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Perspektiven für den Kampf in Argentinien

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Perspektiven für den Kampf in Argentinien Die Herausforderungen der radikalen Linken in Argentinien

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Politik

Argentinien wird momentan von einer schweren Wirtschaftskrise erschüttert. Allein im ersten Quartal 2024 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 5 %.

Demonstration in Buenois Aires gegen die Sparmassnahmen von Javier Milei, 2 Oktober 2024.
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Demonstration in Buenois Aires gegen die Sparmassnahmen von Javier Milei, 2 Oktober 2024. Foto: Ucriesidelplata (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 6. November 2024
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Die Inflation ist mit 271,5 % (Juni 2024) auf einem unvorstellbar hohem Niveau, was für eine soziale Katastrophe sorgt. 60 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 15 % haben nicht genug Geld, um ausreichend Lebensmittelmittel zu kaufen – Tendenz steigend. Die herrschenden Klassen haben mit dem rechten Präsidenten Milei einen treuen Diener, der die Krise auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abwälzen will. Auch wenn seine Regierung in Konflikte mit Teilen der herrschenden Klasse und der traditionellen politischen Eliten geraten ist, so stellt die Verabschiedung des Gesetzes der „Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier:innen“, kurz auch Ley Basis genannt, im Juni einen wichtigen Teilsieg Mileis dar.

Seiner Regierung geht es um nichts weniger als eine grundlegende neoliberale „Neuordnung“ des Landes durch die Zerstörung aller wesentlichen Errungenschaften der Lohnabhängigen einschliesslich der Arbeitslosen wie sämtlicher sozialer Bewegungen. Es geht nicht nur um extreme Kürzungen und allein schon durch Inflation und Arbeitslosigkeit herbeigeführte Verschlechterungen, sondern darum, der Arbeiter:innenklasse eine strategische Niederlage zuzufügen. Als ein Land mit beträchtlichen sozialen Bewegungen würde das Auswirkungen auf die gesamte Region haben. Ausserdem könnte die Politik Mileis als Blaupause für ähnliche Regime weltweit dienen. Die Arbeiter:innenklasse muss also definitiv ihre Kräfte bündeln, um in dem Kampf gegen Milei erfolgreich zu sein. Es geht um alles.

Das Wahlbündnis FIT-U

In früheren Ausgaben der Neuen Internationale haben wir uns ausführlich mit dem Programm Mileis auseinandergesetzt. Im Folgenden wollen wir uns der radikalen Linken zuwenden. Mehr als in jedem anderen Land der Welt ist diese in Argentinien seit Jahren trotzkistisch geprägt. Ihre Organisationen umfassen tausende Mitglieder. Die FIT-U (Frente de la Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Front der Linken und der Arbeiter:innen – Einheit) vereint die grössten dieser Gruppierungen in einem Wahlbündnis, das zur Zeit fünf Abgeordnete im Parlament stellt.

Die FIT-U wurde bereits 2011 gegründet. Die Gründungsorganisationen waren die Partido Obrero (Arbeiter:innenpartei; PO), die heutige Partido de los Trabajadores Socialistas (Sozialistische Arbeiter:nnenpartei; PTS) und die Izquierda del Trabajador por el Socialismo (Linke der Arbeiter:innen für den Sozialismus; IS). Im Jahr 2019 wurde die FIT-U durch den Beitritt der Movimiento Socialista de los Trabajadores (Sozialistische Bewegung der Arbeiter:innen; MST) verstärkt.

Erklärtes Ziel war es nicht nur, einer Politik links vom Peronismus höhere Bekanntheit zu verschaffen, sondern die Wahlkampagne sollte auch „die Arbeiter:innen auf die Aufgabe vorbereiten, für ihre eigene Regierung zu kämpfen.“ [1]

