Als vor rund 250 Jahren, in den 1770er Jahren, Österreich in Bayern einmarschieren wollte, wurde diesem dem preussischen König zu viel. Er sah die Österreicher schon auf dem Durchmarsch nach Preussen und marschierte seinerseits in Böhmen ein. Ähnliche Beispiele lassen sich zahlreich in der Geschichte finden, bis in die Gegenwart. Was wir daran sehen? Herrscher – nicht nur Adlige - können sehr empfindlich sein, wenn jemand ihrem Herrschaftsgebiet zu nahe kommt. Das wissen sämtliche Machthaber, denn sie sind alle aus ähnlichem Holz geschnitzt. Wenn also die eigene Machtsphäre ausgedehnt wird, ganz gleich, ob auf militärischem oder vertraglichem Weg, so weiss jeder Fürst oder König oder Regierungschef, dass er damit die Gegenseite provoziert. Dieses Risiko wird, um der eigenen Machterweiterung willen, billigend in Kauf genommen. Aber Ähnlichkeiten mit der Gegenwart sind natürlich rein zufällig und nicht beabsichtigt…
„Putin-Versteher“?
„Bist Du jetzt auch ein Putin-Versteher?“, fragte mich neulich eine Freundin. Wenn Verstehen heisst, etwas aus einer Binnenlogik – also in Putins Fall aus der Staatsführer-Perspektive – nachvollziehen zu können, dann bin ich das. Oft verwechselt wird verstehen mit akzeptieren, gutheissen oder gar mögen. Als Gegner von Staat und Herrschaft mag ich keine Staatschefs, schon gar keine Machos á la Putin oder Selenskyj, der vom ersten Tag an nur noch im olivgrünen Shirt zu sehen ist (hat er eigentlich mehrere davon?). NATO; EU und die Ukraine selbst haben massiv zur Konflikteskalation beigetragen, mit dem Brechen von Versprechungen, der Verweigerung diplomatischer Gespräche wie mit der offensiv angestrebten Osterweiterung von NATO und EU, sowie allerlei Provokationen. Wenn nun polnische Politiker als Statement zur Sabotage an den Nord Stream-Gasleitungen „Danke USA“ twittern (so Radek Sikorski, ein polnisches Europaparlament-Mitglied), so ist dies Öl auf die Mühlen.Wenn Russland dann Polen den Krieg erklärt (da man derart an der Erfüllung der seit Beginn des Ukraine-Einmarsches bestehenden Befürchtung arbeitet) , wird sich Polen ebenso als unschuldiges Opfer darstellen wie es die Ukraine tat. Das alles macht einen Angriffskrieg – nicht nur den Putins – nicht minder verabscheuungswürdig. So, ich hoffe, das ist damit geklärt. Aber – warum muss man sich eigentlich dazu immer erst erklären, wo es doch offenkundig ist, dass Menschen einen missverstehen wollen. Man muss dieses Missverstehen-wollen (wenn ich beispielsweise ernsthaft gefragt werde, ob ich als Antimilitarist nun die „Ukraine an Russland ausliefern will“), als Machtdiskurs deuten: es gibt eine vorherrschende Meinung, damit eine Deutungshoheit. Wer sich dieser Deutungshoheit nicht beugen will, muss sich allen möglichen und unmöglichen Vorwürfen aussetzen, mit dem Ziel, diese Person um jeden Preis zu diskreditieren und auszugrenzen – wir kennen das vom Corona-Thema, und ich werde noch darauf zurückkommen, wie dies mit den Meinungshoheiten zusammenhängt, die wir jetzt beim Ukraine-Krieg erleben.
