»Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« »Krieg dem Kriege!«
Politik
Auf der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer nationalen Sicherheitsstrategie hielt die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock im März 2020 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit.
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14. April 2022
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Korrektur
Wessen Freiheit soll verteidigt werden, im Zweifel auch mit dem eigenen Leben? Die Freiheit der Menschen auf der Krim sich der russischen Nation anzuschliessen? Die Freiheit der Menschen im Donbass selbstbestimmte Republiken zu gründen? Die Freiheit der ukrainischen Männer sich die Freiheit zu nehmen, das Land zu verlassen, um nicht bei der Verteidigung der Freiheit »ihrer« Nation zu sterben?
Dass es bei der kriegerischen Sicherung von Frieden und Freiheit nicht um banale Dinge wie Haus, Einkommen, Familie oder das eigene Leben gehen kann, ist angesichts des Vernichtungspotentials modernster Waffentechnik durchaus jedem bewusst. Es geht um höhere Werte, für die getötet und gestorben wird. Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 2009 erklärte Barack Obama in diesem Sinne:
»Die Instrumente des Krieges müssen bei der Sicherung des Friedens eine Rolle spielen. … Frieden ist ein hohler Kompromiss, wenn die Menschenrechte nicht geschützt werden.« [2]
Die Menschenrechte sollen verteidigt werden, auch wenn wir dafür sterben müssen? Aber sind Verstösse gegen die verschiedenen Artikel der Menschenrechtserklärung wirklich der Grund für die Kriegsführung? Zum Beispiel Artikel 5: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.« War dies der Grund für den Irakkrieg und die Folter der Kriegsgefangenen? Oder Artikel 15: »Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit.« War dies der Grund für den Abwurf von Splitter- und Phosphorbomben bei der Operation »Gegossenes Blei« im Gazastreifen?
Die »Menschenrechte« sind lediglich der schöne Titel für die Bereitschaft zum Krieg aber keineswegs der Grund für die Kriegsführung. Der höhere Wert, den es zu »verteidigen« gilt, dessen Geltung und Anerkennung Krieg für Nationen rechtfertigt, ist nichts anderes als die Souveränität der Nation selbst: die Freiheit, ihre Interessen anderen Nationen gegenüber zu definieren, geltend zu machen und zu sichern.
Die Souveränität, über die die Nationen nach innen im Rahmen ihres Gewaltmonopols ordnungs-und sicherheitspolitisch verfügen, endet an den Grenzen des Territoriums, über das sie regieren. Ihr eigener Anspruch auf eine durch nichts bestrittene, souveräne Machtausübung trifft an ihrer Grenze auf eine andere souveräne Gewalt, die ebenfalls ihr Monopol auf die Kontrolle ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung beansprucht. Die Frage, warum sich der eigene Herrschaftsbereich nicht fünf Kilometer weiter östlich oder zehn Kilometer weiter südlich erstreckt, beantwortet sich schlicht durch die Existenz anderer Nationen. Die sich gegenüberstehenden, jeweils auf exklusiven herrschaftlichen Zugriff erpichten Nationalstaaten sichern ihren eigenen Hoheitsanspruch, indem sie jeweils den anderen nationalen herrschaftlichen Zugriffswillen zurückweisen, sich also gegen jeden fremden Hoheitsanspruch zur Wehr setzen.
Die nationale Souveränität ist daher nicht nur eine Frage ihres Gewaltmonopols nach innen, sondern ebenso eine Frage, inwieweit eine Nation dieses Gewaltmonopol auch nach aussen sicherstellen kann. Nationen stehen prinzipiell negativ zu allen anderen Nationen. Ihrer Natur nach ist dieser Gegensatz zwischen Nationen unversöhnlich, da ihr eigener Anspruch einer durch nichts bestrittenen, souveränen Machtausübung einfach dadurch in Frage gestellt wird, dass es den gleichen Anspruch einer durch nichts bestrittenen, souveränen Machtausübung in der Existenz anderer Nationen gibt.
Nationen, die weltweit Frieden und Stabilität garantieren wollen, schwingen sich zu Sachverwaltern des »internationalen Rechts« auf, in dessen Namen sie die restliche Welt dahingehend beaufsichtigen wollen, dass ein Weltfrieden militärisch durchgesetzt wird, der nach ihrem Bilde, d.h. in Sinne ihrer nationalen Interessen, das Erlaubte und Verbotene in der Konkurrenz der Staaten um die Reichtümer der Welt festlegt. Nationen, die mit dem Anspruch antreten, der ganzen Staatenwelt ihre politischen Bedingungen nach ihrem freien Ermessen diktieren zu wollen, denen müssen alle möglichen staatlichen Eigeninteressen als gefährliche Störung der verwalteten Ordnung erscheinen, gegen die es sich zu verteidigen gilt.
Für die Sicherung »unserer« Rohstoffe, die Verteidigung »unserer« Absatzmärkte, den Zugang zu »unseren« weltweiten Handelsstrassen und nicht zuletzt die Freiheit Produktionsmittel zu privatisieren muss nicht immer gleich geschossen werden. Die Bereitschaft und das Vermögen, notfalls die Respektierung der Interessen der Nation auch kriegerisch zu »verteidigen«, ist allerdings in Anbetracht der gegensätzlichen Interessen und der Resultate der freien marktwirtschaftlichen Konkurrenz zwingend erforderlich. »Wir brauchen eine Stärkung der NATO. Sie darf nicht zum blossen Reservebündnis werden. Sie muss der Ort sicherheitspolitischer Entscheidungen und militärischer Aktionen sein«, [3] wusste Angela Merkel, schon lange bevor Kanzler Scholz im Februar 2022 die „sicherheitspolitische Wende“ beschloss.