2011 erreichte die FIT-U mit 590.000 Stimmen einen ersten Wahlerfolg, auch wenn sie den Einzug ins Parlament verfehlte. 2013 gelang es dann, zwei Personen in den Kongress zu schicken. Seitdem ist die FIT-U dort ohne Unterbrechung vertreten, momentan mit 5 Abgeordneten. Davon waren anfangs vier von der PTS und einer von der PO. Über die Wahlperiode hinweg gibt es allerdings Rotationen, sodass die anderen beiden Organisationen entsprechend ihrer Stärke auch im Parlament repräsentiert sein werden. Dass sie momentan 5 Abgeordnete haben, ist ihrem guten Abschneiden 2021 zu verdanken, wo sie mit knapp 1,3 Millionen Stimmen ihr bisher stärkstes Ergebnis einfuhr. 2023, als die Hälfte der Sitze im Kongress neu verteilt wurde, schaffte sie nur knapp 800.000 Stimmen. Die Wahlergebnisse der FIT-U sind also starken Schwankungen unterlegen und sie hat trotz der massiven Wirtschaftskrise und der Krise der Peronismus kein kontinuierliches Wachstum an Wähler:innen zu verzeichnen gehabt. Zugleich aber wird deutlich, dass sie über eine Verankerung in Teilen der Arbeiter:innenavantgarde und unter den politisch fortschrittlichsten Teilen sozialer Bewegungen verfügt. Seit ihrer Gründung stellt sich daher die Frage, wie die FIT-U zu einer Kraft werden kann, die die Vorhut der Arbeiter:innenklasse organisiert, kämpferische Gewerkschafter:innen, soziale Bewegungen, Aktivist:innen, die sich vom Peronismus nach links bewegen, organisiert und sie zu einer im Klassenkampf sichtbaren Kraft vereinheitlicht.

Das Programm von 2011

Das ursprüngliche Programm der FIT-U von 2011 [2], das 2019 um einige Forderungen erweitert wurde, bildet bis heute ihre Basis. Es enthält eine Reihe von unmittelbaren und Übergangsforderungen wie jene nach Enteignung der Banken und grossen Unternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle. Es gipfelt in der Forderung nach einer „Regierung der Arbeiter:innen und des Volkes, die durch die Mobilisierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten erreicht wird.“

Unklar bleibt jedoch, wie diese Regierung geschaffen werden soll – ob durch den revolutionären Sturz des Kapitalismus und die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates oder durch „massiven Druck“. Im gesamten Programm kommen Arbeiter:innenräte und -milizen nicht vor. Auch wenn das dem Minimalkonsens zwischen den damals beteiligten Gruppierungen entsprochen haben mag, so liegt die entscheidende Schwäche dieses Fehlens darin, dass das Programm nicht aufzeigt, wie ein revolutionärer Bruch mit dem bürgerlichen System und dem Staat überhaupt zustanden kommen kann. Wir charakterisierten es damals als zentristisches Programm, als Kompromiss zwischen den beteiligten Gründungsorganisationen [3].

Diese und andere Schwächen spiegeln den Kompromisscharakter des Programms wider, einen Fundus von Gemeinsamkeiten, aber zugleich auch programmatischer Differenzen. Dies betraf nicht nur die Regierungsfrage, sondern auch die Politik in den Gewerkschaften, gegenüber dem Peronismus und der Arbeitslosenbewegung, um nur einige wichtige Punkte zu benennen. Darüber hinaus nahmen die Organisationen der FIT-U zu zentralen Fragen des internationalen Klassenkampfes unterschiedliche oder gar diametral entgegengesetzte Positionen ein. Doch statt in den folgenden Jahren eine Diskussion zwischen den beteiligten Gruppierungen wie auch den Wähler:innen der FIT-U zu organisieren, beschränkte sich diese bis heute darauf, als Wahlbündnis zu fungieren.

Reines Wahlbündnis

Es handelt sich nämlich wirklich nur um ein Wahlbündnis und nicht einmal um eine Allianz, welche gemeinsame Aktionen oder sogar Kampagnen plant und durchführt. Bei grossen Demonstrationen, wie bei den beiden eintätigen Generalstreiks des Jahres 2024 oder den Gedenkmärschen für die Opfer der Militärdiktatur, spricht man sich ab, wo wer läuft oder wo ihre Stände aufgebaut werden. Darüber hinaus gibt es keine gemeinsame Zusammenarbeit ausserhalb der Wahlen, die alle zwei Jahre stattfinden.

In der Zwischenzeit ist die FIT-U nur als Logo auf den Fahnen und Plakaten der einzelnen Organisation und natürlich vor allem durch die öffentlichkeitswirksame Arbeit ihrer Abgeordneten wahrnehmbar. Entsprechend gibt es auch keine gemeinsame und ständig arbeitende politische Führung.