Politik & Macht – Das Beispiel Ukraine
Staaten brauchen Militär und Kriege, und natürlich gibt es Wirtschaftszweige, allen voran die Rüstungsindustrie, die daran gut verdienen: Krieg – auch schon die latente Drohung damit, die psychologische Kriegsvorbereitung, das ist ein hervorragendes Geschäft. Eine in Nationen aufgeteilte Welt, staatliche Gewalt und Herrschaft und das kapitalistische Wirtschaftssystem hängen in der Welt der modernen Kriege untrennbar zusammen. So legitimieren die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr seit Beginn der 1990er Jahre den „ungehinderten Zugang zu Rohstoffen“ als legitimen Kriegszweck der Bundeswehr – also exakt das, was Putin betreibt.Gegen das Militär zu sein, also antimilitaristisch zu sein heisst nach meinem Verständnis allerdings nicht, grundsätzlich gegen jede Waffengewalt zu sein. Wenn ich etwa an mittelamerikanische Befreiungsbewegungen in den 1980er Jahren oder an die Spanische Revolution ab 1936 denke, so wurden Waffen in erster Linie nicht benutzt, um zu töten, sondern um Leben zu ermöglichen, und zwar gegen die staatliche Gewalt. Ich denke, das ist ein wesentlicher Unterschied zu dem, was wir derzeit erleben.
Denn in der Ukraine gibt es keine soziale Revolution, die es zu verteidigen gilt. Der Ukraine-Krieg ist ein Krieg im Namen der Macht. Um Rohstoffe (Russland liegt am Zugang zur Getreidekammer Ukraine ebenso wie am Zugriff auf die Bevölkerung, da Russland mit seiner Bevölkerungszahl von rund 140 Millionen Menschen im Vergleich zu den USA und EU schlicht zu klein ist für eine Grossmacht im 21. Jahrhundert), aber auch um die ideologische Macht, um die historische Erzählung.
Auf Seiten aller Beteiligten geht es um Machtpolitik, um Wirtschafts- und Rohstoffpolitik, um Geschichtspolitik. Und so sehr es ein vollkommen absurder Kriegsvorwand von Putin ist, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen (zumal auf russischer Seite ebenfalls reichlich Nazis kämpfen), so ist der rechte Einfluss in der Ukraine kaum zu überschätzen. Das fängt mit dem massiven Personenkult um den Nazi Stepan Bandera an, nach dem Hauptstrassen und Plätze in grossen ukrainischen Städten benannt sind und von dem der ehemalige ukrainische Botschafter in Berlin, Melnyk, ein grosser Fan war.
Es geht weiter bei beliebten rechtsradikalen Bands, die Hitler und Mussolini verehren, sich als „Helden des Maidan“ und „Verteidiger der Ukraine“ verstehen und Kiew zu einer „Hauptstadt der Neonazimusik“ machen (Bundeszentrale für politische Bildung. 30.10.2020). Und es hört bei den neofaschistischen Kampfverbänden, die einen Teil ihrer von EU und NATO so grosszügig zur Verfügung gestellten Waffen an organisierte rechtsextreme Strukturen in Mitteleuropa abgeben, nicht auf. So gibt es eine „private“, aber mit den ukrainischen Behörden verwobene „Friedensstifter“-Liste, die vermeintliche „Staatsfeinde“ auf eine Website öffentlich präsentiert – mehrere von ihnen, darunter kritische Journalisten, wurden bereits von Nationalisten ermordet.
Dazu kommt: Selenskyijs Zustimmungswerte gingen vor dem Krieg zurück (von 73% im Frühjahr 2019 auf 23% im Januar 2022). Er hatte deshalb gar kein Interesse an einer diplomatischen Verhinderung des Krieges, da er einen Krieg zur Absicherung seiner Macht nutzen konnte. Die Bundeszentrale für politische Bildung wies noch am 19.10.2021 auf Selenskyijs Korruption hin. In den „Pandora Papers“ stand die Ukraine auf dem ersten Platz bei der Zahl korrupter Amtsträger. 41 Millionen Dollar soll Selenskyij bekommen haben, überwiesen von dem dubiosen Oligarchen Ihor Kolomojskyj.
Dieser finanzierte auch Selenskyijs Wahl 2019, und übrigens u.a. das ultranationalistische und stark antisemitische, nun in die offiziellen ukrainischen Streitkräfte integrierte Asow-Regiment – nicht nur Russland hat eben Oligarchen, bloss wurden die Vermögen der ukrainischen nicht vom Westen beschlagnahmt (weshalb Selenkyij seine 3 Londoner Luxuswohnungen und seine italienische Ferienvilla behalten darf).
