wurde oder wird weiterhin zumindest ermittelt, Personen in höheren Funktionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen werden ihres Amtes per Gesetzesdekret enthoben. Das heisst dann nicht nur, dass sie kein öffentliches Amt mehr bekleiden können, sondern dass sie auch in keinem privaten Verein oder Unternehmen mehr leitende Funktionen übernehmen können. Dermassen Entlassene wechseln, wo sie Glück haben, zu viel schlechteren Bedingungen in private Anstellungen. Oder, was relativ oft geschieht, sie machen kleine, zum Teil kooperative Läden auf, verkaufen Eigentum, verlassen sich auf Freunde und Familie.
Der Rundumschlag trifft alle. In einer sehr sicheren, ruhigen und etwas ab vom Schuss gelegenen Siedlung treffe ich zwei alte Bekannte von mir. Die Siedlung wird bevölkert von Mittelklassen-Professionellen: Anwält*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen und so weiter. 38 von 40 Haushalten sind pro-HDP, zwei isolierte, nicht in die Siedlungskommune eingebundene Haushalte sind pro-AKP eingestellt. Mindestens fünf Personen aus den pro-HDP Haushalten wurden ihres Amtes entfernt, gegen zahlreiche andere wurden Ermittlungen aufgenommen.
Einer sitzt immer noch in Haft, eine ganze Familie flieht in die Schweiz, mehrere Haushalte überlegen es ihnen gleich zu tun und ihre Koffer stehen quasi täglich bereit. Denn über Monate hinweg findet eine nächtliche Grossrazzia des Militärs nach der anderen statt. Nachdem ein Grossteil ihres Freundeskreises zumindest einmal in Untersuchungshaft landet, warten meine beiden Bekannten darauf, dass sie dran sind. Bisher sind sie „verschont“ geblieben, was heisst: Er wurde für 3,5 Monate suspendiert (und dann wieder zurückgeführt), sie wurde entlassen. „Aber beim nächsten KHK kann es uns wieder treffen“, meinen sie beide trocken. Ein pro-HDP türkischer Lehrer redet davon, dass sich „für uns die Frage stellt, ob überhaupt noch eine einigende Politik möglich ist“.
Sein „uns“ bezieht sich hier offensichtlich nicht auf die ethnische Kategorie „Kurd*in“: Sie bezieht alle mit ein, die sich wie er Diyarbakır und der Region zugehörig fühlen, dem Regime oppositionell eingestellt sind und die demokratischen Rechte der Kurd*innen anerkennen. Die gesellschaftliche Polarisierung verschärft sich und durchkreuzt mittlerweile Klassen- und zum Teil eben auch ethnische Unterschiede. Die Mittelklassen machen sich Sorgen um ihre Zukunft und vor allem die ihrer Kinder, Säkulare bangen um ihren Lebensstil, islamische Kleineigentümer um ihre extrem schwierigen wirtschaftlichen Perspektiven. Meinungsumfragen innerhalb der AKP-Klientel konstatieren ein „schweigsames Ressentiment“. Ein Phänomen, das fast durchgehend alle grossen Meinungsumfrageinstitute bestätigen, ist, dass die Menschen auf Fragen gar nicht mehr reagieren: vor Misstrauen und Angst in Anbetracht der allseitigen Repression und Denunziation.
Bröckelnde Fassaden
In Sur, der historischen Altstadt Diyarbakırs, herrscht eine mit aller Macht herbeigezwungene, deshalb überhaupt nicht normale Normalität. Nichts passt zusammen: Auf der Gazi Caddesi, der Hauptstrasse zwischen Norden und Süden, herrscht reger Handelsbetrieb, alle grossen Innenhöfe und Frühstückscafés haben offen und boomen, es wird rege geshoppt – ein paar Meter daneben bei der Dört Ayaklı Minare, an welcher der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakır, Tahir Elçi am 28. November 2015 unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen erschossen wurde, hört Sur künstlich auf.Werbebanner, die den Weg weiter ins Viertel versperren, zeigen, wie der Rest von Sur irgendwann in Zukunft aussehen soll. Was dort einmal war, wurde kaputtgeschossen oder nach den Auseinandersetzungen in den Jahren 2015-16 vollständig abgerissen. Mittlerweile ist über die Hälfte der historischen Altstadt plattgewalzt. Um den Bereich von Alipaşa herum, in dem es gar keine Gefechte gab, wurde ebenfalls Wellblech hochgezogen; auch dort wird alles abgerissen und modernisiert und dementsprechend viel kostspieliger neu hochgezogen. Die Familien sind vertrieben und geht der „Modernisierungsplan“ auf, werden sie aufgrund der Preise auch nicht wieder zurückkehren können. Der kaum getarnte Zivilpolizist am Dört AyaklI Minare observiert uns und eine Gruppe Jugendlicher, die das in der Türkei eigentlich immer pro-kurdisch konnotierte Victory-Zeichen machen, prüfenden Blickes. Aber keiner interveniert.