Für die Wähler:innen gibt es auch keine Möglichkeit, bei der FIT-U selbst aktiv zu werden. Sie selbst hat nur vier Mitglieder, welches die einzelnen Organisationen sind. Es gibt keine lokalen Gruppen, in denen unorganisierte Wähler:innen aktiv werden könnten. Sie müssen sich einer der Mitgliedsorganisationen anschliessen, wenn sie sich politisch organisieren wollen. Dies ist allerdings eine grosse Hemmschwelle für Menschen, die zwar die Politik der FIT-U ungefähr kennen, sich aber bisher noch nicht intensiver mit der Politik und den programmatischen Unterschieden der einzelnen Mitgliedsorganisationen auseinandergesetzt haben, oder auch alle jenen, die keiner dieser Gruppierungen beitreten wollen.

Das ist einer der Gründe, warum das Wahlbündnis selbst stagniert und nicht mehr Menschen in Aktivität zieht. In Situationen wie dieser wäre es aber essentiell, um im Klassenkampf zu einer Kraft weiter anzuwachsen, die eine Perspektive weisen und eine reale Alternative für Millionen darstellen kann. Doch in den letzten Jahren hat sich bedauerlicherweise der Charakter der FIT-U als reine Wahlfront verfestigt. Auf rein elektoraler Ebene – und das ist das unwichtigste – zeigt sich eine Stagnation.

Programm von 2023

Hinzu kommt, dass es auf programmatischer Ebene ebenfalls keinen Fortschritt gibt. Im Gegenteil, das Wahlprogramm von 2023 „Diez puntos des Frente de Isquerada“ (10 Punkte der Front der Linken) [4] stellt gegenüber dem Gründungsprogramm einen politischen Rückschritt dar. Die zehn Punkte behandeln zentrale Nöte der Massen und erheben Forderungen, die einen wichtigen Bestandteil eines Sofortprogramms der Arbeiter:innenklasse umfassen wie Vereinheitlichung und Zentralisierung des Gesundheitssystems, ein Ende jeder Privatisierung, sofortige Lohn- und Rentenerhöhungen, die entschädigungslose Enteignung von Betrieben, die geschlossen werden oder Massenentlasungen planen, den Kampf für Arbeiter:innenkontrolle, massive Arbeitszeitverkürzung und ein Beschäftigungsprogramm gegen die Arbeitslosigkeit. Andere Forderungen richten sich gegen die Ausbeutung der natürlichen Bodenschätze durch Agrobusiness, Öl- und Bergbaukonzerne sowie gegen den IWF.

Aber anders als im Gründungsprogramm der FIT-U findet sich kein Wort zur Regierungsfrage. Es findet sich keine Forderung zur Konstituierung von Räten, geschweige denn Organisation von Selbstverteidigung gegen Angriffe der Polizei oder gar Entmachtung des Staates und Errichtung einer sozialistischen Räterepublik. Ebenso wenig findet sich im Wahlprogramm auch nur die Erwähnung einer Einheitsfront gegen die drohende Milei-Regierung und auch keine der Gewerkschaften (geschweige denn von Forderungen an diese).

Die vier Gruppierungen der FIT-U beschränkten sich bei den Wahlen legitimer Weise nicht auf die gemeinsame Wahlplattform und erhoben auch darüber hinausgehende Forderungen. Alle treten immer wieder für die Perspektive eine Arbeiter:innenregierung (oder einer Arbeiter:innen- und Volksregierung) ein; alle propagieren die Notwendigkeit grosser Massenkämpfe bis hin zum Generalstreik. Doch im Programm der FIT-U spiegelt sich das – anders als noch 2011 – nicht wider.

Zugleich wird die FIT-U in den Wahlkämpfen als „revolutionäre Front“ angepriesen, auch wenn sie eindeutig kein revolutionäres Programm zur Grundlage hat und keine andere gemeinsame Aktivität kennt als den Wahlantritt. Unserer Meinung nach zeigt sich hier ein tiefer Widerspruch. Einerseits zieht die FIT-U Hunderttausende an, die nach einer Antwort auf die tiefe Krise in Argentinien suchen und nach einer Alternative zum Peronismus. Doch diesen Menschen bietet sie keine über die Wahl hinausgehende politische Führung. Vom Versprechen ihrer Gründung, „die Arbeiter:innen auf die Aufgabe vorbereiten, für ihre eigene Regierung zu kämpfen“, bleibt bei der FIT-U als solcher nichts übrig. Das erledigen die vier Mitgliedsorganisationen (und andere konkurrierende Gruppierungen) notgedrungen jeweils selbst.

