Die Beherrschten kommen bei dieser Betrachtung ziemlich gut weg: Wie sie die Herrschaft reproduzieren durch ihr Verhalten, wie sie sich in den Verhältnissen einrichten, welchen - wirklichen oder vermeintlichen, relativen oder absoluten - Vorteil sie davon haben könnten, taucht in der üblichen Betrachtung erst gar nicht auf.
Das unverrückbar gute Urteil über "das Volk", die "Massen", "die Arbeiterklasse", "die kleinen Leute", die "Normalbürger" wird besonders dann komisch, wenn der Faschismus erklärt werden soll - der scheint ganz ohne Bevölkerung zustande gekommen zu sein, die ja auch "nur" mitgemacht hat. Die Untertanen tauchen ausschliesslich als Opfer staatlicher Gewalt auf. Der kumpelhafte Schulterschluss mit den kleinen Leuten hat eine lange schlechte Tradition in der Linken.
Die unbedingte Parteinahme für die Opfer, die zu besseren Menschen stilisiert werden (und wehe sie entpuppen sich nicht als die edlen Unterdrückten!), wird anders fortgesetzt, spätestens seit die rassistische Pogromwelle 1991/93 Mob klargemacht hat, dass es sich bei den meisten deutschen Untertanen wohl kaum um verhinderte Revolutionäre handelt. (Die Fehlinterpretation von Hoyerswerda und Rostock als 'Sozialrevolte von rechts' hat sich nicht so recht durchgesetzt.)
Kritik an den Standpunkten, die Opfer von Gewalt und Unterdrückung so haben, ist damit natürlich nicht zu machen - sie gilt als "arrogant", "elitär" und wird mit dem Hinweis auf den privilegierten Standpunkt der/s Kritikers/in totgemacht [(männlicher) weisser Metropolenintellektuelle/r].
Das Einverständnis der Beherrschten mit der Herrschaft erklären die AnarchistInnen sich meistens über die Manipulation durch die Medien. Das bedeutet: Dass am Bewusstsein der Leute vorbei, von anderen zielgerichtet in diesem Bewusstsein herumgewerkelt wird.
Wie das gehen soll, ist kaum vorstellbar. Die eigene geistige Leistung der Untertanen, die ihre Stellung zur Herrschaft produziert, wird durchgestrichen - eben doch Opfer. Und wo es Opfer gibt, da müssen auch irgendwo TäterInnen sein…. (Sehr viel intelligenter ist der Standpunkt "Die Menschen schmieden sich ihre Ketten selbst", den viele schlauere anarchistische TheoretikerInnen vertreten haben auch nicht.
Als ob sich die Leute das aussuchen könnten! Die moralische Anfeindung der Untertanen für ihr Untertanensein ist wirklich keine gute Alternative.) Wer Herrschaft als reinen Zwang begreift, findet dann auch bald die, die zwingen: Die Herrschenden.
Das müssen recht ausgekochte Kerlchen sein, die auf ihren Donnerstagstreffen manche Schandtat vorbereiten. Im Ernst: Die personalisierte Herrschaftskritik klebt den Herrschenden (wer immer das jeweils sein soll) die Schuld für den ganzen Scheiss als Folge ihres bewussten Tuns und Wollens ans Jackett. Sehr weit ist es dann zu einer Art Verschwörungstheorie, die jede Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft als Ausdruck einer Strategie von irgendwem definiert, nicht mehr.
Dass die Herrschenden "Schweine"/"Verbrecher" sind, rechtfertigt individuelle Gewalt, Tötungsphantasien à la "We have found new homes for the rich" etc. Strukturen sind so scheusslich abstrakt.
Die "Bösen" haben darum natürlich auch eine verachtenswerte Kultur (im Gegensatz zur tollen Kultur der unverdorbenen Massen, der "authentischen" Kultur der Leute im Trikont, des freundlicheren Umgang von Frauen miteinander - und was der Mythen mehr sind) - und werden überhaupt des unverdienten Wohllebens verdächtigt: Sozialneid statt Klassenkampf. (Die Leute, die unter dem Etikett "Marxisten" herumspringen, sind zumeist keinen Deut besser.)
Der traditionelle Anarchismus hat(te) immer noch das Bild einer reichen Überflussgesellschaft, in der die Menschen sich emanzipieren, im Kopf. Vor allem Autonome, aber auch Öko- und Eso-AnarchistInnen haben statt dessen die ländliche Idylle vor sich hinkrebsender Dorfgemeinschaften mit Subsistenzwirtschaft vor Augen.
Im Hier und Jetzt ist darum revolutionäre Askese, hart aber herzlich, arm, aber anständig usw. angesagt - das allerdings ganz lustvoll, bunt und wild!
