Die WRI, vertreten durch Aktive aus Schweden, Spanien, Österreich und Deutschland, verband mit der Delegation das Ziel, in der Region Kontakte zu Gruppen aufzunehmen, mit denen perspektivisch eine Zusammenarbeit entwickelt werden kann.
Dabei sieht die WRI die dringende Notwendigkeit, gegen Unterdrückung, Ausgangssperren und Krieg vorzugehen. Auf der anderen Seite führt der bewaffnete Widerstand in eine Gewaltspirale und Militarisierung der Gesellschaft. Es gelte vielmehr, darin waren sich die DelegationsteilnehmerInnen einig, zivilgesellschaftliche Ansätze für einen gewaltfreien Widerstand zu stärken.
Rückblick
Der vielschichtige Konflikt besteht seit Jahrzehnten. Er ist in seiner Dynamik schwer zu erfassen.Klar ist, wie Delegationsteilnehmer Stellan Vinthagen (Schweden, USA), Professor für das Fachgebiet "Konfliktbearbeitung, Ziviler Ungehorsam und Widerstand" zusammenfasst: "Es gibt eine dominante und unterdrückende Seite. Sie nennt es einen ‚Kampf gegen den Terrorismus' und sieht das als Rechtfertigung dafür an, das internationale humanitäre Völkerrecht zu missachten. Auf der anderen Seite gibt es eine schwächere Seite, die ebenfalls Gewalt benutzt." [3]
Das aber erklärt nur einen Teil der Dynamik. In einem Beitrag im Vorfeld der Delegation beschrieben Hülya Üçpinar, Menschenrechtsanwältin und Mitarbeiterin des Forschungs- und Bildungszentrum für Gewaltfreiheit in Istanbul, und Ex-GWR-Redakteur Andreas Speck, Aktivist des Andalusischen Netzwerkes für Antimilitarismus und Gewaltfreiheit in Spanien, wesentliche Hintergründe für den aktuellen Konflikt. [4]
Friedensprozess
Im Winter 2012 begann der türkische Geheimdienst mit dem auf der Insel Imrali inhaftierten Führer der PKK, Abdullah Öcalan, erste Gespräche über einen Friedensprozess zu führen. Im März 2013 verkündete Öcalan eine Waffenruhe und den Rückzug der PKK-Einheiten aus der Türkei. Am 28. Februar 2015 wurde schliesslich das sogenannte Dolmabahçe-Abkommen [5] abgeschlossen, was viele als einen wichtigen Schritt ansahen, um den Krieg zwischen der Türkei und der PKK zu beenden und den Forderungen von KurdInnen entgegenzukommen, die 20% der gesamten Bevölkerung in der Türkei stellen, etwa 15 Millionen. Am 17. Juli 2015 erklärte Präsident Erdogan (AKP) jedoch, dass er "unter keinen Umständen die Vereinbarungen des Dolmabahçe-Abkommens akzeptiere" und dass "ein Abkommen nicht mit denen gemacht werde, die sich auf eine terroristische Organisation (PKK) stützen". [6]Weithin wurde dies als das Ende des Friedensprozesses angesehen. Es stelle sich aber die Frage, so Hülya Üçpinar und Andreas Speck, ob der Friedensprozess und das Dolmabahçe-Abkommen von Seiten der AKP nicht eigentlich nur mit der Absicht verfolgt worden seien, um die Vorherrschaft der AKP in den kurdischen Provinzen und in der Türkei abzusichern. Schliesslich sei der Friedensprozess von umfangreichen Repressionen der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und anderer Oppositioneller begleitet gewesen. Die von der AKP deklarierte Öffnung gegenüber der kurdischen Bevölkerung und der Friedensprozess erscheinen eher als eine Strategie, sich Rückhalt in der kurdischen Bevölkerung zu verschaffen. "Als diese Strategie nicht mehr fruchtete - zum Teil wegen der Entwicklungen an der südlichen Grenze, in Syrien - hatte sie ausgedient und wurde abgebrochen." [7]
Krieg in Syrien
Die Türkei spielt in Syrien eine aktive Rolle, mit dem Ziel, das syrische Regime zu stürzen. Die türkische Regierung unterstützte dazu insbesondere Gruppen mit islamistischen Tendenzen. [8]Im überwiegend von kurdischer Bevölkerung bewohnten Norden von Syrien konnte die Partei der demokratischen Union (PYD), die mit der PKK verbunden ist, in Folge des Bürgerkrieges in Syrien die Kontrolle über einen bedeutsamen Teil der Region an der Grenze zur Türkei übernehmen. Die Region wird in Kurdisch als Rojava bezeichnet. In der Region liegt auch die lange umkämpfte Stadt Kobanê.