Damit bleibt die FIT-U aber hinter ihrem Potential und der aktuellen Aufgabe des Klassenkampfes zurück. In Argentinien erleben wir heute eine Klassenkonfrontation, die nur durch eine grundlegende Neubestimmung des Kräfteverhältnisses, mit tiefer, konterrevolutionärer Niederlage oder mit revolutionärem Sieg, enden kann. Auch wenn sich dieser Kampf noch über eine längere Periode hinziehen kann, so wird er nicht endlos dauern und insbesondere die zersetzende Kraft der Inflation und Verarmung droht, die Massen früher oder später zu zermürben, selbst wenn die Regierung reaktionäre Gesetzesvorhaben nur langsam durchziehen kann.

Wir wollen an dieser Stelle keineswegs die Schwierigkeiten auf diesem Weg ignorieren. Dass die FIT-U bis heute nur als Wahlbündnis existiert, geht natürlich nicht nur darauf zurück, dass alle vom Segen der Wahlerfolge in der öffentlichen Wahrnehmung und finanziell profitieren, sondern auch auf tiefe Differenzen zwischen den vier Gruppierungen.

Aber die aktuelle Zuspitzung des Klassenkampfe erfordert von der FIT-U und allen in ihr beteiligten Kräften auch, einen Plan vorzulegen, wie in dieser aktuellen Periode eine revolutionären Partei Realität werden kann, die Zehntausende organisiert und um die Führung der Massen kämpfen kann. Die einzelnen Gruppierungen der FIT-U werden für sich dazu alleine kaum in der Lage sein. Daher stellt sich die Frage, wie aus ihr (oder Teilen von ihr) eine solche werden kann. Die erste Voraussetzung dafür ist dabei, sich überhaupt diesem Problem zu stellen, die Aufgabe der Schaffung einer revolutionären Führung als aktuelle zu begreifen.

Die Organisationen der FIT-U

Wir wollen uns nun mit den drei grössten Organisation beschäftigen, die Teil der FIT-U sind, die ein etwa gleich starkes Gewicht in der argentischen Linken haben. Sie unterscheiden sich zum Teil erheblich in ihrer Einschätzung der Lage in Argentinien, ihrer Aufbautaktik und in ihrer Politik innerhalb der FIT-U.

Partido de los Trabajadores Socialistas – PTS

Die PTS ist zahlenmässig wohl die drittgrösste Organisationen der FIT-U. Sie entstand 1988 als Abspaltung von der morenistischen Movimiento al Socialismo (MAS). Sie ist die argentinische Sektion der Fracción Trotskista (FT) und auch mit Abstand deren grösste Einzelsektion. Mit ihrer theoretischen Grundlage haben wir uns bereits 2016 auseinandergesetzt [5].

Die PTS versteht ihre Politik als einen Bruch mit dem Morenismus und eine Wiederherstellung einer revolutionären trotzkistischen Tradition. Tatsächlich hat sie in diesem Jahr ein Aktionsprogramm [6] entwickelt, welches in zehn Punkten Forderungen für Argentinien aufstellt. Zunächst einmal ist zu sagen, dass es sehr löblich ist, dass sie überhaupt ein aktuelles programmatisches Papier veröffentlicht hat. Ausserdem geht dieses auch weit über das Wahlprogramm der FIT-U hinaus. Allerdings muss auch dieses Schriftstück immer noch als zentristisches Programm und nicht als revolutionäres Übergangsprogramm bezeichnet werden, obwohl es diesen Anspruch erhebt. Zwar fordert sie die Verstaatlichung der Industrie unter Arbeiter:innenkontrolle, ein Aussenhandelsmonopol und eine ganze Reihe wichtiger demokratischer und sozialer Massnahmen. Aber die Regierungsfrage bleibt vage. So heisst es am Ende ihres Programms:

