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Ukraine: Ausweitung der Kampfzone

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Ein umgekehrter Wirtschaftskrieg Ukraine: Ausweitung der Kampfzone

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Politik

Russland ist bei seinem Abnutzungskrieg bestrebt, der Ukraine mittels einer militärischen Eskalationsstrategie bald das Rückgrat zu brechen.

Panzer der ukrainischen Armee im Osten des Landes, 24. Oktober 2022.
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Panzer der ukrainischen Armee im Osten des Landes, 24. Oktober 2022. Foto: Mil.gov.ua (CC-BY 4.0 cropped)

Datum 20. Mai 2024
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Inzwischen sprechen es auch ukrainische Stellen offen aus.1 Die militärische Lage der Ukraine ist verzweifelt. Spätestens mit der Eröffnung der neuen Front im Oblast Charkiw scheint die ukrainische Armee kaum noch in der Lage zu sein, dem wachsenden militärischen Druck der russischen Invasionskräfte standhalten zu können. Schon von dem 10. Mai, bevor die ersten russischen Vorauseinheiten die ukrainische Grenze nördlich von Charkiw überschritten, befanden sich die ukrainischen Kräfte in der Ostukraine im Rückwärtsgang.

Russlands Armee konnte nach der Eroberung der zur Festung ausgebauten Kleinstadt Awdijiwka (einem Vorort von Donezk) das Tempo des Vormarsches steigern, da die folgenden Verteidigungslinien der Ukraine bei weitem nicht so gut ausgebaut sind wie diejenigen, die in jahrelanger Arbeit zwischen 2014 und 2022 im Osten errichtet worden sind. Erste lokale Durchbrüche russischer Truppen westlich von Donezk konnten Ende April nur mühsam unter hohen Verlusten durch erschöpfte ukrainische Eliteeinheiten eingedämmt werden.2

Vor dem Hintergrund dieser angespannten Lage im Donbass und Saporischschja erfolgte der russische Angriff im Norden. Um das Vorrücken der russischen Truppen nördlich von Charkiw zu stoppen, musste Kiew die knappen Reserven an die Front werfen und die Reihen im Osten (Donbass, Lugansk, Cherson) durch Verlegungen weiter ausdünnen. Dem Kreml stehen nun sehr viele Optionen offen: Bislang setzt die russische Arme nur einen kleinen Teil der in der Region Belgorod an der nordöstlichen Grenze der Ukraine zusammengezogenen Einheiten ein (Mitte Mai 50 000 bis 70 000 Mann); es wird über eine weitere Ausweitung der Kampfzone in dem unter zunehmenden Artilleriebeschuss leidenden Oblast Sumy spekuliert.

Zudem könnte Charkiw als Ablenkung benutzt werden, um die russischen Kräfte im Donbass oder Saporischschja zu verstärken und dort zu einer Grossoffensive überzugehen. Kiew hat kaum noch Optionen und Reserven, um auf eine weitere militärische Eskalation Russlands adäquat reagieren zu können.

Russland wählte den optimalen Zeitpunkt für den Angriff vor Charkiw. Die Schlammperiode, die Angriffe auf das Strassennetz begrenzt, ist vorüber, während die westlichen Waffenlieferungen – die Washington nach langen Auseinandersetzungen im April freigab3 – noch nicht an der Front wirksam werden können. Zudem sind fehlende Munition und Waffensysteme nur ein sekundäres Problem. Entscheidend ist das zur Neige gehende Menschenmaterial in dem brutalen und stupiden Abnutzungskrieg, zu dem die Militärmaschine des Kremls die Ukraine nötigen konnte. Die Verluste bewegen sich bereits im sechsstelligen Bereich. Es handelt sich faktisch um eine Aneinanderreihung von statisch anmutenden Abnutzungsschlachten (Bachmut, Awdijiwka), von „Fleischwölfen“, wie es im Frontjargon heisst, bei denen Zeit mit Menschenleibern erkauft wird, die in den Frontbefestigungen zerschossen werden.

