Russische Medien sprechen von etlichen eingenommenen Dörfern und einen Vorstoss auf die Stadt Orichiw, die eine strategische Rolle spielt.2 Orichiw sei demnach ein zentraler regionaler Verkehrsknotenpunkt, der russische Angriffe in Richtung der Grossstadt Saporischschja erleichtern könnte. Eine erfolgreiche russische Offensive entlang des Ostufers des Dnjepr würde die ukrainischen Armee im Donbass von ihren Versorgungslinien abschneiden. Die ukrainischen Verteidigungslinien in Saporischschja sollen an etlichen Stellen durchbrochen worden sein, was mit den blutigen Kämpfen um die ostukrainische Stadt Bachmut in Zusammenhang stehen dürfte.
Um Bachmut zu halten, hat die ukrainische Armeeführung Truppen aus etlichen Frontabschnitten abgezogen – und so die ukrainischen Verteidigungspositionen vielerorts zwangsläufig geschwächt. Vor Kurzem sind Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes (BND) zur militärischen Lage im Osten durchgesickert, laut denen sich die ukrainische Armee inzwischen in einer schwierigen Lage befindet.3 Demnach verliert die Ukraine allein in Bachmut, das längst symbolisch aufgeladen ist, täglich eine „dreistellige Zahl an Soldaten“. Überdies drohten bei einem Verlust der Stadt „weitere Vorstösse ins Landesinnere“ der russischen Truppen, da die gesamte ukrainische Verteidigungslinie aufgegeben werden müsste (siehe hierzu auch „Kiews verpasste Chance?“)4.
Mörderischer Wettlauf
Die Angriffe der russischen Söldner-Truppen um Bachmut gehen derweil mit unverminderter Intensität weiter. Die ukrainische Armee muss nun entscheiden, wie sie ihre verbliebenen Reserven einsetzen wird: im Donbass, um weiterhin Bachmut zu halten und einen Rückzug auf eine neue Verteidigungslinie bei Slowjansk/Kramatorsk weiter zu verzögern, oder in Saporischschja, um den russischen Vormarsch in Richtung Norden aufzuhalten. Zudem verfügt Moskau weiterhin über hohe Reserven, die noch in die Schlacht geworfen werden können. Mehrere hunderttausend Mann, die bislang noch nicht in die Kämpfe eingegriffen hätten, stünden demnach dem Kreml für weitere Angriffe zur Verfügung. Ukrainische Stellen sprachen gegenüber US-Medien von rund 200 000 Mann.5 Andere Schätzungen, die den derzeit einberufenen Jahrgang von Wehrpflichtigen im Fall einer allgemeinen Mobilmachung durch den Kreml berücksichtigen, kommen auf mehr als 500 000 Mann.Die plötzlichen Angriffe des russischen Militärs in der strategisch entscheidenden Region Saporischschja – wo Russland zu Beginn der Invasion eine Landbrücke zwischen Donbass und der Krim erobern konnte, scheinen im Zusammenhang mit den jüngst beschlossenen westlichen Waffenlieferungen zu stehen, die mitunter sehr wirkungsvolle Systeme beinhalten.6 Zwar blockierte Berlin die Lieferung deutscher Panzer, doch wird Kiews bald weitreichende Artilleriesysteme (GLSDB) erhalten,7 die den russischen Nachschub und die Kommandosysteme effektiv stören können. Der Kreml will offensichtlich nun seinen imperialistischen Eroberungszug intensivieren, solange die neuen Waffensysteme noch nicht auf dem Schlachtfeld zum Einsatz kommen, was aufgrund der schwierigen Lieferung und notwendigen Ausbildungszeit mitunter Wochen, wenn nicht Monate dauern kann.
Es ist faktisch ein mörderischer Wettlauf zwischen westlichen Waffenlieferungen und russischen Vormarschbemühungen, bei dem der Kreml die ohnehin geplante Offensive gerade in der Region zu entfachen scheint, in der Russland am verwundbarsten ist. Die Region Saporischschja wäre auch ein wichtiges Ziel für eine ukrainische Gegenoffensive, bei der die Landbrücke zwischen Donbass und der Krim zurückerobert würde, was eine Vorbedingung jeglicher Offensivbemühungen gegen die Krim wäre.
Russland hat die Krim schon 2014 okkupiert und später auch formell annektiert. Mitte Januar liessen US-Medien aber durchblicken, dass die Vereinigten Staaten künftig der Ukraine auch dabei helfen wollen, die Krim direkt anzugreifen – die Moskau längst als russisches Territorium betrachtet.8 Bislang weigerte sich Washington, Kiew entsprechende Waffensysteme zu liefern. Moskau schient gerade durch diese Überlegungen getriggert worden zu sein, um in einer – eventuell verfrühten? – Offensive in Saporischschja diese ukrainische Offensivoption zunichtezumachen.