Als Wladimir Selenskij an dem Silvesterabend 2018 verkündete, er wolle bei der kommenden Präsidentenwahl der Ukraine kandidieren, galt er für viele seiner Landsleute längst als einer der grössten Hoffnungsträger der ukrainischen Politik. Vor allem nach der Amtszeit von Petro Poroschenko, der die Ukraine in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt und die Volkswirtschaft zugrunde gerichtet hat, konnte Selenskij ja alles offenbar nur noch besser machen.
Das war im Grunde auch das Wahlkampfprogramm des damals 41 Jährigen: Die Beendigung des Blutvergiessens im Donbass, die Sicherung der Rechte der russischen Bevölkerung der Ukraine sowie die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Land.
Allerdings konnte der ehemalige Comedian, der 2019 mit 77 Prozent der Stimmen zum Staatschef gewählt wurde, keines seiner Wahlversprechen umsetzen. Im Gegenteil. Er hat die Krise im Land sogar verschlimmert und führte die Ukraine wegen seines eigenen Unvermögens – der selbstverschuldeten Nicht-Umsetzung des Minsker Friedensabkommens zur Regelung des Konfliktes im Donbass – letzten Endes in einen Krieg mit der benachbarten Atommacht.
Die Kampfhandlungen zwischen den beiden "Bruderstaaten" dauern bereits mehr als fünf Monate an und entwickeln sich definitiv nicht zu Gunsten der Ukraine. Sie soll bereits zig Tausende Soldaten und etwa 25 Prozent ihres Territoriums verloren haben. Auch dies hat Selenskij mitverschuldet, weil er sich zum Beispiel geweigert hatte, mit Russland zu verhandeln und stattdessen auf den Sieg über Moskaus Streitkräfte gesetzt hat.
Ein Sieg Kiews war aber von Anfang an und ist es auch jetzt, ungeachtet der umfangreichen militärischen Unterstützung des Westens, aufgrund der klaren Überlegenheit der russischen Armee praktisch unmöglich. Daran konnte auch das vom US-Kongress bereitgestellte Hilfspaket in Höhe von 40 Milliarden Dollar nichts ändern.
Kritik von Amnesty International und Leaks aus dem Verteidigungsamt
Selenskij indes scheint sich des Ernstes seiner Lage bewusst zu sein, was ein kürzliches Interview zeigt. Darin beteuert er, alles menschenmögliche getan zu haben, um den Krieg zu verhindern und gibt die Schuld für das Blutvergiessen einzig und allein dem Kreml. Sein Versuch, die Verantwortung für das Desaster von sich wegzuschieben, ist verständlich, da sich in letzter Zeit die Anzeichen häufen, dass der Präsident im 'kollektiven Westen' bald in Ungnade fallen könnte.Dafür spricht etwa die Tatsache, dass quasi die westlichen Staaten, allen voran die USA, zum ersten Mal seit Kriegsbeginn die Ukraine für ihr Vorgehen öffentlich gerügt haben. Laut Angaben der 'Jungen Welt' hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International der ukrainischen Armee in einem am 4. August veröffentlichten Report vorgeworfen, durch verbotene Militärtaktik unnötig Zivilisten gefährdet zu haben. Unter Verweis auf eigene Untersuchungen im Kriegsgebiet hiess es aus der US-nahen Nichtregierungsorganisation, dass Kiews Truppen 'wiederholt aus Wohngebieten heraus operiert' hätten, was ein 'Verstoss gegen humanitäres Völkerrecht' sei, der durch nichts gerechtfertigt werde.
Auch die Invasion Russlands entbände die ukrainische Armee 'nicht von ihrer Pflicht', sich an völkerrechtliche Regelungen zu halten, so Amnesty International. Die NGO verweist diesbezüglich auf ein von ihr dokumentiertes Muster des ukrainischen Militärs, das Zivilisten in Gefahr bringen und Kriegsrecht verletzen soll. Demnach hätte es zu den meisten dokumentierten Einsätzen in Wohngebieten mögliche alternative Standorte gegeben – etwa Militärstützpunkte oder dicht bewaldetes Gebiet.
Selenskij hat den Bericht aufs Schärfste kritisiert und Amnesty International vorgeworfen, 'die Verantwortung vom Angreifer auf das Opfer zu verlagern', schreibt die Süddeutsche Zeitung. Das ukrainische Verteidigungsministerium hingegen soll sich zu den Vorwürfen der Organisation bislang nicht geäussert haben.
Dass das ukrainische Militär sich in dieser Frage also zurückhält und allem Anschein nicht bereit ist, ihrem Chef den Rücken zu stärken, deutet darauf hin, dass der bestehende Konflikt zwischen Selenskij und dem Generalstab inzwischen seinen Siedepunkt erreicht hat. Diversen Berichten nach soll es heftige Auseinandersetzungen mit Selenskij gegeben haben, etwa als ukrainische Truppen in Severodonetsk und Lissitschansk kurz davor standen, eingekreist zu werden, und das Oberkommando sie zurückziehen wollte. Selenskij und die politische Führung der Ukraine entschieden jedoch, den westlichen Medien eine weitere Heldensaga zu liefern, anstatt die Soldaten rechtzeitig zurückzuziehen.
Ebenfalls sehr unerfreulich für Selenskij sind die Leaks aus der ukrainischen Verteidigungsbehörde, die kürzlich im Netz aufgetaucht waren. Aus diesen Leaks, die russischen Medien zufolge aus einem Bericht des ukrainischen Oberkommandos stammen, geht hervor, dass '191.000 ukrainische Soldaten' im Krieg bereits getötet bzw. verletzt wurden, dass die ukrainische Armee sich in einem desolaten Zustand befindet und dass die Truppenstärke um mehr als die Hälfte abgenommen hat. Zudem ist die medizinische Versorgung am Limit und es fehlt an Schusswaffen und kugelsicheren Westen, ebenso wie an qualifiziertem Personal, um das westliche Kriegsgerät zu bedienen.
Zu allem Übel soll sich die Kampfmoral der Ukrainer praktisch auf dem Tiefpunkt befinden, trotz der vielen 'Siegesmeldungen' im Netz und der zahlreichen Kampagnen zur Unterstützung der Soldaten.
Selenskijs Stuhl wackelt
Ob diese Informationen der Wahrheit entsprechen, kann man nicht genau feststellen. Es sieht aber ganz danach aus, als ob der ukrainische Generalstab damit im Grunde eine kommende Niederlage einräumen und die Schuld dafür der politischen Führung des Landes, Selenskij und dessen Team, in die Schuhe schieben will.Angesichts dessen könnte der ukrainische Staatschef bald womöglich auch die Zustimmung seiner westlichen Partner verlieren. Denn die aktuelle Entwicklung im Ukraine-Konflikt zeigt, dass der kollektive Westen sich in diesem Zusammenhang nicht mehr einig ist und dass die Zeit nun gegen ihn und Kiew läuft. Die Europäische Union etwa pocht nicht mehr auf eine Niederlage Russlands und geht bestimmt auch nicht mehr davon aus, dass die Macht im Kreml zusammenbrechen wird.
Stattdessen wird in einigen europäischen Staaten bereits über die Notwendigkeit von Verhandlungen diskutiert, damit die Spannungen mit Russland angesichts der Energiekrise nicht noch weiter verschärft werden. Von einem Sieg über die russischen Truppen redet zumindest in Europa offenbar kaum noch jemand. Dieses Schicksal steht wahrscheinlich auch Selenskij bevor.