Russland ist bei dieser Art der Kriegsführung – die einem industriell betriebenen Vernichtungsprozess ähnelt – haushoch überlegen, da der Kreml auf weitaus grössere Reserven zurückgreifen kann. Putins Rechnung, der auf einen Abnutzungskrieg setzt, geht auf (siehe: Putins Rechnung geht auf).4 Es geht nicht nur um die Überlegenheit bei Panzern, Artillerie und Munition, oder um die zunehmende russischen Lufthoheit, bei der billige Gleitbomben effizient Verteidigungsanlagen vernichten.

Es geht vor allem um Menschenmaterial. Russland stehen Hunderttausende frischer Truppen zur Verfügung, um die Ukraine – die kaum rechtzeitig Reserven mobilisieren kann – in diesem Sommer mit einem Grossangriff zu überziehen.5 Charkiw ist nur der Anfang. Das ukrainische Wunder bestand eigentlich darin, dass Russland 2022 es nicht vermochte, die Ukraine binnen kürzester Zeit militärisch niederzuwerfen, wie von den meisten Militäranalysten erwartet – so gross sind die Unterschiede im Potenzial beider Kriegsparteien. Die korruptionszerfressene russische Staatsoligarchie muss nur einen Teil dieses Potenzials abrufen, um militärisch siegen zu können.

Das Einzige, was Kiew jetzt noch retten könnte, wäre eine direkte, umfassende militärische Intervention des Westens, der Nato (siehe Eskalation oder Kapitulation?).6 Und dies wird es aller Voraussicht nach nicht geben, da diese Eskalationsspirale aller Wahrscheinlichkeit nach in einen Atomkrieg führen würde. Anfang Mai bestellte das russische Aussenministerium die Botschafter Frankreichs und Grossbritanniens ein, um sie – offenbar im Vorfeld der aktuellen Offensive – vor weiteren Eskalationsschritten und Provokationen zu warnen.7 Zuvor haben europäische Politiker, insbesondere Frankreichs Präsident Macron, verschiedene Szenarien einer Intervention europäischer Truppen in der Ukraine öffentlich ventiliert, um in Moskau möglichst grosse Unsicherheit zu stiften.

Überdies kündigte der Kreml Anfang Mai Militärmanöver an, bei denen der Einsatz taktischer Nuklearwaffen geübt werden soll. Tatsächlich bildet diese Waffengattung, die mittels Kurzstreckenraketen oder Artilleriesystemen verschossen wird, den wahrscheinlichsten ersten Eskalationsschritt auf dem Weg in den totalen nuklearen Schlagabtausch. Hierdurch können ganze Armeegruppen in Frontnähe vernichtet werden, wobei die niedrigere Sprengkraft dieser „taktischen“ Atomsprengköpfe die Hemmschwelle beim Einsatz – etwa wenn russische Truppen von der Nato zurückgedrängt werden sollten – schnell absinken lassen dürfte. Die korruptionszerfressene Armee Russlands hätte kaum Chancen, Nato-Truppen im konventionellen Krieg zu besiegen. Was den Einsatz von taktischen Atomwaffen wahrscheinlich machen würde. Das Gleiche gilt aber auch für eine Nato-Armee, die sich russischen Nuklearschlägen ausgesetzt sieht.

Derzeit scheint sich Moskau sicher zu sein, dass es – abgesehen von der informellen, begrenzten Präsenz von Special Forces, Ausbildern, etc. – keine substanzielle militärische Intervention des Westens in der Ukraine geben wird. Wie sicher fühlt sich der Kreml inzwischen? Nun, Putin war bereit, seinen Verteidigungsminister auszuwechseln.8 Die Auswechslung des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, einem der engsten Verbündeten Putins, erfolgt nicht deswegen, weil Russlands Militärmaschine vor dem Zusammenbruch stünde, sondern weil diese gerade die Oberhand hat.