Und auch das beruht auf einer falschen Kapitalismuskritik, wie sie schon der traditionelle Anarchismus ebenso wie der "Arbeiterbewegungs-'Marxismus'" formuliert haben:
Kritisiert wird gar nicht, dass die Menschen von Strukturen bestimmt werden, dass das Wertgesetz und die Zwangsgesetze der Konkurrenz die Gesellschaft bestimmen, sondern dass "wenige" über "viele" herrschen und es sich dabei gut gehen lassen. Dass jede/r nur von den Früchten seiner eigenen Arbeit leben soll, und dass Kapitalisten und Bonzen "Schmarotzer" und Parasiten seien, haben die AnarchistInnen (und die MarxistInnen leider auch) schon früh verkündet.
Das ist eine langweilige Utopie der einfachen Warenproduktion - es stammt aus der seligen Zeit als der Grossteil der Leute die Produktionsmittel noch besass, mit denen mensch sich durchs Leben fressen musste - und blöd-moralische Kritik. Kein Wunder, dass jede Menge Kapitalismuskritik, die nicht die Produktionsweise und Form des gesellschaftlichen Reichtums angreift, sondern die Zinsen abschaffen will (Gesell) und sich überhaupt für Kleinbetriebe und Landwirtschaft begeistern kann, ziemlich populär ist.
In einer Gesellschaft, in der der Antisemitismus aufgrund bestimmter historischer Umstände durch ihr tagtägliches Funktionieren immer wieder hervorgebracht wird, ist das darum auch struktureller Antisemitismus - selbst wenn keine/r was gegen Juden gesagt hat/haben will. Dieser ganze falsche und moralinsaure Zimt wird ironischerweise auch von denen geteilt, die selbst anders leben wollen, Klauen gehen, sich (sehr zu Recht) vor der Arbeit drücken und den ganzen blöden Arbeitskult nicht mitmachen, weil sie die Emanzipation des Menschen als Ziel haben.
Der Moralismus ist - im Gegensatz zum Marxismus/Leninismus - wesentlich gebrochener, ja widersprüchlicher: Denn dass Ehe, Malochen, den Gesetzen gehorchen und Blumen giessen kein tolles Leben ist, und die bürgerlichen Normen Herrschaftsmoral sind, haben zumindest die meisten Autonomen und AnarchistInnen gecheckt. An die Stelle der herrschenden kommt eine alternative Moral, die kaum weniger repressiv durchgesetzt wird.
Den Staat abschaffen, wollen AnarchistInnen in der Regel - aber erklären können sie ihn nicht. Hat der traditionelle Anarchismus ihn entweder als fiese Idee von herrschsüchtigen Finsterlingen oder als notwendiges Durchgangsstadium zur freien Entwicklung der Menschheit, das jetzt nicht mehr benötigt wird, begriffen, teilen die meisten AnarchistInnen heute die vulgärmarxistische Ansicht, der Staat sei das reine Werkzeug der Kapitals.
Warum der Ausgang dieser Debatte irgendeinen Aufschluss darüber geben kann, ob der Staat abgeschafft werden sollte oder nicht, ist nicht so richtig nachvollziehbar. Wer die "Gesellschaft" (die ja echt klasse sein muss), vom Staat "befreien" will, der hat das Verhältnis Staat-Gesellschaft nicht begriffen.
Dass AnarchistInnen zudem oftmals politische Kämpfe als eine Art brutal ausgetragenen Ideenwettbewerb zur Lösung allgemein menschlicher Probleme halten - also nicht begreifen, dass der Kapitalismus zwar denen, die in ihm leben, jede Menge Probleme macht, damit aber gerade keine hat - teilen sie mit einer Vielzahl von Abteilungen bürgerlicher und "sozialistischer" Politik. Die bürgerliche Gesellschaft braucht den Staat als einen ihr gegenüberstehenden, scheinbar unabhängigen Gewaltapparat, weil die allgemeine Konkurrenz ohne einen Staat, der sie begrenzt, in der Tat zu Mord und Totschlag und zur letztendlichen Aufhebung der Konkurrenz führen würde.
Diese Konkurrenz richtet der Staat aber eben nicht nur ein, sie bringt ihn als gesellschaftliches Bedürfnis auch hervor. Das Geschäft läuft nur, weil die Gewalt sich nicht unmittelbar von ihm abhängig macht - und dennoch ist der Staat gerade dazu da, dass der Kapitalismus funktioniert. Die Ableitung des Staates aus der politischen Ökonomie, besagt aber gerade nicht, dass der Staat ein Instrument ist, das mensch doch auch für die guten und schönen Dinge (Sozialismus und so) benutzen kann. Im Gegenteil.
Nicht nur "die Gesellschaft", sondern auch "der Mensch" erfreuen sich ziemlicher Beliebtheit bei AnarchistInnen. Genau wie jeder Staatstheoretiker den Staat "dem Menschen" abgelauscht haben will , wissen auch AnarchistInnen oftmals wie "der Mensch" eigentlich ist.