Das darf alles nicht verwundern: Selenskyijs Politik ist strikt neoliberal. So war seine „Landreform“ faktisch ein gigantischer Landverkauf. „Zehn Unternehmen kontrollieren 71 % des ukrainischen Agrarmarktes, wie aus den Statistiken des Ukrainischen Getreideverbandes (UGA) hervorgeht. Neben der ukrainischen Oligarchie sind auch multinationale Konzerne wie Archer Daniels Midland (ADM), Bunge, Cargill, Louis Dreyfus und das chinesische Staatsunternehmen COFCO aktiv“ Selenskyijs massive Privatisierungen waren zwar im Interesse von IWF und Weltbank, aber nicht – siehe Zustimmungswerte – der (vermeintlich) „eigenen Bevölkerung“. Diese sah darin nämlich einen Ausverkauf, gar „Verrat“, der im Widerspruch zu seiner nationalistischen Ideologie stünde. Auch deshalb war Selenskyijs Macht zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs durchaus wackelig.
So oder so ist die Ukraine, als „Grenzland“ (so die Bedeutung von Ukraina) als „Land am Rand“ lediglich ein Spielball der Supermächte, bedroht von einer „doppelten Kolonisierung“ (Slavoj Zizek, zwischen Russland und der NATO. So wird Selenskyij nach dem Krieg, sollte der Westen gewinnen, ohnehin bestenfalls noch eine Marionette sein, zu sehr hat er seine Abhängigkeit vom Westen gezeigt, zu massiv sind die wirtschaftlichen Interessen vor allem der USA (die sich den Krieg im Namen ihrer Interessen nicht zuletzt von Deutschland bezahlen lassen, während sie von einer kommenden europäischen Wirtschaftskrise profitieren werden).
Insbesondere die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wird dabei als „Schlüssel zur regionalen und globalen Vorherrschaft der USA“ betrachtet, so der Ökonom Jeffrey David Sachs (Berliner Zeitung, 30.6.2022). Das ist eine klare Kampfansage gegen Russland. Es geht beim Krieg in der Ukraine also nicht etwa um Menschenrechte (nicht einmal als Alibi), sondern um politische, auch um geopolitische, und um ökonomische Machtinteressen. Dafür wird die Gefahr eines Atomkrieges vom Westen ebenso in Kauf genommen wie die weitere Spaltung der Welt, ungeachtet der Probleme, die eigentlich nur gemeinsam zu lösen wären (Klimakrise, Umweltzerstörung, schwindende Ressourcen, Pandemien, wachsende Armut, Digitalisierung etc.).
Warum auf eine Seite schlagen?
Wenn also Staaten gegeneinander Krieg führen, dann ist das die eine Sache. Doch warum also sollte jemand sich auf eine Seite der Kriegsparteien schlagen? Und warum sollte dies jemand in Deutschland tun, einem Land, das doch ein paar Jahrzehnte lang einen eher pazifistischen Ruf hatte? Ein Blick auf die ehemalige „Sonnenblumen-Partei“, die jahrelang mit der Friedensbewegung eng verwobenen „Grünen“ ist aufschlussreich. Annalena Baerbock weiss, was russische Besatzung bedeutet, nämlich erschossene Zivilisten und vergewaltigte Frauen" (Zeit online, 1.7.2022). Das ist zwar richtig und verabscheuungswürdig, ist allerdings „Normalität“ jedes Krieges und war allerdings bei den „humanitären Hilfseinsätzen“ der Bundeswehr etwa in Afrika auch nicht anders. Baerbock muss aber an ihren Opa denken, der „als geschlagener Soldat“ (Rede am 9.5.2022 in Frankfurt/ Oder) aus dem Russlandfeldzug zurückkam. Nun, Opa Waldemar war kein einfacher Soldat, er war Wehrmachtsoffizier.Wenn Baerbock nun „Russland ruinieren“ will, so klingt darin doch noch eine späte Rache an, und mit dieser Stimmung holt sie offenbar immer noch (zu) viele Deutsche ab. Die Grünen sind damit wieder an ihrem Ursprung angekommen, denn was heute den wenigsten bewusst ist: in der Gründungsphase der Partei spielten Rechte eine wichtige Rolle, das Bild einer friedensverliebten Partei war also immer allenfalls nur ein Teil der Wahrheit. Nun erleben wir, dass sich diese Partei wieder positiv auf die Wehrmacht bezieht und die NS-Verbrechen verleugnet. Noch in der Rede vom russischen „Vernichtungskrieg“ werden die Wehrmachtsverbrechen unerträglich verharmlost, und dies ohne hörbaren Widerspruch. Die Grünen forcieren damit eine geschichtspolitische Wende hin zur offensiven Militarisierung der deutschen Politik.