Die Türkei sah dies als ernsthafte Bedrohung an, zum einen, weil damit die PKK weiteren Rückzugsraum erhielt, zum anderen, weil damit de facto ein weiterer kurdischer Teilstaat geschaffen wurde. Die Türkei schnitt daraufhin die Versorgung der von den Kurden verwalteten Gebiete in Syrien ab, obwohl diese durch den Islamischen Staat (Daesch/IS) angegriffen wurden. Chris Miller, der für das #Grand Strategy Program an der Yale Universität in den USA forscht, weist darauf hin: "Die Weigerung, den syrischen Kurden gegen den ISIS zu helfen (...) erzürnte die kurdische Bevölkerung in der Türkei, die in grossem Masse die Bemühungen unterstützte, die syrischen Kurden zu verteidigen". [9]
Als im Juni 2015 kurdische Einheiten die Grenzstadt Tel Abyad vom IS übernehmen konnten, reagierte Erdogan verärgert. Er erklärte, dass "wir niemals die Gründung eines Staates im Norden Syriens oder in unserem Süden erlauben werden. Wir werden unserem Kampf in diesem Sinne fortführen, egal, was er kostet. Wir werden kein Auge zudrücken." [10] Er machte damit deutlich, so Üçpinar und Speck, dass er das autonome kurdische Experiment als wesentlich problematischer ansieht als IS-kontrollierte Gebiete an der türkischen Grenze.
Das Ende der Vorherrschaft der AKP
2013 entzündeten sich an einem der zahlreichen Grossprojekte der türkischen Regierung umfangreiche Proteste, die das gesamte Land ergriffen. Die Proteste begannen am 17. Mai im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul. Sie hatten zum Ziel, den Park gegenüber einem der städtischen Entwicklungsprojekte von Erdogan, ein weiteres Einkaufszentrum, in Schutz zu nehmen. Eine durch die Polizei mit Gewalt durchgesetzte Zwangsräumung verursachte in der gesamten Türkei eine Welle von Protesten. Innerhalb von zwei Wochen hatten 3,5 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 78 Millionen) an etwa 5.000 Demonstrationen im Land teilgenommen. [11] Nach Erdem Yörük und Murat Yüksel "nahmen geschätzte 16% der Bevölkerung Istanbuls an den Protesten teil, etwa 1,5 Millionen." [12] Am Ende wurde das Projekt zurückgestellt.Die Protestbewegung hatte zahlreiche Opfer zu beklagen, über 8.000 wurden verwundet, acht Menschen starben. Aber sie hatten eine neue Kultur und Praxis des Zivilen Ungehorsams geschaffen und es war ein Zeichen, dass die Vorherrschaft der AKP in Gefahr geraten könnte.
Eine zweite Herausforderung war die Belagerung der im Norden Syriens gelegenen Stadt Kobanê durch den IS. Wie oben beschrieben, verweigerte die Türkei jede Unterstützung, als die Belagerung durch den IS andauerte und er grosse Teile von Kobanê einnahm. Der Unmut in der kurdischen Bevölkerung über die Rolle der Türkei war immens. Während bis dahin konservative Kurden, die etwa 40% der Wählerschaft im Südosten stellen, für die AKP gestimmt hatten, wechselten nun viele zur HDP, erschrocken von der fehlenden Unterstützung für Kobanê durch die von der AKP regierte Türkei. [13] Auf der anderen Seite unterstützten KämpferInnen der PKK die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die irakischen Peschmerga im Kampf gegen den IS. Sie verteidigten Kobanê, während die türkischen Streitkräfte das nicht taten. Sie konnten damit ihre Legitimität in den kurdischen Gebieten der Türkei steigern. [14]
Die Parlamentswahlen im Juni zeigten schliesslich deutlich, wie sich die Situation für die AKP verändert hatte. Die HDP kam zum ersten Mal über die 10%-Hürde und konnte damit in das türkische Parlament einziehen. Zugleich verlor die AKP ihre absolute Mehrheit.
