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Guatemala: Auf der Kippe

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Justiz, die Lokomotive des Wandels Guatemala: Auf der Kippe

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Politik

Straflosigkeit ist ein Charakteristikum Guatemalas. Das von Gewalt gebeutelte ehemalige Bürgerkriegsland (1960-1996) scheint jedoch mit einer Reihe spektakulärer Prozesse auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit.

«Sicherheit durch Gerechtigkeit, nicht durch Waffen».
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«Sicherheit durch Gerechtigkeit, nicht durch Waffen». Foto: Knut Henkel (CC BY-SA 2.0 cropped)

Datum 14. März 2016
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Muxuk bedeutet so viel wie entweiht oder entwurzelt und genauso fühlt sich Doña Catalina. Die kleine Frau von Mitte sechzig ist eine der vierzehn Frauen von Sepur Zarco und stellt sich vor, wie es sein wird, wenn sie nach mehr als einem Monat in Guatemala-Stadt zurückkehrt in ihr Dorf. „Wie werden die Leute reagieren, werden die Freunde der Militärs nach Vergeltung suchen?“, fragt sie sich. Den ganzen Februar hat sie in Guatemalas Hauptstadt verbracht, um vor Gericht Recht einzufordern. Für eine Q'eqchi-Frau, eine der vielen Maya-Ethnien in Guatemala, alles andere als einfach.

Doch Doña Catalina ist nicht allein, zu vierzehnt sind sie vor Gericht gezogen und sie werden unterstützt von Anwälten, von Frauenorganisationen und den Psychologen der ECAP, einer psychosozialen Begleitorganisation. „Das gibt uns Kraft und wir wollen nicht nur die beiden Verantwortlichen für unser Martyrium im Gefängnis sehen, sondern auch unser Land zurück“, sagt Demecia Yat. Die 59-Jährige gehört ebenfalls zu der Gruppe der 14 Frauen, die am letzten Freitag (26.2.2016) nach der Urteilsverkündung ihren rechten Arm nach oben streckten und so Zustimmung zum Urteil signalisierten, das von Richterin Jassmín Barrios im grössten Gerichtssaal des Justizpalastes unter dem Landeswappen verlesen wurde.

360 Jahre für die Frauenrechte

Esteelmer Reyes Girón, Offizier und Kommandant des Militärpostens, wurde zu 30 Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs und der Versklavung der 14 Frauen verurteilt und zu weiteren 90 Jahren wegen der Ermordung von Dominga Choc und ihren beiden Töchtern. Sein Mitangeklagter, der Comisionado Militar Heriberto Valdez Asij, ein von der Armee eingesetzter Mittelsmann zur Zivilbevölkerung, wurde zu 240 Jahren Haft verurteilt. Er ist nicht nur für die Vergewaltigung und Versklavung der 14 Frauen von Sepur Zarco verantwortlich, sondern auch für das gewaltsame Verschwindenlassen von mindestens sieben der Ehemänner der Q'eqchi-Frauen.

Der Grund dafür war die Forderung der indigenen Bauern nach Landtiteln. „Sie hatten gegenüber dem Institut für Agrarreform Titel für das Land beansprucht, was ihre Familien seit Jahrzehnten bebauten. Damit hatten sie den Unwillen der örtlichen Grossgrundbesitzer erregt“, erklärt Anwältin Paula Barrios. Sie setzten die Militärs auf die aufmüpfigen Bauern an und die liessen sie am 25. August 1982 gewaltsam verschwinden. Als die Frauen beim Militärposten Sepur Zarco nach ihren Männern fragten, wurden sie von den Soldaten unter dem Befehl von Oberst Reyes festgenommen, vergewaltigt und versklavt. Bis zu sechs Jahren dauerte das Martyrium der Frauen, die nicht nur als Sexsklavinnen, sondern auch als Wäscherinnen und Köchinnen den Soldaten zu Diensten sein mussten.

Erst knapp dreissig Jahre später wurde der Fall durch die Recherchen der Nichtregierungsorganisation „Frauen verändern die Welt“ publik, die vor allem indigenen Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, juristische Hilfe anbietet. Vorsitzende der NGO ist Anwältin Paula Barrios, die die Frauen auch vor Gericht vertrat und ganz bewusst einen Präzedenzfall schaffen wollte: den ersten Vergewaltigungsprozess gegen Militärs. „Der öffnet die Tür für weitere Fälle und wir als Team von Anwält/innen bereiten mehrere Folgeprozesse vor“, so Barrios. Doch ihr geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart. Guatemala ist ähnlich wie Mexiko für Gewalt gegen Frauen bekannt. „Jedes Jahr werden 600 bis 700 Frauen ermordet und von den 15.000 Mädchen zwischen zwölf und 16 Jahren, die jedes Jahr schwanger werden, wurden viele vergewaltigt.“ Vom eigenen Vater, Verwandten oder Fremden auf dem Nachhauseweg.