„Angesichts der Pakte hinter dem Volk und gegen das IWF-Regime verteidigen wir den Kampf für eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung als demokratisches Gremium, um alle Institutionen, die uns regiert haben, in Frage zu stellen. Eine grosszügigere Demokratie würde den Kampf für eine Regierung von Arbeiter:innen auf der Grundlage ihrer eigenen demokratischen Organisationen im Rahmen des internationalen Kampfes für den Sozialismus von unten erleichtern.“

Unserer Meinung nach stellt die Losung der verfassunggebenden Versammlung für Argentinien keine zentrale Losung dar, schon gar nicht eine, um über deren „umfassendere Demokratie“ den Kampf für eine Arbeiter:innenregierung vorzubereiten. Im Gegenteil. Auch wenn wir Forderungen nach demokratischen Rechten und beispielsweise der Abschaffung des Zweikammernsystems befürworten, so ist Argentinien seit Jahrzehnten eine etablierte bürgerliche Demokratie. Die Losung der verfassunggebenden Versammlung hat hier keine entscheidende politische Sprengkraft und wir halten sie angesichts der anstehenden Aufgaben eher für eine Ablenkung vom Wesentlichen. Warum?

Wie die PTS und alle anderen Gruppierungen der FIT-U halten wir einen unbefristeten Generalstreik für unerlässlich, um die Angriffe Mileis zu stoppen. Ein solcher wirft aber anders als befristete, eintätige „Demonstrationsstreiks“ die Frage der Macht auf. Mileis Regierung wird versuchen, ihn zu brechen, die Gewerkschaftsführungen werden versuchen. ihn abzuwürgen, wenn sie ihn nicht verhindern konnten. Daher braucht es Massenversammlungen, die Wahl von Streikleitungen, eine landesweite Führung und Koordineration der Bewegung sowie Selbstverteidigungsorgane und die Agitation unter den Soldat:innen, sich nicht für die Repression der Bewegung herzugeben.

Aus den Aktions- und Streikkomitees können Räte, aus den Selbstverteidigungsorganisationen Arbeiter:innenmilizen entstehen, also eine Doppelherrschaft, die nur durch eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung und die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse aufgelöst werden kann.

Die Frage der Zerschlagung des bürgerlichen Staates, von Arbeiter:innen- oder Soldaten:innenräten oder der Aufbau von Selbstverteidigungskomitees kommen beim „Übergangsprogramm“ der PTS aber nicht vor.

Ein weiteres Problem betrifft die Einschätzung der Lage ihres letzten Kongresses und die daraus abgeleiteten Perspektiven. Die momentane Situation versteht die PTS als eine defensive Situation, in der es in den nächsten Monaten günstige Bedingungen gibt, sich durch die Beteiligung an Kämpfen in den Fabriken, an den Unis und in den Stadtteilkomitees zu stärken. Obwohl sie sich im Klaren darüber ist, dass die Angriffe der Regierung weitergehen werden, geht sie nicht davon aus, dass es in naher Zukunft eine entscheidende Niederlage der Arbeiter:innenklasse geben wird. Sie geht allerdings auch nicht davon aus, dass es möglich ist, eine Partei aufzubauen, die die Avantgarde der Klasse organisieren und um die Führung kämpfen kann. Dafür sei das Klassenkampfniveau zu niedrig.

Diese Einschätzung halten wir in zweifacher Hinsicht für falsch. Einerseits führt die Kapitalseite den Kampf mit extremer Intensität. Das Klassenkampfniveau ist eigentlich extrem hoch – allerdings bleibt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten weit hinter den Erfordernissen der Stunde zurück, wofür vor allem der Peronismus und die Gewerkschaftsführungen die politische Verantwortung tragen. In dieser Lage muss unserer Meinung nach eine revolutionäre Kraft bei aller Wichtigkeit von Teilkämpfen für die Propagierung und Agitation für eine Verallgemeinerung des Klassenwiderstandes eintreten. Auf einzelner betrieblicher oder sektoraler Ebene ist das Kräftverhältnis gerade in einer tiefen Wirtschaftskrise viel schlechter als auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und zentrale Probleme der Klasse wie die Inflation können nicht nur rein sektoral gelöst werden.