Türkei: Hegemonialmacht der Region
Mit dem Krieg in Syrien und der damit verbundenen hohen Zahl an Flüchtlingen erhält die Türkei gegenüber den USA und der Europäischen Union eine enorm wichtige Rolle. Beides hat ihre geostrategische Position so sehr gestärkt, dass man heute sagen kann: "Vielleicht brauchen Europäische Union und die USA jetzt die Türkei mehr, als die Türkei sie braucht." [15]Die Türkei ist als Teil der NATO ohnehin ein wichtiger Bündnispartner in der Region. Die USA unterhält im Land mehrere Stützpunkte. Im Zuge des von den USA vorangetriebenen Krieges gegen den IS versuchte die USA, die Türkei als Partner zu gewinnen. Zugleich unterstützte die USA jedoch die kurdischen Einheiten im Norden Iraks mit ihrer Luftwaffe. So reagierte die türkische Regierung zuerst zögerlich, trat dann aber der Koalition gegen den IS formal während eines NATO-Treffens bei. [16] Die Türkei gestattete den USA im Juli 2015 die Nutzung der Luftwaffenbasis Incirlik, führte allerdings die eigene Politik weiter, gegen "separatistische Bestrebungen" in Irak und Syrien und insbesondere gegen die PKK vorzugehen, z.B. durch Luftangriffe auf Stellungen der PKK.
Gegenüber der EU befindet sich die Türkei in einer noch mächtigeren Position, so Üçpinar und Speck. Die Türkei nimmt einen Grossteil der syrischen Flüchtlinge auf, schätzungsweise 2,5 Millionen leben derzeit im Land. Die Türkei ist auch eine der wichtigsten Transitrouten für MigrantInnen aus Syrien, Irak und Afghanistan in Richtung EU. Von den mehr als 1 Million MigrantInnen, die 2015 in die EU kamen, erreichten über 80% Griechenland über die Türkei. [17] Mit dem Abkommen zwischen Europäischer Union und Türkei, das am 20. März 2016 in Kraft trat, versprach die Türkei, die Grenzen für Flüchtlinge zu schliessen. Sie soll im Gegenzug Flüchtlinge zurücknehmen, die dennoch Griechenland erreichen. Die EU hat zudem drei Milliarden Euro für die Türkei zugesagt und weitere Milliarden avisiert, die Beitrittsverhandlungen in die EU sollen fortgesetzt werden und für türkische StaatsbürgerInnen soll es Visafreiheit geben. [18] Die Türkei hatte hier hoch gepokert und fast alle ihre Forderungen durchsetzen können, was zeigt, welch wichtige Rolle sie derzeit hat.
Ein erneuerter kurdischer Nationalismus
Im September 2015 hatten bereits drei an der Delegation beteiligte Personen Gelegenheit, in Istanbul an einem Seminar des Vereins der Kriegsdienstverweigerer teilzunehmen. Das Treffen war stark von dem damals aktuellen Kampf um Kobanê bestimmt. Es gab eine vehemente Auseinandersetzung darüber, wie sich die KriegsdienstverweigerInnen dazu positionieren, ob eine Unterstützung eines gewalttätigen Widerstandes unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sei oder ob dies die Idee der Kriegsdienstverweigerung untergrabe. Letztlich blieb dies offen.Wenn diese Frage aber schon derart wichtig für den Westen der Türkei ist, wie bedeutsam ist sie dann für die kurdische Bevölkerung im Südosten? Cengiz Günes und Robert Lowe kommen in einer ausführlichen Studie zu dem Schluss, dass die Entwicklungen in Rojava "einen neuen kurdisch-nationalistischen Mythos des Heldentums und der Befreiung schufen. Kobane wird - unabhängig von den damit verbundenen Verwüstungen - als bedeutender Sieg fortdauern und hat einen immensen symbolischen Wert für die kurdische Stimmung in der Region." [19]
Der Mythos von Kobane und Rojava begeisterte grosse Teile der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, vor allem die Jugend.