Wenn Nationen weltweite Sicherheitspolitik praktizieren und einen erheblichen Teil ihres Reichtums für die hierfür erforderlichen Instrumente des Krieges verwenden, dann ist der Krieg das notwendige Mittel ihrer Freiheit, diese Sorte von Frieden zu sichern. Im Frieden rüsten sich daher alle Nationen für den Verteidigungsfall. Egal von welcher Seite der Staatsgrenze man die Sache betrachtet, die Frage – Krieg oder Frieden? – entspringt der kapitalistischen Konkurrenz der Nationen um die Reichtümer der Welt. Die Absicherung der Konkurrenzerfolge auf dem Weltmarkt erfordert die entsprechende Konkurrenz der Nationen um überlegene Gewalt.
Wenn daher die führenden Nationalstaaten ihren Frieden weltweit ununterbrochen sichern müssen, hat das seinen Grund darin, dass ihre Handelspartner selbst viele Gründe haben, sich gegen die Zumutungen dieses Friedens, gegen seinen Inhalt eben, ständig zur Wehr zu setzen. Nicht erpressbar sein zu wollen, ist dabei gleichbedeutend mit dem Willen, der anderen Nation die Fähigkeit zur Drohung zu nehmen. Wenn auf dieser Grundlage beide Seiten den Verteidigungsfall erklären, herrscht Krieg. Dann wird »zurückgeschossen«. Dann kämpfen wie in schlechten Filmen die »Guten« gegen die »Bösen«. Dann sind die Kriegsparteien bereit zur rücksichtslosen Zerstörung von Land und Leuten.
Nicht zwecks vollständiger Vernichtung der feindlichen Nation, sondern um den gegnerischen Willen zu brechen. Das Ziel des Krieges ist die Wiederherstellung des Friedens zu den von der Siegernation als ihr gutes Recht reklamierten Bedingungen. Im Krieg geht es um die Selbstbehauptung der Nation als höchste Gewalt durch die Ausschaltung der feindlichen Nation, indem die Quellen ihrer Macht zerstört werden. Die Durchsetzung dieses Zweckes kennt zunächst keine Rücksicht auf Verluste: weder gegenüber dem Interesse an der späteren Benutzung der gegnerischen Nation noch gegenüber den eigenen Mitteln. Angefangen bei der eigenen Bevölkerung über die Produktionskapazitäten bis zu den Aussenhandelsbeziehungen wird alles in der Macht der Nation stehende militarisiert, d.h. dem Kriegszweck subsumiert und je nach den Dimensionen des Kriegsgeschehens sogar ruiniert.
Wenn im Hinblick auf den Krieg Menschenrechtsverletzungen zwischen Nationen zum Thema gemacht werden, wird die Legitimität der fremden Souveränität in Frage gestellt. Die Beantwortung der Frage nach Recht oder Unrecht ist letztlich nichts anderes als eine Frage der zwischenstaatlichen Gewalt. Wer sonst entscheidet denn darüber, wessen Rechtsauffassung gilt? Recht und Gerechtigkeit zwischen Nationen können überhaupt nur durch die überlegene Gewalt entschieden werden. Ob sich z.B. eine Opposition gegen unerträgliche Unterdrückung oder eine Regierung gegen nicht hinnehmbare staatszerstörende Umtriebe wehrt, wem also »Terrorismus« vorgeworfen und wem das Recht auf »legitime Gegengewalt« zuerkannt wird, lässt sich an der Sache nicht entscheiden. Die Beantwortung dieser Frage ist das Mittel aussenpolitischer Einflussnahme.
Die Entscheidung, ob es sich bei anderen Nationen um Regime oder befreundete Nationen handelt, liegt ganz im Ermessen der nationalen Interessen der »friedenssichernden« Nation. Die moralische Begutachtung im Sinne von Gut und Böse (der gegenseitige Vorwurf des Kriegsverbrechens) ist im Krieg das Handwerkszeug der Propagandaabteilungen der Kriegsparteien. Sich in diese Frage einzumischen, taugt nicht als Kritik am Krieg. Im Gegenteil, diese Fragen nach den Einzelheiten des Kriegsgeschehens dienen allein der parteilichen Rechtfertigung des Krieges.
Wer daher von den Politikern fordert, den Frieden zu sichern, hat nicht verstanden, warum auf allen Seiten immer zurückgeschossen wird. Wer angesichts der Kriegsgräuel Frieden fordert, kritisiert den kriegsträchtigen Inhalt des Friedens nicht. Wen die weltweite Kriegsbereitschaft beunruhigt, muss die Interessen der Nationen hinterfragen und verstehen, warum sie nach innen wie nach aussen ständig der gewaltsamen Sicherung bedürfen.
Wer gegen die Kriegsbereitschaft mobilisieren will, muss verhindern, dass die Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, für ihre Nation das eigene wie das Leben anderer zu opfern. Es ist die Arbeiterklasse eines jeden Landes, auf deren Rücken die imperialistischen Kriege der Nationen ausgetragen werden.
Fussnoten:
[1] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
[2] Barack Obama, Rede anlässlich seines Friedensnobelpreises
[3] Angela Merkel, Koordinaten der Aussen- und Sicherheitspolitik, Rede auf der 41. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, 12.02.2005
[1] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
[2] Barack Obama, Rede anlässlich seines Friedensnobelpreises
[3] Angela Merkel, Koordinaten der Aussen- und Sicherheitspolitik, Rede auf der 41. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, 12.02.2005