Entsprechend ihrem Aufbaukonzept und ihrer Analyse der Lage in Argentinien sieht die PTS keine Notwendigkeit, aus der FIT-U ein politisches Umgruppierungsprojekt zu gestalten. Letztere kommt in ihren Publikationen insgesamt kaum vor. Wenn sie erwähnt wird, dann eben nur als Wahlfront und mit dem Ziel, die Sichtbarkeit und Akzeptanz linker Politik zu verbreitern. Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass sie zur Zeit vier Parlamentsabgeordnete stellt und somit über grosses Gewicht innerhalb der FIT-U verfügt. Eine Öffnung der FIT-U für Unorganisierte könnte ihre Machtstellung gefährden und eine Konkretisierung ihres Programms könnte einen Teil der gemässigten Wähler:innenbasis abschrecken. Dies könnte den weiteren erfolgreichen Aufbau der PTS gefährden, weshalb sie lieber alles beim Alten belässt.

Movimiento Socialista de los Trabajadores – MST

Die mit der PO zusammen grösste Kraft innerhalb der FIT-U ist die MST. Sie entstand 1992 ebenfalls als Abspaltung der morenistischen MAS. Die mit ihr verbundene internationale Organisation ist die ISL (Internationale Sozialistische Liga).

Besonderes Gewicht hat die MST im privaten Gesundheitssektor sowie in der Arbeitslosenbewegung. Eine Besonderheit Argentiniens ist nämlich, dass Arbeitslose, wenn sie ihre staatliche Unterstützung bekommen wollen, in Arbeitslosenorganisationen (Piqueteros) gehen und sich als diese auch an Demonstrationen beteiligen müssen. Dies soll den sozialen Bewegungen in Argentinien Gewicht verleihen, auch weil viele Menschen arbeitslos sind. Die MST hat eine eigene Arbeitslosenorganisation mit dem Namen Unidad Piquetera, was es ihr erlaubt, viele tausend Menschen auf ihre Demonstrationen zu mobilisieren. Das Ziel ist es, mittels dieser Organisationen Agitation innerhalb der Arbeitslosen betreiben zu können und so einen Kontakt zu den am meisten prekarisierten Schichten der Klasse zu erlangen. Zudem versucht sie, mit diesen Organisationen in den Stadtteilkomitees zu intervenieren, die sich seit der Krise in Buenos Aires gebildet haben und sich oft um öffentliche Küchen gruppieren.

Die MST sieht die momentane Lage als sehr kritisch an. Die Angriffe der Regierung Milei verfolgen laut ihr das Ziel, das Land grundlegend zu verändern. Dies führe zu einer Polarisierung innerhalb der Bevölkerung. Deshalb erkennt sie die Möglichkeit an, dass die sozialen Kräfte, die in den letzten Monaten gegen die Regierung gekämpft haben, die Möglichkeit haben zu wachsen und in noch grössere Konfrontationen mit der Regierung zu geraten. Zudem erkennt die MST die Chance an, dass die sozialen Bewegungen die Regierung nicht nur bekämpfen, sondern auch stürzen können.

Sie ist sich aber im Klaren darüber, dass ihr eigenes Gewicht nicht ausreicht, um diese Kämpfe erfolgreich zu führen. Deshalb möchte sie die FIT-U aus einer reinen Wahlfront zu einer Sammelorganisation aller kämpfenden Sektoren werden lassen. Sie sieht das Bedürfnis dieser Aktivist:innen, über die einzelnen Kämpfe hinauszugehen und sich politisch zu organisieren. Die peronistischen Parteien haben selbst lange Zeit die Regierungen gestellt und letztlich auch Korruption, Inflation und eine Zusammenarbeit mit dem IWF gebracht und so den Boden für die Wahl von Milei bereitet. Deshalb sind die Massen von dieser Führung enttäuscht und wollen sich neu orientieren. Durch die bereits vorhandene Popularität der FIT-U kann diese ein Sammelbecken für Linke werden und eine neue und geeinte Bewegung hervorbringen. So schreibt sie in einem Brief an die anderen Organisationen der FIT-U [7]:

„Das Land steht vor einer neuen Etappe, einer Etappe mit mehr sozialen Konfrontationen und mehr politischen Auseinandersetzungen. Die FIT-Einheit muss sich dieser Situation stellen, nicht nur an der Seite der täglichen Kämpfe und in direkter Opposition zur Regierung, den Gouverneur:innen und Unternehmerverbänden, sondern auch als politische Alternative. Rebellischer, versammlungsfreudiger, demokratischer und offener für diejenigen, die unsere Vorstellungen von Veränderung teilen, um gemeinsam auf eine Arbeiter:innenregierung und den Sozialismus hinzuarbeiten.“