Im theologischen Streit, ob "der Mensch" gut oder böse ist, ergreifen sie für ersteres Partei: Herrschaft ist der Sündenfall, die Revolution ist die Erlösung , Kapital und Staat versauen im Moment die Menschennatur, die mit allerlei Menschenrechten ausgestattet ist, welche aber blödsinnigerweise durch den Staat -der sie gewährt! - permanent verletzt werden. Bei soviel Unterdrückung der Menschennatur ist auch klar, dass die Unterdrückung der Natur überhaupt, in der eigentlich freiwillige Kooperation und Solidarität vorherrschen, ein recht böses Unterfangen ist ( Kropotkins "Gegenseitige Hilfe…", Veganismus, Tierrechte).
Dass es die Menschennatur gar nicht gibt, sondern die jeweiligen Menschen nur das Ensemble ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse sind, dass das Leben und Denken der Altsteinzeit wirklich keine Erklärung für heute ist und die Menschengattung eine leere Abstraktion ist, die nichts erklärt- dass alles wissen AnarchistInnen in der Regel nicht. (Kein Wunder, dass sich viele AnarchistInnen positiv auf den anthropologischen Unfug, den Marx in seinen Frühschriften abgelassen hat, beziehen.)
Darum auch die Begeisterung für "Völker ohne Regierung", die beweisen sollen, dass es auch ohne Staat geht.
Die Idealisierung vorstaatlicher (und vorkapitalistischer) Zustände ist ein romantischer Antikapitalismus. Als Idealbild taucht ein Mittelalter ohne Pest, Hungersnöte, Adelsherrschaft und Hexenverfolgung auf, mit ganz viel heimeliger Gemeinschaft ohne Herrschaft in überschaubaren dezentralen Einheiten. Bis dahin werden Stammesgesellschaften kräftig idealisiert, "natürliche" und "authentische" Lebensweisen gegen den Coca-Cola-Imperialismus verteidigt, über den bösen Individualismus hierzulande geschimpft und technischer Fortschritt und moderne Naturbeherrschung per se als Teufelszeug gebrandmarkt - auch von denen, die ganz schön viel von Selbstbestimmung und freier Entfaltung halten.
Der Staat ermöglicht die Konkurrenz aller gegen allen, die er den Leuten aufherrscht, indem er sie begrenzt.
Für ihren Erfolg in der Konkurrenz, auf den sie verpflichtet werden, brauchen die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft den Staat, der ihren Erfolg beeinträchtigt (Steuern) und sie in der Wahl ihrer Mittel beschränkt (Verbote), der ihr Mittel und zugleich ihre Schranke ist.
Das Gelingen dieser Konkurrenz im Inneren ist Voraussetzung für den Erfolg nach aussen in der Staatenkonkurrenz, und zwar sowohl der einzelnen Unternehmen, als auch des Staates überhaupt. Dessen Erfolg wiederum ist auch eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Unternehmen in seinem Land. Über dieses konfliktorische Verhältnis machen sich die politischen Theorien ihre Gedanken - mit dem Ziel des Bestehens in der Staatenkonkurrenz.
Der Liberalismus vertritt die Sorge um eine zu grosse Belastung der Privatsubjekte durch die staatlichen Garantieleistungen der Konkurrenz; der Konservatismus die umgekehrte Befürchtung, ein zuviel an Freiheit und zuwenig an staatlichen Garantien (u.a. "bewährter", traditioneller Voraussetzungen, die nicht Gegenstand der Konkurrenz werden sollen: Ehe, Familie, Religion) zerstöre die Gesellschaft.
Die Sozialdemokratie ist der angemeldete organisierte Anspruch, die Voraussetzungen der kapitalistischen Konkurrenz - zu denen eine funktionierende Arbeiterklasse gehört - gegen die Interessen des Kapitals zu schützen und die Opfer des Normalbetriebs als mögliche Voraussetzungen zu erhalten. Der Faschismus dagegen stellt sich auf den Standpunkt der Bewährung der Nation in der Staatenkonkurrenz, und fordert die Unterordnung aller Privatinteressen unter den Staat, das Aufgehen des Privatsubjekts in den Staatsbürger. Der Anarchismus ist genau das Gegenteil: Im Namen des Privatsubjekts bekämpft er die Gewalt , die dem angetan wird und verlangt die Abschaffung des Staates und des Staatsbürgers.
Deswegen ist der Anarchismus ursprünglich auch nichts anderes als radikalisierter Liberalismus (Godwin, Stirner, Mackay, mit Abstrichen Proudhon).
Erst als der Anarchismus in die Arbeiterbewegung einsickerte, wurde daraus etwas Kommunistisches: Statt der Parteinahme in der konfliktorischen Beziehung und sei sie noch so radikal, das Bemühen der Aufhebung des ganzen Verhältnisses.