Unvorstellbar im Sur des Jahres 2016, damals eine schwermilitarisierte Hochsicherheitszone. „Die Polizei und das Militär haben getan, was sie tun wollten, deshalb können sie jetzt so scheinbar locker sein“, meint zynisch unser Begleiter Talat, ein entlassener Lehrer. Von der Nordmauer aus kann man weitflächig auf die betreffenden Teile der Viertel Savaş, Dabanoğlu und Cevatpaşa blicken. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken, das friedlich vor sich hin wachsende Gras auf dieser riesigen Brachfläche wächst dort schon immer. Nur die im Bau befindliche doppelspurige Asphaltstrasse, die so gar nicht zum restlichen Sur passt, könnte diesen Gedanken irritieren. „Es ist egal, ob sie in Sur das Paradies aufbauen, die Leute interessiert das nicht mehr, nach all dem was sie erleben mussten“, so die Bekannte aus der Siedlung. Die erzwungene Normalität ist nur der schlechte Versuch zur Wahrung des Scheins. Hinter den Fassaden brodelt die unterdrückte Gesellschaft.
Im Vorlauf zu den Wahlen gelten andere Gesetze, deshalb lässt sich auch wieder mehr auf der Strasse machen. Aber die grundlegende Spannung, Polarisierung und Repression schlägt sich auch hier nieder. Vor einem HDP-Wahlbüro trinken wir später am Nachmittag einen Tee im Freien, tanzen Halay, unterhalten uns mit den zumeist sehr jungen HDP-Wahlkämpfer*innen. Ein eher schweigender, hin und wieder HDP-Fahnen schwingender Teil von älteren Männern und Frauen sitzt hinter uns. Später erfahren wir, dass sich unter ihnen viele Familien aus Sur befinden. Der Jugendliche, mit dem ich spreche, ist erst vor einem Monat nach 1,5 Jahren Haft entlassen worden.
Er erzählt davon, wie sie tagtäglich von der Polizei schikaniert werden, die versucht, ihr öffentliches Auftreten zu verhindern oder sie gar festzunehmen. „Wir machen aber dennoch weiter, gehen von Haustür zu Haustür. Es weht ein antifaschistischer Wind“, so sein Kommentar. Die Gruppe und wir werden aus der Entfernung von missmutigen Personen – manchmal aus dem Auto gezielt langsam vorbeifahrend, manchmal vorbeilaufend – grimmig beobachtet, oft gefilmt. Wir verabschieden uns höflich, bevor die Polizei unseren Besuch zum Anlass nimmt, die nächste Razzia durchzuführen.
„Mindestens 14 Prozent!“ an Stimmen bei den Wahlen am kommenden Sonntag – das ist nicht zuletzt das, wovon vom ehemaligen Sekretär des Vorsitzenden der Kommunalverwaltung von Sur bis hin zum bewegungsnahen, aber unabhängigen Journalisten alle hier überzeugt sind. Ob aber dieselben Stimmzettel wieder aus den Urnen herausgeholt werden, die eingeworfen wurden, darüber haben alle Zweifel. Der Ausgang des Wahltages ist alles andere als sicher.
Es ist aber so dermassen offensichtlich, dass die Leute am politischen Klima ersticken und nach Luft verlangen, dass sogar die AKP-Wahlwerbungen im Fernsehen in ihrer Ästhetik mit Hoffnung spielen. „Nein, nein, der wird schon gehen“, meint belustigt der HDP-Abgeordnetenkandidat für Diyarbakır Hişyar Özsoy auf die Frage, ob denn Erdoğan nicht einfach das Ergebnis nicht anerkennen wird, falls es zu seinen Ungunsten ausgeht. „Auch im Staat gibt es grösseren Unmut.
Falls er verliert, werden seine Alliierten reihenweise desertieren. Was soll er dann noch tun, ausser eventuell schon in der Nacht seiner Niederlage zu fliehen?“ Nicht zuletzt die heutige HDP-Abschlusskundgebung zeigt eindrucksvoll, welches politisches Potenzial und welche freudenvolle Energie weiterhin im Land vorhanden sind, die bei der nächstbesten Gelegenheit aus den angelegten Fesseln herausbersten wird, sollte der autoritäre Griff auf die Gesellschaft auch nur teilweise gelockert werden oder gar an Kraft abnehmen. Von der Entfesselung dieser Energie wird es abhängen, ob das Land grundlegend umgewälzt wird.