Selbstverwaltung
Am 20. März 2005 wurde durch den in Imrali inhaftierten Abdullah Öcalan eine neue Strategie für den Kampf der PKK ausgegeben, der Demokratische Konföderalismus. Er wurde dabei durch die Schriften von Murray Bookchin inspiriert. Er propagiert darin den Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisierung, ohne die bestehenden Staatsgrenzen anzutasten.Sehr wohl ist damit aber eine eigene, unabhängig von staatlichen Strukturen verfasste Organisation in den vor allem von Kurden bewohnten Gebieten der Türkei beabsichtigt. Die Änderung der Strategie muss genau genommen als eine Ergänzung des bewaffneten Kampfes gesehen werden, der zugleich fortgeführt wurde. Der Demokratische Konföderalismus ist auch das politische Leitkonzept der Region Rojava im Norden Syriens. [20]
Die Idee der Selbstverwaltung, die ja auch zivilgesellschaftliche Strukturen stärken kann, hat eine grosse Dynamik entwickelt. So besuchte die Delegation den Kongress der Demokratischen Gesellschaft (DTK), eine Art aus der Selbstverwaltung heraus gebildetes Bezirkskomitee, das selbstverständlich als Sprachrohr und Quasi-Vertretung der in Diyarbakir lebenden Bevölkerung auftrat. Co-Sprecher Hatip Dicle bezog sich in seinen Ausführungen wiederholt darauf, dass er Mitglied der Delegation ist, die im Namen der HDP mehrfach nach Imrali reiste, um mit Öcalan über das Vorgehen im Friedensprozess zu sprechen.
Im Zuge der Eskalation im letzten Jahr hatten am 10. August 2015 verschiedene Städte die Selbstverwaltung proklamiert: Silopi, Cizre, Stadtteil Baglar in Batman, Stadtteil Sur in Diyarbakir, Lice, Silvan, Varto, Bulanik, Yüksekova, Semdinli, Edremit, Stadtteil Haci Bekir in Van, Stadtteil Gazi in Istanbul sowie Dogubeyazit. Diese Erklärungen wurden oft von praktischen Massnahmen, wie dem Ausheben von Gräben in den Strassen, begleitet. [21] In den folgenden Wochen und Monaten waren es auch diese Städte und Stadtteile, die die volle Wucht der Repressionen traf. [22]
Die Begeisterung für Rojava, gemischt mit einem erneuerten Nationalismus, liess offensichtlich die Hoffnung aufkommen, mit der Selbstverwaltung einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen und in Verbindung mit dem Ausheben von Gräben, dem Bau von Barrikaden und anderen letztlich militärischen Massnahmen auch das Eindringen der türkischen Sicherheitskräfte verhindern zu können. Ein verheerender Irrtum.
Ausgangssperren, Häuserkampf und Enteignung
Wie sieht das nun für die Bevölkerung in dem Gebiet aus? Auf der Delegationsreise hatten wir Gelegenheit, mit vielen Organisationen zu sprechen. Wir sprachen auch mit den Menschen der vom Krieg betroffenen Stadtteile und erhielten so einen plastischeren Eindruck, als dies bei aller Analyse möglich ist.Im Juni 2015, zu den ersten Parlamentswahlen, ahnten schon viele in der Region, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen würde. Präsident Erdogan hatte kurz zuvor den Friedensprozess für nichtig erklärt, das türkische Militär begann, Wachtürme in einigen kurdischen Städten zu bauen. Jugendliche Kämpfer hoben bereits vor den Wahlen erste Gräben in den Städten aus, mit der Erklärung, dies könne das türkische Militär daran hindern, in die Städte einzudringen. Organisationen der Zivilgesellschaft konnten an dieser Stelle noch eingreifen und die Eskalation zurückschrauben, aber nach den Wahlen war dies nicht mehr möglich.