In der späten deutschen Abrechnung mit Russland wird allerdings verdrängt, dass Russland die meisten Weltkriegsopfer hatte (mehr als Nazi-Deutschland), und dass die Deutschen für unzählige Massaker verantwortlich sind. Das schrecklichste aller Massaker fand im ukrainischen Babyn Jar nahe Kiew am 29. und 30.9.1941 statt, über 33.000 Juden wurden innerhalb von 2 Tagen umgebracht. Dies geschah mit eifriger Unterstützung ukrainischer Hilfskräfte und unter dem Beifall von Teilen der örtlichen Bevölkerung, die auch Tage und Wochen danach noch untergetauchte Juden denunzierte und so dem sicheren Tod auslieferte bzw. Juden gleich selbst erschlug (Andreas von Westphalen auf Telepolis, 22.10.2021; Bert Hoppe für Bundeszentrale für politische Bildung, 10.8.2021). Auch der in der Ukraine bis heute so verehrte Faschistenführer Bandera unterstützte die Wehrmacht. Zwar wurde Bandera später von den Nazis inhaftiert – allerdings als „Ehrenhäftling“, sie wussten, was sie an ihm hatten -, aber nur weil er, der extrem nationalistisch war, einen eigenen faschistischen Staat ausrufen wollte. Übrigens: Annalena Baerbock besuchte im April 2022 Estland. Bestandteil war ein Besuch des Denkmals für die Opfer des Kommunismus (Tagesspiegel, 23.4.2022). Ein Denkmal für die vom Nationalsozialismus ermordeten Juden oder die Gedenkstätte am estnischen KZ-Aussenlager Klooga besuchte sie nicht. Auch eine Aussage.
Frieden schaffen mit noch mehr Waffen?
Warum also sich auf Seiten einer Kriegspartei schlagen? Ist nicht die Entscheidung für oder gegen Nationalismus und Militarismus aus Sicht der Bevölkerung, die schliesslich die Kriegskosten zahlt – und das sind nicht nur steigende Energiepreise – viel sinnvoller? Die Profiteure des Kriegs sind die Rüstungsindustriellen, jene, die Zerstörung brauchen, um am Wiederaufbau zu verdienen (internationale Baukonzerne z.B.), um Lebensmittelpreise schachernde Hedgefonds usw., es ist aber nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Diese sollte wissen: Waffen bringen in der Regel immer nur noch mehr Waffen, und damit noch mehr Tote, hervor. Übrigens auch indirekt, denn das Militär ist selbst in Friedenszeiten (und wann herrscht je Frieden in der Welt?) für 5% der klimaschädlichen Emissionen verantwortlich – der Klimawandel bringt seinerseits dann wieder neue Kriege um Ressourcen hervor, ausserdem Klimaflüchtlinge, gegen die die Grenzen dann wiederum militärisch verteidigt werden, statt diese Menschen, deren Lebensgrundlagen der Westen mit seinem Raubbau zerstörte, zu unterstützen.Also: warum sollten wir dies alles – egal auf welcher Seite – noch unterstützen? In jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit gibt es Dinge, die Menschen verbinden und Dinge, die Menschen trennen (Daniel Korth, Graswurzelrevolution Nr. 470) – warum sollten wir uns am inhumanen Trennen beteiligen? Warum nicht lieber das Verbindende suchen? Übrigens, Leidtragende von Sanktionen sind nicht in erster Linie Putin und seine Oligarchen – es ist die einfache Zivilbevölkerung, die vielfach gegen Putin eingestellt ist. Baerbock & Co. sind die möglichen Hungertoten jedoch herzlich egal – die Russen müssen dafür zahlen, dass sie, Opa Baerbock lässt grüssen, den Zweiten Weltkrieg gewannen und nun auch wieder – wie Annalena Baerbock bereits im Mai 2021 in einem Gespräch bei der einflussreichen, NATO-nahen US-Denkfabrik „Atlantic Council“ betonte, als Russen „in einem strategischen Kampf mit uns sind“. Neben Russland ist ihr auch China ein „Systemrivale“ (so Baerbock beim G7-Treffen im Dezember 2021).