Um das zu erreichen, tritt sie dafür ein, dass es einen offenen Kongress der FIT-U gibt, an dem alle Aktivist:innen aus den Unis, den Stadtteilkomitees, Umweltaktivist:innen, Frauenrechtsaktivist:innen, linke Intellektuelle und Gewerkschafter:innen teilnehmen können. Auf einem solchen offenen Kongress, an dem tausende Menschen teilnehmen sollen, möchte sie die zukünftige Form der FIT-U demokratisch diskutieren. Sie selbst möchte auf einem solchen Kongress dafür argumentieren, dass die FIT-U sich für die Mitgliedschaft einzelner Aktivist:innen öffnet, dass sie Ortsgruppen sowie eine demokratisch gewählte Führung schafft. So soll sie rebellischer und demokratischer werden und sich in eine Partei verwandeln, in der die einzelnen Organisationen als Strömungen organisiert sind. Sie schlägt vor, dass sich die verschiedenen Strömungen auf einen Programmentwurf einigen und, wo sie keine Einigkeit erzielen können, diese zur Debatte und Abstimmung unter einer breiteren Mitgliedschaft stellen. Diese Vorgehensweise halten wir grundsätzlich für sinnvoll – offen ist jedoch, welches Programm genau die MST selbst vorschlagen würde.

Partido Obrero – PO

Die Partido Obrero wurde 1964 gegründet und ist als einzige der vier Gruppen der FIT-U keine Abspaltung von der morenistischen MAS. Sie schätzt die Lage in Argentinien so ein, dass die momentane Regierung entweder in einer entscheidenden Niederlage für die Arbeiter:innenklasse enden wird oder sie es schafft, die Regierung zu stürzen, und einen Weg eröffnet. die Krise in ihrem Interesse zu lösen.

Wie die MST hat auch die PO eine Piqueteroorganisation unter ihrer Führung. Sie trägt den Namen „Polo Obrero“. Sie ist der Meinung, dass die Piqueteros, die aus den Volksaufständen 2001 hervorgegangen sind, eine Vorreiterrolle in den Kämpfen dieses Jahrtausends gespielt haben. Polo Obrero ist eine der grössten Piqueteroorganisarionen in ganz Argentinien und deswegen auch von starker Repression seitens der Regierung betroffen, die die PO als heftigsten Angriff gegen ihre Partei in ihrer Geschichte bezeichnet. Gemeint sind über 120 Überfälle des Staates auf Suppenküchen im ganzen Land und die politische Verfolgung von Piqueteroaktivist:innen.

Programmatisch skizziert die PO einige Forderungen in ihrer politischen Deklaration, welche sie am 03.07.2024 veröffentlicht hat. Dort wird unter anderem ein Stopp der Zusammenarbeit mit dem IWF und der Schuldenzahlungen gefordert. Das Bankensystem und der Aussenhandel sollen verstaatlicht und die gesamte Wirtschafte unter Kontrolle der Arbeiter:innen gestellt werden. Dies soll mit einer Erhöhung der Löhne und Renten und deren Anpassung an die Inflation einhergehen. Auch die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung und die entschädigungslose Enteignung von Fabriken wird erwähnt. Um dies zu erreichen, soll ein Generalstreik organisiert werden.

Der programmatische Teil des Textes ist jedoch auch bei der PO extrem kurz und lässt die gleichen entscheidenden Fragen unerwähnt, die wir bereits im Teil über die PTS erwähnt haben. Dafür formulierte sie in ihrem Aktionsprogramm vom 23.07.2023 ihr Verständnis eines Arbeiter:innenstaats noch ein wenig aus. Er soll ein Staat neuen Typs sein und aus wähl- und abwählbaren Vertreter:innen der Klasse bestehen, die die Regierung formen. Im neuen Staat sollen die bürgerlichen Repressionsorgane durch Arbeiter:innenmilizen ersetzen werden. Auch Richter:innen und Staatsanwält:innen sollen zur Wahl stehen. Das sind alles wichtige Punkte, jedoch handelt es sich dabei eher um Maximalforderungen als um einen Kampfplan, wie man für eine solche Regierung im Hier und Jetzt aktiv werden kann.