Die erste von der türkischen Regierung ausgerufene Ausgangssperre wurde am 16. August 2015 über Vartu (Mus) verhängt. [23] Seitdem gab es über 65 offiziell verkündete, unbefristete und Rund-um-die Uhr andauernde Ausgangssperren. [24]
Es ist wichtig zu verstehen, wie diese umgesetzt werden und welche Konsequenzen sie haben. Der jeweilige Gouverneur, also ein Vertreter der türkischen Regierung, der dem Innenministerium unterstellt ist, erklärt die jeweilige Ausgangssperre kurzfristig über bestimmte Stadtteile in vor allem von Kurden bewohnten Städten. Sie gilt in der Regel Rund-um-die-Uhr und unbefristet, zum Teil über Monate. Die dort lebende Bevölkerung muss also innerhalb kürzester Zeit ihre Wohnungen verlassen, um nicht in das Kampfgeschehen mit hineingezogen zu werden. Das bedeutete auch, dass die Bevölkerung Hab und Gut zurücklassen muss.
Dabei steht die Bevölkerung unter dem Druck beider am Konflikt beteiligten Seiten. Eine Aktivistin aus Sirnak berichtete uns: "Vor sechs Monaten hatten Jugendliche in Sirnak begonnen, Gräben zu ziehen. Das wurde auch von der Bevölkerung unterstützt. Aber niemand erwartete, was später geschah. Die Gräben hatten zur Folge, dass die Bevölkerung ihre Häuser nicht mehr erreichen bzw. verlassen konnte. Sie konnte also nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten. So fiel das vorgebliche Ziel der Kämpfer, die Bevölkerung zu schützen, auf die Bevölkerung zurück. Sie wollten die Bevölkerung daran hindern, die Gebiete zu verlassen. Und sie hinderten die Menschen auch daran, ihre Sachen mitzunehmen. Sie warfen uns vor: ‚Wir kämpfen für Euch und ihr geht!' Als die Ausgangssperre verhängt wurde, standen die Menschen zwischen den WiderstandskämpferInnen auf der einen und den türkischen Sicherheitskräften auf der anderen Seite. Und niemand wusste, was wirklich geschehen wird." [25]
Danach wurden die Stadtteile von türkischen Sicherheitskräften abgeriegelt. Niemand weiss wirklich, was in den Gebieten geschah und geschieht. Zahlreich sind die Berichte, bei denen Kinder, Frauen, ältere Personen, Krankenpfleger und -helfer in den Gebieten von den Sicherheitskräften und Scharfschützen angegriffen und ermordet wurden. [26] Es war ein Häuserkampf, der keinen Unterschied mehr zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, KämpferInnen und Zivilpersonen, machte. Ganze Strassenzüge wurden zerstört. Die Sicherheitskräfte gaben die Gebiete erst dann wieder frei, wie in Cizre, als dieser Kampf beendet war.
Am 28. April 2016 besuchte die Delegation die an der syrischen Grenze gelegene Stadt Cizre, in der über drei Monate lang drei Stadtteile unter Ausgangssperren lagen. Wir konnten am Nachmittag auch kurz den betroffenen Stadtteil Cudi besuchen und mit AnwohnerInnen sprechen. Die Spuren der Kämpfe waren noch deutlich zu erkennen, einige Häuser wurden bereits wieder instand gesetzt, an anderen Stellen wurden ganze Wohnblöcke abgerissen. Einige BewohnerInnen sind zurückgekehrt und berichteten uns, dass sie ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben und nun in halb-zerstörten Häusern leben müssen.
Kaum waren wir eine Viertelstunde unterwegs, wurden wir von drei gepanzerten Fahrzeugen mit etwa 20 schwer bewaffneten Sicherheitskräften in zivil umstellt. Sie kontrollierten unsere Papiere, gaben uns zu verstehen, dass wir auf keinen Fall in den am stärksten zerstörten Teil des Viertels gehen dürften, liessen uns gehen, fuhren jedoch 50 Meter hinter uns her, damit wir nicht gegen die Anordnung verstossen. Es war eine Machtdemonstration, die zeigte, unter welcher Kontrolle die Bevölkerung steht.