Realitäten, die auch auf den überaus brutal geführten Bürgerkrieg (1960-1996) zurückzuführen sind, wo Armee und paramilitärische Selbstverteidigungspatrouillen (PAC) folterten, gewaltsam verschwinden liessen, mordeten und systematisch vergewaltigten. Auf 200.000 wird die Zahl der Toten geschätzt, auf mindestens 45.000 die der Verschwundenen. Eine Schätzung oder eine Studie über die Zahl der Vergewaltigungen gibt es jedoch nicht. „Ein historisches Defizit, denn schon der Bericht der kirchlichen Wahrheitskommission (Remhi) von 1998 geht von Tausenden von Vergewaltigungen aus“, so Luz Méndez, Vorsitzende der Frauenvereinigung Guatemalas (UNAMG).

Justiz: Lokomotive des Wandels

Für sie ist der Sepur Zarco-Prozess ein Meilenstein, denn erstmals wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe definiert, die den Gegner demütigen und demoralisieren sollte. „Zugleich waren die Frauen aber auch eine Kriegsbeute für die Soldaten“, so Méndez. Die Ex-Militärs haben es kaum für möglich gehalten verurteilt zu werden, wie ihr arrogantes Verhalten im Gerichtssaal nahelegt. Umso wichtiger war das Urteil für die Opfer, die in dieser Woche, am 4. März 2016, noch die Verhandlung über die Wiedergutmachung vor sich haben. Dort wird es um die Landansprüche der Frauen, aber auch um Vereinbarungen gehen, damit sich die Geschichte von Sepur Zarco nicht wiederholen kann.

Das ist für Doña Catalina und ihre Mitstreiterinnen extrem wichtig. Noch wichtiger ist es ihr jedoch, dass die historische Wahrheit bekannt wird. Das deckt sich mit den Aussagen der Opfer im Jahrhundertprozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt, der im Mai 2013 endete. „Dessen Revision wegen vermeintlicher Formfehler ist für den 16. März 2016 anberaumt“, so Edgar Pérez. Der Menschenrechtsanwalt vertritt die Opfer in diesem und anderen Prozessen und beobachtet die Entwicklung im Justizsektor Guatemalas aufmerksam. Der hat in den letzten zwei, drei Jahren Fortschritte gemacht.

Die Zahl der spektakulären Prozesse geht nach oben, es wird fundiert ermittelt und Nachforschungen gegen die politisch-militärischen Netzwerke sind kein Tabu mehr. „Das hat viel mit dem Vorgehen von Iván Velásquez, dem Leiter der CICIG zu tun, der keine Angst vor grossen Namen hat“. Velásquez, ein kolumbianischer Richter, leitet seit Oktober 2013 die seit 2007 bestehende Kommission der Vereinten Nationen gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG). Er ist in Guatemala ein Volksheld, weil er Beweise für Korruption auf höchster politischer Ebene vorlegte. Das war im April 2015. Da präsentierte die CICIG den Fall des Korruptionsnetzwerks „La Línea“, das im Zollwesen des Landes aktiv war und den Staat um Millionen prellte. Drahtzieher des Netzwerkes waren laut Dutzenden von der CICIG abgehörten Telefongesprächen Vizepräsidentin Roxana Baldetti und Präsident Otto Pérez Molina. Beide mussten zurücktreten, um den 10. März soll laut Richter Miguel Ángel Gálvez ihr Prozess beginnen.

Doch Generalstaatsanwältin Thelma Aldana hat noch ein Mammut-Verfahren in der Pipeline. Creompaz heisst der nach einem Militärcamp benannte Prozess, in dem sich die alte Garde aus Geheimdienst, Militär und Politik verantworten muss – für das gewaltsame Verschwindenlassen von mehr als 500 Menschen. Dieser Prozess hat für die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Udefegua, Claudia Samayoa, einen ähnlichen Stellenwert wie die Nürnberger Prozesse für Deutschland. „Mit diesem Prozess kommen wir der historischen Wahrheit deutlich näher“, argumentiert die 49-jährige. Für sie sind die 18 Militärs, die sich wahrscheinlich ab Anfang April vor Gericht verantworten müssen, das „Gesicht der Repression“.

Unklar ist jedoch, ob die militärisch-konservativen Kreise die Ermittlungen gegen ihre alte Garde so ohne weiteres hinnehmen werden. So weiss Claudia Samayoa von Gerüchten, dass Auftragskiller auf Staatsanwälte angesetzt sein sollen. Auch für Edgar Pérez sind die jüngsten juristische Erfolge nicht mehr als Etappensiege. „Es gibt nach wie vor Institutionen wie das Verfassungsgericht, die unter fragwürdigen Bedingungen besetzt wurden und es gibt auch eine Gegenbewegung – schliesslich steht der neue Präsident Jimmy Morales den Militärs sehr nahe“, argumentiert der 47-jährige Jurist.

Für ihn steht die Zukunft Guatemalas auf der Kippe. Das Pendel kann in die eine oder die andere Richtung ausschlagen: zurück zur omnipräsenten Korruption und Manipulation oder zum Rechtsstaat mit funktionierender Zivilgesellschaft. Genau deshalb sei die internationale Aufmerksamkeit so wichtig.

Knut Henkel
boell.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.