Zu Baerbocks Engagement in einflussreichen Lobbyorganisationen gehört auch, dass sie 2020 für das Programm Young Global Leaders durch das World Economic Forum (WEF) nominiert wurde. Zurück zum Krieg: jene Soldaten, die da von deutschen Waffen massakriert werden, sind nicht die Oligarchen – es sind Rekruten, die Putin gezielt nicht aus den Grossstädten, sondern aus den ärmsten Teilen des Landes in die Ukraine schickt (n-tv, 4.8.2022). Es sind, wie so oft in der Weltgeschichte, wieder einmal die Ärmsten, die als erste den Kopf hinhalten müssen für die Interessen der Mächtigen.
Corona & der Krieg
Warum nun ist in Deutschland so wenig Widerspruch gegen den Krieg in der Ukraine sicht- und hörbar? Nun, wir leben im Grunde seit 2020 in einem mentalen Kriegszustand, denn damals wurde der „Krieg gegen das Virus“ (so u.a. Frankreichs Präsident Macron) ausgerufen. Als „Pearl Harbor-Moment“ bezeichnete Trumps Gesundheitsbeauftragter das Virus und verglich es so mit dem Angriff Japans auf die USA. Die Bundeswehr betrieb Akzeptanzschaffung und machte (bis zum Ukraine-Krieg) auf „Corona-Amtshilfe“. Wer abweichende Meinungen hatte, war schnell „Leugner“, „Schwurbler“, „Covidiot“, ein irrer „Aluhut“, der in die Psychiatrie gehört, und sowieso irgendwie „rechts“ (das durch diesen Diskurs wie auch die wegtauchenden, anpasslerischen, verängstigten „Linken“ die Rechten erst stark gemacht werden ist offenkundig – die Rechten können sich da wirklich die Hände reiben, aus eigenen Kräften bekommen sie einen derartigen Aufschwung nicht hin ). Die Beleidigung ersetzte das Argument. Auch wohl begründete abweichende Meinungen wurden nicht nur diffamiert und Menschen damit ausgegrenzt, sondern dies konnte auch massive persönliche Folgen haben.Ich weiss von gekündigten Journalisten, von eingeschüchterten Pflegekräften, von Künstlern, denen Auftritte gekündigt wurden und von Solchen, die sich nicht trauten, sich zu äussern, aus Angst vor den finanziellen und beruflichen Folgen. „Nur noch 45% der Deutschen geben bei Allensbach an, frei und ohne besondere Vorsicht ihre politische Meinung zu äussern“ (Berliner Zeitung, 24.8.2021). Da sind natürlich auch Menschen dabei, die ernsthaft verschwörungsgefährdet, abweichende Anschauungen als Resultat der „Lügenpresse“ verunglimpfen und deren Meinungen man lieber auch nicht hören mag, dennoch ist dieser Prozentsatz hoch. Dabei wäre es angezeigt, gerade in Krisenzeiten kritisch zu denken, denn in jedem Krieg – auch gegen das Virus – ist die Wahrheit eines der ersten Opfer. Die durch die digitalen Medien verschärften, hysterischen Anfeindungen sind nun ähnlich im Ukraine-Krieg zu beobachten. „Kritische Stimmen werden mundtot gemacht oder auf schwarze Listen gesetzt“ (Berliner Zeitung, 13.8.2022).
