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Türkei droht Bürgerkrieg – Wir schauen weg

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Hinsteuern auf eine Katastrophe Türkei droht Bürgerkrieg – Wir schauen weg

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Politik

Erdogans Regierung will die PKK militärisch besiegen. Der bewaffnete Konflikt könnte sich ausweiten zu einem Bürgerkrieg.

Erdogans Kurden-Politik: «Alle Mitglieder und Verfechter der PKK wie Unkraut ausrotten».
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Erdogans Kurden-Politik: «Alle Mitglieder und Verfechter der PKK wie Unkraut ausrotten». Foto: Kremlin.ru (CC BY 4.0 cropped)

Datum 4. Mai 2016
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Politische Lösungskonzepte für den Kurden-Konflikt in der Türkei gehörten «der Vergangenheit an. Jetzt ist die Zeit der Operationen, des Kriegs». Die Wortwahl, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem Treffen mit Vorsitzenden lokaler Verwaltungen und lokalen Führern in seinem prächtigen Palast Mitte April traf, schloss jeden Versuch nach einer friedlichen Beilegung des bewaffneten Konflikts zwischen türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) unmissverständlich aus: «Die Lösung ist jetzt die Vernichtung dieser Terrororganisation. Nur wenn alle ihrer Mitglieder und Verfechter wie Unkraut aus unseren Territorien ausgerottet sind, werden wir eine Lösung haben.»

In dieselbe Kerbe schlug auch der Vorsitzende der rechtsnationalistischen Oppositionspartei MHP, Devlet Bahceli. «Gib den Bürgern von Nüsaybin und allen anderen umkämpften Ortschaften drei Tage Zeit, um ihre Städte zu verlassen», forderte er kurz zuvor im türkischen Parlament. «Dann lege sie alle in Schutt und Asche und lasse dort niemanden mehr am Leben.»

In türkischen Medien kein Thema

Die Rhetorik der türkischen Politik ist masslos martialisch – und wird von der breiten Öffentlichkeit genauso ignoriert, wie auch der Krieg, der seit letzten Juli im kurdischen Südosten der Türkei wütet und verheerender für die zivile Bevölkerung ist als je zuvor. Städte wie Cizre, Silopi, Nüsaybin, Sirnak und die Alttadt von Diyarbakir Sur wurden mittlerweile ganz oder in grossen Teilen zerstört. Nachrichten darüber finden in der türkischen Presse aber höchstens als Meldungen «unter fernen liefen» Eingang. Wie beispielsweise die Meldung aus dem Städtchen Idil: 1200 zerstörte Gebäude müssten abgerissen werden, hiess es Mitte April kurz. Und: «Von den ehemals 26'500 Einwohnern sind 15'000 wegen der Zerstörungen ohne Bleibe».

Daneben hat die Presse aufgehört, die Opfer zu zählen. Zwar gibt es täglich Meldungen über «gefallene Märtyrer», das sind die Mitglieder der türkischen Sicherheitskräfte, und auch über «Terroristen, die neutralisiert worden sind». Wie viele Tote es auf beiden Seiten genau gibt, weiss aber niemand zu sagen: «Auch wenn von unseren Leuten einer nach dem anderen sterben müsste, jeder Gefallene von uns bringt 10, 20, 30 von ihnen um», erklärte fast mit Genugtuung Präsident Erdogan. Wie das Staatsoberhaupt redete sich auch der Rechtsnationalist Bahceli in Parlament in Rage: Wenn das Sterben der Märtyrer nicht bald aufhöre, werde «die Türkei in einen Bürgerkrieg hineingezogen, der, Gott bewahre, jenem von Syrien ähnlich sein wird».

Der Sprachgebrauch der Sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP ist vorerst vorsichtiger. Die Parteiführung zeigt sich aber bereit, für eine Aufhebung der parlamentarischen Immunität kurdischer Abgeordneten zu stimmen. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) ist die einzige legale pro-kurdische Partei der Türkei und verfügt im Parlament über 59 Sitze. Sollte die Immunität ihrer Abgeordneten aufgehoben werden wie von der Regierung vorgeschlagen, werden die 15 Millionen Kurden der Türkei im Parlament ihres Landes faktisch nicht vertreten sein.

Hinsteuern auf eine Katastrophe

Nun geht die Angst um, dass die Türkei fast unausweichlich in einen Krieg schlittert, der erstmals auch den bislang relativ ruhigen Westen des Landes arg in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Die türkischen Sicherheitskräfte wie auch die PKK bereiten sich jedenfalls vor auf eine Intensivierung ihrer Kämpfe im Frühling, wenn die Schneeschmelze die Pfade im anatolischen Gebirge wieder passierbar macht. Die Türkei wolle die Zahl der seit letzten Dezember im Gebiet stationierten 12'500 Spezialeinheiten der Gendarmerie und der fast 10'000 Spezialeinheiten der Polizei verdoppeln, sagte der ehemalige Militärberater der Regierung, Metin Gürcan. Deutlich aufgestockt werden soll auch die Zahl der professionellen Armeeeinheiten.