So wirkt Cizre wie eine belagerte Stadt. Strassenkontrollen an den Eingangsstrassen zeigen das an. Noch deutlicher wird dies an einem Bild der direkt nebeneinander gelegenen Gebäude der Bürgermeister und des Gouverneurs. Während das einige Jahrzehnte alte Rathaus offen zugänglich ist, ist das modernere Gebäude des Gouverneurs ein paar Stockwerke grösser und wird mit extremer Bewaffnung geschützt. NATO-Draht und Kameras schirmen das Gebäude ab, unterstützt von zahllosen Sicherheitskräften. Auf dem Dach sind Scharfschützen postiert.
Die Planierung ganzer Häuserzeilen hat ihre Ursache jedoch nicht allein in den schweren Kämpfen in den Stadtteilen. Die türkische Regierung nutzt einen Passus im Enteignungsgesetz, um innerhalb kürzester Frist ganze Stadtteile zu enteignen. In dringlichen Fällen, so das Gesetz, kann eine vom Ministerrat der Regierung eingesetzte Kommission den jeweiligen Grundstückswert schätzen, ein Drittel des Betrages muss auf ein Anderkonto zu Gunsten des Eigentümers eingezahlt werden und nach sieben Tagen gilt das Grundstück und Eigentum als enteignet. Es gibt zwar eine Regelung, die eine Klage vorsieht, die Enteignung kann jedoch nicht durch einen Eilbeschluss oder dergleichen aufgehoben werden. Mit dieser Regelung sorgt die türkische Regierung dafür, dass ganze Stadtteile in ihren Besitz gelangen und so in kürzester Zeit eine Zerstörung der gesamten Infrastruktur erfolgen kann.
Letztlich stellt das eine staatliche Aneignung der Innenstädte und eine Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung dar. Dieser wird praktisch eine Kollektivschuld angelastet, unter dem Vorwand, den Terrorismus der PKK und anderer bewaffneter Gruppen zu bekämpfen.
Vertreibung und Solidarität
400.000 ZivilistInnen mussten bislang aus ihren Häusern und Wohnungen fliehen.Nur wenige konnten angesichts der zerstörten Gebäude, weiterhin bestehenden Ausgangssperren und Enteignungen zurückkehren. Geschäftsleute in den inzwischen wieder zugänglichen Haupteinkaufsstrassen in der Altstadt von Sur in Diyarbakir sprechen davon, dass es kaum Kundschaft gibt und sie zudem aus der Zeitung erfahren hätten, dass ihre Geschäfte enteignet worden seien. [27] Wie gehen Bevölkerung, und Zivilgesellschaft damit um?
Eindrücklich war hier der Besuch des Rojava Hilfs- und Solidaritätsvereins. Er wurde vor zwei Jahren gegründet, als der Krieg in der nördlichen Region von Syrien begann und Flüchtlinge in die Türkei kamen.
Der Verein führte bei unserem Besuch aus, dass allein 100.000 während der Kämpfe um Kobane kamen. [28]
Er half den Flüchtlingen, indem er versuchte, eigene sogenannte Soziale Felder aufzubauen, in klarer Abgrenzung zu den offiziellen Flüchtlingscamps und in praktischer Anwendung des Demokratischen Konföderalismus. Das Ziel des Vereins sei es, die Selbstverwaltung der Flüchtlinge zu fördern und mit den von den Flüchtlingen selbst gebildeten Komitees zu arbeiten. Der Verein sorgt dann für Hilfslieferungen und Koordination. Ihnen sei es auch gelungen, 2.000 Lastwagenladungen mit Hilfslieferungen nach Rojava zu bringen, was später von der türkischen Regierung als ihre Hilfe proklamiert wurde.