Die Erklärung des inneren Ausnahmezustandes bereitete die Zustimmung zum äusseren Krieg vor, mehr noch: Kriege sind nicht einfach eine Form der Aussenpolitik, sie sind eine Konsequenz der Innenpolitik, und ohne die innere Mobilisierung nicht zu gewinnen. Wie beim Virus (vgl. z.B. die „ZeroCovid“-Kampagne) geht es nun auch in der Ukraine um den totalen Kampf, für den alle Mittel recht sind, und um den totalen Sieg. „Für oder gegen Lockdown und Impfpflicht“, Für oder gegen die Ukraine“ (= „Gut oder Böse“): unter dieser debattenfeindlichen, einschüchternden Polarisierung geht es nicht, doch wird diese einfache und grobe Schwarz-Weiss-Malerei der Wirklichkeit nicht gerecht, wie sich vielleicht schon anhand meiner Ausführungen zeigt.
Auch in anderer Hinsicht war die Corona-Politik eine mentale Vorbereitung auf das, was wir jetzt erleben. Schliesslich ging es seit 2020 nicht mehr darum, ein kommunikatives, lustvolles, soziales Leben zu führen, nein, dies war verpönt. Anpassung wurde nun zur „Selbstfürsorge“ aufgewertet. Einschliessen und (mehr oder minder) „freiwilliges Isolieren“ waren angesagt, der Verzicht auf lustvolles Erleben und Genuss wurde propagiert, moralisierendes „Wir müssen Oma schützen“, „solidarisch sein“, das waren die Stichworte. Und nun: dasselbe in – buchstäblich! – grün: wieder haben „wir“ zu verzichten, um „solidarisch zu sein“, erleben moralisierende Diskurse, um „unsere Werte“ durchzusetzen, sollen frieren für die Ukraine. „Solidarität“ wurde zur Drohung, zur Ausschlussformel – für Ungeimpfte oder für russische Menschen gilt sie nicht (apropos „solidarisch Impfen“: Corona-Impfstoffe aus Russland wurden ungeachtet ihrer seit 2021 erwiesenen Wirksamkeit in Deutschland nicht zugelassen). Überall nur Entbehrungen und Enthaltsamkeit, wenn das mal keine „christliche Leitkultur“ ist: Predigen und Fasten. Abstand halten und zusammenrücken, das sind die zwei Seiten der neuen Medaille.
Seit 2020 gibt es statt buntem, freudvollem Leben nur noch nacktes Überleben, und der deutsche Gesundheitsminister stellt dies auch für die Zukunft in Aussicht, kommen wir doch in eine weltpolitische Phase, „wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird“ (Karl Lauterbach, 13.3.2022). Es gibt nur noch eine Wahrheit, und der verhelfen notfalls „Faktenchecks“ zur Gültigkeit. Die Lage scheint fast ausweglos, das Virus ist überall, der Russe womöglich auch, dagegen helfen, wird uns erzählt, neben der Digitalisierung – von der Corona-App bis zur Satellitenüberwachung und militärischen Drohne - nur schwere Geschütze, die biochemische Keule oder die Flak. Die vorläufige Corona-Feuerpause wird nun vom medialen wie militärischen Waffeneinsatz gegen Russland überlagert. Um noch eine Chance gegen die – vermeintlichen oder realen – inneren wie äusseren – Feinde zu haben heisst es, zu aller erst gehorsam zu sein gegenüber den Anordnungen der Regierung.