Um einen Generalstreik zu organisieren, sollen die verschiedenen Organisationen der PO und die PO selbst Aktivist:innen neu gruppieren, unter ihnen agitieren und mit ihnen um die wichtigsten Tagesforderungen kämpfen. Dabei soll den Arbeiter:innen die verräterische Rolle des Peronismus aufgezeigt werden. Lokale Treffen von Gewerkschaftsaktivist:innen, Nachbarschaftsversammlungen und solche der Jugend sollen helfen, neue Aktivist:innen für die Partei zu rekrutieren und ihren Einfluss in diesen Sektoren zu erhöhen.

Es gibt in den jüngsten Kongressdokumenten der PO [8] jedoch keinen Aufruf, sich für diese Forderungen mit den anderen Organisationen innerhalb der FIT-U zusammenzutun. Auffallend ist, dass die FIT-U tatsächlich weder in der Deklaration noch in ihrem Aktionsprogramm oder ihren „Aufgaben und Schlussfolgerungen des 29. Kongresses der PO“ auch nur erwähnt wird! Auch findet sich keine Erwähnung der Einheitsfronttaktik gegenüber CGT und der CTA. Die PO verfügt also überhaupt über keine Taktik dafür, die Arbeiter:innenklasse vom Peronismus loszubrechen und zu vereinen. Dies wäre aber notwendig, wenn die PO die Regierung wirklich innerhalb der Amtszeit Mileis stürzen will, ausser sie denkt, dass sie das vollständig aus eigener Kraft tun kann.

Perspektiven für den Kampf in Argentinien

Wie die MST sind wir der Meinung, dass man die FIT-U für klassenkämpferische Gewerkschafter:innen, soziale Aktivist:innen und antikapitalistische Jugendliche öffnen sollte. Es müssen sich lokale Gruppen und eine permanent arbeitende Führung bilden, die die Aktivitäten der FIT-U planen und ausführen können. Ausserdem sollte unmittelbar die Debatte über ein neues Programm begonnen werden. Ein grosser öffentlicher Kongress, wie ihn die MST fordert, kann der Start einer solchen Entwicklung sein. So kann sich die FIT-U von einer reinen Wahlfront in eine neue Arbeiter:innenpartei verwandeln, die den verarmten Massen tatsächlich eine Perspektive bieten kann. Eine solche politische Kraft könnte auch die peronistischen Gewerkschaften tatsächlich herausfordern und sie in eine Einheitsfront zwingen. Nur so können die gesamte Klasse in den Kampf gezogen und linke Kräfte zur Führung der Arbeiter:innenklasse werden.

Die Wirtschaftskrise und kommenden Angriffe werden in den kommenden Monaten sicherlich noch mehr Menschen in Bewegung setzen. Die Möglichkeit für eine solche Entwicklung ist also momentan gegeben. Doch wenn die Niederlagen zu schwer werden, dann wird die Hoffnung und damit die Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse gebrochen werden. Es darf also keine Zeit verlorengehen.

Es muss allen Linken und Revolutionär:innen bewusst sein, dass es nicht ausreicht, immer wieder die einzelnen Angriffe Mileils abzuwehren. Seine Regierung ist klarer Klassenkampf von oben. Sollte er sein Programm weiter durchsetzen können, droht sein Modell, nicht nur das Leben der argentinischen Arbeiter:innenklasse zu zerstören, sondern auch das in anderen Ländern. Deswegen muss es Aufgabe sein, die Angriffe nicht nur abzuwehren, sondern sich aus der Defensive zu zerren. Sprich: Die Forderungen nach Verstaatlichung bestimmter Sektoren unter Arbeiter:innenkontrolle, sowie die entschädigungslose Enteignung von Betrieben, die geschlossen werden oder Massenentlasungen planen, die die FIT-U aufstellt, sind dabei richtig. Sie können jedoch nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn sich die beteiligten Gruppen dazu entschliessen, gemeinsame Kampagnen dazu zu starten, mit dem Ziel, die Gewerkschaften in Bewegung zu bringen und letztenendes die Regierung Milei zu stürzen.

Letztlich kann nur ein unbefristeter Generalstreik die Angriffe der Regierung stoppen. Er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben Mileis kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen Inflation, Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass sie aufhören muss, als blosse Wahlfront zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Strassen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.

Jonathan Frühling / Martin Suchanek