Für die aktuell von den Ausgangssperren betroffenen Menschen im Südosten der Türkei startete der Verein eine Kampagne unter dem Namen "Öffnet Eure Herzen und Türen". Ihm sei es damit gelungen, dass die allermeisten entweder bei eigenen oder befreundeten Familien unterkommen konnten oder von anderen Familien in benachbarten Städten aufgenommen wurden. Die Absicht dabei sei, einen ähnlichen Exodus wie in den 1990er Jahren zu vermeiden, als 4,5 Millionen KurdInnen wegen des Krieges aus der Region in den Westen der Türkei oder nach Europa fliehen und sich dort assimilieren mussten. Heute gingen sie in den nahegelegensten Stadtteil und könnten somit in der Region bleiben. Beeindruckend dabei ist, wie viele damit aufgefangen werden konnten. Sie nannten einige Zahlen: 5.500 Familien aus Diyarbakir, in etwa 30.000 Personen; 110.000 Personen aus Cizre, 98.000 aus Silopi.
Es zeigt aber auch ein deutlich vergrössertes Selbstbewusstsein der kurdischen Identität, die sich in der gegenseitigen Solidarität und in den autonomen Strukturen bestärkt.
Resümee
"All diese unterschiedlichen Entwicklungen können nicht getrennt von den Ambitionen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und vor allem von Erdogan zum Machterhalt und zur Vorherrschaft in der Türkei gesehen werden", so Hülya Üçpinar und Andreas Speck. [29]Erdogan hatte entschieden, den Posten als Premierminister aufzugeben und wurde 2014 erster direkt gewählter Präsident, der nach der aktuellen Verfassung allerdings nur eine symbolische Rolle hat.
Dies verband er jedoch mit der Absicht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die dem Präsidenten weit mehr Befugnisse geben würde, ähnlich dem Präsidialsystem in Frankreich oder den USA. Mit dem Einzug der HDP ins Parlament und der schwindenden Zustimmung für die AKP drohte dies zu scheitern. Daraufhin setzte Präsident Erdogan auf Konfrontation.
"Der gegenwärtige Krieg in den kurdischen Regionen der Türkei und die zunehmende willkürliche und brutale Unterdrückung jedweder oppositioneller Stimmen in der Türkei, wie die Repressionen gegen die mehr als 1.000 AkademikerInnen, die eine Erklärung gegen das Vorgehen in den kurdischen Regionen der Türkei unterzeichnet hatten, kann als verzweifelter (und mit Gewalt durchgesetzter) Versuch gesehen werden, das zu erreichen, was anders nicht zu erreichen ist", so Hülya Üçpinar und Andreas Speck. "Erdogan und die AKP sind angeschlagen und verzweifelt. Sie haben keinen Plan B. Das macht es noch gefährlicher, weil sie alles daran setzen werden, den Plan A umzusetzen."
Aber auch die Strategie der kurdischen Milizen in der Türkei ist gescheitert. Nichts ist von dem Versuch geblieben, die türkischen Sicherheitskräfte am Eindringen in die Städte zu hindern. Ganz im Gegenteil, die Innenstädte sind zerstört und werden nun auch noch zwangsweise enteignet, die Bevölkerung faktisch vertrieben. Der Vizechef der PKK, Cemil Bayik, sprach von einem ‚Recht auf Vergeltung' und drohte der Türkei damit, den Krieg in die Städte zu tragen. [30]
Die Eskalation auf kurdischer Seite spielt der Propagandamaschine von Erdogan in die Hände, weil sie den Krieg und die Repressionen legitimiert.
Die EU und die USA schauen hingegen weg. Geostrategische Interessen und die Abwehr von Flüchtlingen stehen an erster Stelle, nicht aber eine Kritik an einer menschenrechtswidrigen Politik, Unterdrückung von Medien und Opposition, dem Krieg und Vertreibung im Südosten oder auch den immer wiederkehrenden Ausfällen des türkischen Präsidenten Erdogan.
"Europa hat uns vergessen", das ist ein bitteres Resümee, das die Delegation immer wieder zu hören bekam. "Wir dachten, Europa stände für Menschenrechte und Frieden. Aber im Gegensatz zum Krieg in der Türkei in den 90er Jahren kümmert sich heute niemand darum, was bei uns geschieht." [31]
Dennoch zeigen sich viele zivilgesellschaftliche Ansätze. Nun wird es darum gehen, Kontakte aufzunehmen, weiterzuführen und dabei die Kräfte für einen gewaltfreien Widerstand zu stärken. Hoffen wir, dass es gelingt.