Die türkische Führung geht davon aus, dass die Niederlage der PKK unmittelbar bevorsteht. Die PKK habe sich verkalkuliert und und sei sogar in ihren Hochburgen wie in Cizre und Yükselkova besiegt worden, schrieb am 26. April der Regierungsnahe Journalist Abdülkadir Selvi in der auflagestarken Zeitung «Hürriyet»: «Die Moral der zivilen und militärischen Führung unseres Landes, die in einmaliger Harmonie zusammenarbeiten, ist sehr hoch.» Der türkische Präsident Erdogan umschrieb die Stimmung in Ankara folgendermassen: «Für die PKK gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ihre bedingungslose Kapitulation oder ihre totale Eliminierung.»

Eine Illusion? Schon 35 Jahre dauert der offiziell nie erklärte Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat, der den Südosten der Türkei ruiniert, die Bevölkerung der ganzen Türkei traumatisiert und weit über 40'000 Menschen das Leben gekostet hat. Trotzdem geniesst die PKK unter kurdischen Jugendlichen, die ein Leben ohne Ausnahmezustand nie kennengelernt haben, ungebrochene Popularität. An neuen Rekruten mangelt es ihr nicht. Für diesen Frühling will sie zudem Kämpfer aus dem Nordirak in die Türkei einschleusen.

Nach den letzten schweren Verwüstungen im Südosten hat die PKK-Führung schliesslich damit gedroht, den Krieg auch in den Westen der Türkei zu bringen. Von den 15 Millionen Kurden der Türkei leben gegenwärtig rund 5,5 Millionen im Westen des Landes. Viele von ihnen sind die Nachkommen kurdischer Flüchtlinge der 1990er-Jahre. Damals waren im Schatten der Kämpfe Tausende Dörfer zwangsevakuiert oder in Brand gesetzt worden. Diese Flüchtlinge, die seither in türkischen Grossstädten meist ohne Arbeit und oft ohne Perspektive leben, geben der PKK einen starken Rückhalt.

Katzbuckeln vor Erdogan

Die internationale Diplomatie hat lange nicht realisieren wollen, was sich im türkischen Südosten abspielt. EU-Politiker reden sich ein, auf die Türkei angewiesen zu sein, um ihre unbewältigte Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Deshalb vermeiden sie nach Möglichkeit jede kritische Äusserung, um den vermeintlich «starken Mann der Türkei» Erdogan nicht zu kränken.

So haben internationale Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch, detailliert festgehalten, wie im türkischen Südosten fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Doch eine von Angela Merkel geführte hochrangige EU-Delegation, die letztes Wochenende ein Lager für syrische Flüchtlinge in Gaziantep besuchte, erwähnte diese Berichte mit keinem Wort. Dabei liegt Gaziantep nur wenige Kilometer östlich von Cizre. Der Präsident der Europarates Donald Tusk übertraf sich gar mit Lobpreisungen: Gaziantep sei im Bezug auf die Behandlung von Flüchtlingen das «beste Beispiel der Welt», sagte er. Und: «Niemand sollte die Türkei belehren, was sie zu tun hat. Ich bin wirklich stolz, ihr Partner zu sein.»

USA ruft zum Waffenstillstand auf

Die USA sind mit Lobeshymnen zurückhaltender: Auch sie brauchen die Türkei, weil ihre Bomber im Süden der Türkei vom Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus Angriffe gegen die Dschihadisten des Daesh (IS) in Nordsyrien fliegen. Washington hat aber schneller als die EU-Politiker realisiert, welche Gefahr dieser Frühling für die gesamte Region birgt. Aus Sicherheitsgründen wurden bereits Anfang April alle Familienangehörigen der amerikanischen Truppen aus der Türkei nach Deutschland ausgeflogen, sogar aus den bislang als sicher geltenden Städten wie Izmir.

Am 7. April rief der amerikanische Botschafter in Ankara, John Bass, die PKK öffentlich dazu auf, die Waffen niederzulegen und den Dialog mit der Türkei wiederaufzunehmen. Die PKK zeigte sich von einem Waffenstillstand zunächst nicht abgeneigt: «Die USA sollten auch die Türkei dazu bewegen, ihre Angriffe einzustellen», forderte Murat Karayilan, der zweitstärkste Mann der PKK. Noch glaubt sich Ankara aber auf der Seite der Sieger und will von einer Wiederaufnahme der Gespräche nichts wissen. «Gewisse Länder fordern einen gegenseitigen Waffenstillstand», erklärte der türkische Aussenminister Mevlüt Cavutoglu am 25. April türkischen Journalisten sichtbar zornig. «Wie kann man einen Staat mit einer Terrororganisation gleichsetzen? Statt uns Ratschläge für eine Wiederaufnahme der Gespräche zu erteilen, sollten diese Länder uns besser garantieren, dass die PKK bedingungslos ihre Waffen niederlegt.»

Ist es bereits zu spät, um die herannahende Katastrophe abzuwenden?

Amalia van Gent / Infosperber