Der starke Staat ist vom Volk ausdrücklich erwünscht, Widerstand ist zwecklos. Rebellische Outcasts, das Bedürfnis nach Autonomie, das hatte mal einen gewissen chic, verkörperte einen Individualismus, einen Hang zur Selbstverwirklichung, der freilich recht leicht von der neoliberalen Ideologie einzufangen war. Davon ist nichts mehr übrig. Aussenseitertum ist verdächtig, die Lebensfreude hin, heute geisselt sich, wer über die Stränge geschlagen hat („Selbstoptimierung“). Absurd (und vielleicht nur der blindmachenden Angst vor Viren und Russen zu verdanken), dass der „eigene“ Staat nun als Retter wahrgenommen wird, als „Erlöser“, dem wir uns, unserer Erlösung zuliebe, zu unterwerfen haben. Bedingungslos. Die autoritäre Gehorsamspflicht hat eine vielfältige Debattenkultur niedergewalzt wie ein Panzer. Jede offene Debatte wird zudem erschlagen durch „Faktenfinder“, beim Coronavirus ebenso wie jetzt beim Krieg in der Ukraine.
Wie sehr diese vermeintlichen „Faktenfüchse“ ihrerseits Falschmeldungen in die Welt setzten wäre ein eigenes Thema, verfolgt wird hinter dem vermeintlichen Anliegen, Fake News aus der Welt zu schaffen, ein eigener Lehrplan, nämlich Zustimmung zur Herrschaft zu verschaffen: der Herrschaft der „Experten“ an der Seite der Macht, um so die Macht zu zementieren. Nachdenklich machen sollte der Satz von Max Horkheimer: „Die adäquate Gestaltung der Gesellschaft, in der die Fachleute alles beherrschen, ist die totalitäre“ (zit. nach Carl Wiemer: Krankheit und Kriminalität, Freiburg 2001, S. 27). Und wo waren diese Faktenfüchse, als die USA die Legende verbreiteten, irakische Soldaten würden Säuglinge ermorden („Brutkastenlüge“, 1990)? Den Lügen und Verdrehungen der NATO und ihrer Verbündeten widmete sich bislang noch kein „Faktencheck“.
Was nun?
Was wäre nun also zu tun? Wir haben auf keinen Staat zu hoffen, denn es sind nicht die Staaten, die für Frieden sorgen werden. „Putin oder Selenskyij?“ ist die falsche Frage, beides sind nationalistische Fanatiker, die nur Elend über die Menschen bringen. Es sind die Menschen selbst, die für eine bessere, gerechtere, freiere Welt kämpfen müssen. Widerspruch gegen den Krieg gibt es in der Ukraine wie in Russland reichlich – wenn man genau genug hinschaut, denn in deutschen Medien ist davon wenig zu lesen. „Der Spiegel“ behauptete noch im August, auf Russland bezogen: „Stell dir vor, es ist Krieg – und niemand protestiert dagegen“ (Nr. 32, 6.8.2022), Allerdings wird wenige Seiten später im selben Heft festgestellt, dass Hunderttausende Russen das Land verliessen, vor der Ende September in Gang gesetzten Teilmobilisierung wohlgemerkt. Was ja schon mal ein Protest mit den Füssen wäre, wenn nicht ein vehementer Widerspruch gegen den drohenden Militärdienst. Doch was will man von einem Blatt halten, in dem sich Sascha Lobo über „„egozentrische Lumpen-Pazifisten“ mokieren darf (Der Spiegel, ausgerechnet am Hitler-Geburtstag, 20.4.2022), was im Jargon an alte weisse Männer im Deutschland der 1950er, 60er, 70er Jahre erinnert (auch in den 80ern und einige Jahre später gab es sie noch, doch da waren so gesonnene Menschen, im offenkundigen Gegensatz zur Gegenwart, eine unverbesserliche kleine, wenn auch nervende Minderheit).Ja, es gibt russische Soldaten, die desertieren. Es gibt Menschen in der Ukraine, die diese Soldaten unterstützen. Und es gibt sicher auch Menschen in der Ukraine, die sich gegen die Tilgung alles Russischen und gegen die nationalistische Politik wehren, die den Traum einer „reinen Ukraine“ um jeden Preis verfolgt. Der von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung in die ukrainische Politik gehievte Ex-Boxer und nunmehrige Bürgermeister von Kiew will Hunderte Strassen und Plätze mit russischen Namen umbenennen „zur Verringerung der wahnhaften Manipulation und des Einflusses des russischen Angreifers auf die Interpretation unserer Geschichte“ (Freitag 36/ 2022).