Schoigu gilt als korrupt und er ist sehr unbeliebt in den Streitkräften, ihm wurde ein Grossteil der Schuld für das Desaster der russischen Armee in der Ukraine zugesprochen (Putin steht in der russischen Machtvertikale ausserhalb jedweder Kritik, auch wenn die Katastrophe des Ukraine-Kriegs offensichtlich auf sein Konto geht). Die Auseinandersetzung zwischen dem Kreml und der Wagner-Söldnertuppe – der einzige Moment im Krieg, bei dem ein Kollaps der Machtvertikale des Kremls möglich schien – entzündete sich gerade an der Person des russischen Verteidigungsministers, den Wagner-Führer Jewgeni Prigoschin mehrmals öffentlich heftig angriff.

Gerade weil Schoigu zum innersten Machtzirkel Putins gehört, konnte der Verteidigungsminister nicht einfach abgesetzt werden. Macht akkumuliert sich in der russischen Staatsoligarchie nicht in Institutionen, sondern in Personen, die in Seilschaften, in Rackets eingebunden sind, bei denen unbedingte Treue und Gefolgschaft überlebensnotwendig sind.9 Schoigu kann noch so stümperhaft agieren und noch so korrupt sein – er ist „loyal“ zu Putin, und der Kreml-Chef kann ihn nicht einfach feuern, ohne die Stabilität seines Rackets, der vom Kreml ausgehenden Machtvertikale zu gefährden (Schon gar nicht aufgrund äusseren Drucks durch dahergelaufene Wagner-Söldner, die nicht zum engsten Kreis um Putin gehören).

Erst jetzt, nachdem die militärische und innenpolitische Lage sich stabilisiert hat, kann Schoigu nicht ab-, sondern versetzt werden. Der ehemalige Verteidigungsminister fällt nämlich sehr weich: er wird dem Nationalen Sicherheitsrat vorstehen.

Der neue Mann im Verteidigungsministerium, der weitgehend unbefleckte Ökonom Andrej Beloussow, scheint indes den Schluss nahezulegen, dass der Kreml bei der Invasion der Ukraine die bisherige Taktik des Abnutzungskrieges fortführen und intensivieren wird. Es ist gewissermassen ein umgekehrter Wirtschaftskrieg, bei dem die reanimierten Produktionskapazitäten des russischen Militärisch-Industriellen-Komplexes (MIK) genutzt werden, um die Infrastruktur und das Produktionspotenzial der Ukraine zu zerstören. Beloussow scheint damit auch als Vertreter jener Technokratenschicht aufzusteigen, die es nach Kriegsausbruch vermochte, Russland trotz harscher westlicher Sanktionen ökonomisch zu stabilisieren und dessen Militärindustrie hochzufahren.

Der neue Verteidigungsminister dürfte die bereits eingeleitete Umstellung der russischen Volkswirtschaft auf eine kriegsökonomische Basis fortführen und perfektionieren. Mehr Panzer, mehr Kanonen, und – vor allem – mehr Soldaten (Russlands Armee soll 30 000 Man pro Monat rekrutieren). Beloussow, ein als Falke geltender Technokrat, der die Annexion der Krim befürwortete, soll mittels „innovativer“ Methoden die Modernisierung und Anpassungsfähigkeit der russischen Militärmaschinerie vorantreiben, so Kremlsprecher Peskow.10

Russlands Armee hat sich aber – zumindest bislang – als unfähig erweisen, grosse Offensiven unter kombinierter Kriegsführung entwickeln zu können. Folglich wird der Kreml weiterhin darauf abzielen, das ukrainische Widerstandspotenzial langsam zu zerreiben, bis die Zeit reif scheint für den Grossangriff, der eventuell schon im Sommer erfolgen könnte.

Tomasz Konicz