Es gibt auch noch immer zu wenig Informationen über die russische Antikriegs-Bewegung (in den letzten Wochen wird es langsam mehr), die zum Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine wie auch gegen Putin aufruft, die online, aber auch auf den Strassen präsent ist – allerdings auch massiv unterdrückt wird. Es gibt kaum Informationen über jene Saboteure, die in Russland schon Dutzende von Militärrekrutierungsbüros niedergebrannt haben sollen. Unabhängige Berichterstattung aus der Ukraine und Russland zu unterstützen wäre also eine wichtige Aufgabe. Auch Desertion auf allen Seiten wäre zu unterstützen. Russische Deserteure bekommen allerdings in Polen und den baltischen Staaten kein Asyl, da Kriegsdienstverweigerung dafür kein „hinreichender Grund“ sei. Auch Deutschland mauerte bisher, momentan scheint sich die Praxis zu ändern, doch die Aufnahme ist umstritten. „Russen mit demokratischer Gesinnung hätten das Land meist schon längst verlassen“, meint der „Deutschlandfunk“ (23.9.2022), man will also jene dem russischen Staat ausliefern, die angeblich zu lange „apathisch“ (ebd.) und zögerlich gewesen seien, schliesslich sollten diese in Russland gegen den Krieg kämpfen statt feige zu flüchten. Deutsche dürfen solche Ratschläge geben, sie haben schliesslich viel Erfahrung in massenhaftem Protest gegen kriegführende Despoten im eigenen Land.
So werden noch zynisch Flüchtlinge sortiert: aus der Ukraine willkommen, aus Russland nicht.
Allerdings: nur gegen den Krieg sein reicht nicht. Kern des Übels sind ganz offensichtlich die Staatlichkeit und die zerstörerische kapitalistische Weltökonomie. Ohne konsequente Ablehnung dieser Unterdrückungsverhältnisse wird niemals wirklich Frieden existieren. Konkret treffen Kriege die sozial schlechter Gestellten am massivsten, Kriege ruinieren jeden Gedanken an Klimaschutz buchstäblich nachhaltig, in Kriegszeiten zeigen sich besonders deutlich die Gefahren der Atomenergie, in Kriegszeiten werden die Lebensbedingungen auch weitab der Kriegsschauplätze unsicherer, Preise steigen, Reallöhne sinken etc. Eine umfassende Anti-Kriegs-Bewegung muss sich also mit anderen sozialen Bewegungen verbinden, mit der Klimabewegung wie mit den Arbeitskämpfen. Auf die fragmentarischen Reste dessen, was einst die „linken“ Bewegungen waren, wird man dabei kaum bauen können, da diese sich spätestens mit der Corona-Pandemie selbst aufgehoben haben. Doch warum eigentlich können sich Menschen in vielen Regionen der Erde eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende einer durch Staaten und Kapitalismus geknebelten, erpresserischen und ausbeuterischen Weltordnung?
Ich möchte mit den abschliessenden Worten an den 2010 verstorbenen us-amerikanischen Politologen und Historikers Howard Zinn erinnern. Dieser äusserte einmal: „Aus historischer Sicht sind die schrecklichsten Dinge – Krieg, Völkermord und Sklaverei – nicht auf Ungehorsam, sondern auf Gehorsam zurückzuführen“. Es braucht offenbar eine Zerstörung dieses Gehorsams. Denn, so noch einmal Zinn: „Man sagt, das Problem sei ziviler Ungehorsam. Aber das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist der zivile Gehorsam. Unser Problem ist die grosse Anzahl von Menschen auf der ganzen Welt, die dem Diktat ihrer Regierung folgen und deshalb in Kriege ziehen, in denen dann Millionen Menschen wegen diesem zivilen Gehorsam getötet werden".