Im November hat ein Communiqué “aus den Bergen des Südostens Mexikos” verkündet, dass die Zapatistischen Rebellischen Autonomen Landkreise (MAREZ) und der Räte der Guten Regierung (juntas de buen gobierno, JBG) aufgelöst wurden. In den sozialen Medien wurde das zum Teil als ein Scheitern der zapatistischen Bewegung aufgefasst und bedauert. Um der Verwirrung und Unklarheit entgegenzuwirken, haben wir einige Personen aus der Zapatista-Solidaritätsbewegung gebeten, eine Einordnung vorzunehmen.
Klar ist: Der Widerstand und die Autonomie in Chiapas wird weiterhin bestehen. Die Zapatistas führen lediglich eine Reorganisation ihrer Strukturen durch. Im Communiqué vom 12. November 2023 schreiben sie deutlich: “So lange es eine, einen, eine*n Zapatista in irgendeinem Winkel dieses Planeten gibt, werden wir in Rebellion widerstehen, das heisst, werden wir kämpfen.”[1]
Verwaltungstechnisch verschiebt sich der Schwerpunkt von den Zonen und Regionen hin zu den Basisgemeinden (siehe Infobox unten). Das ist auch das Resultat einer längeren Evaluation, wie sie am 15. November[2] erklärten. Die MAREZ und JBG waren wertvolle “Schulen der Selbstregierung”, Schulen der praktischen Autonomie. Theorien, Diskurse und Bücher genügen nicht; Autonomie bedeutet Tun. Dabei stellen sie selbstkritisch fest, dass die bisherige Organisationsform ihrem basisdemokratischen Anspruch (“von unten”) nicht gerecht wurden, weil sie immer noch zu “pyramidal”[3] war. Konsequent weiter gedacht heisst das, dass die Basis gestärkt werden muss. “Deshalb haben wir die Pyramide gekürzt. Wir haben sie von der Spitze her abgeschnitten. Oder besser, wir haben sie umgedreht, auf den Kopf gestellt.”[4]
“Kartelle sind quasi Armeen”
Ein Hauptgrund für diesen “Rückzug ins Lokale” dürfte aber auch die organisierte Kriminalität sein, die extreme Ausmasse angenommen hat, sowie die laufende Militarisierung, Repression und paramilitärische Gewalt. Der Drogenkrieg in Mexiko hat sich vom Norden in den Süden verschoben, an die Grenze zu Guatemala, die für die Kartelle wichtig ist. Ihre Macht beruht nicht nur darauf, dass sie den Drogenschmuggel unter ihrer Kontrolle haben, sondern auch die Migration “verwalten”. Menschenrechtsbeobachtungs-Einsätze sind in der Region praktisch nicht mehr möglich, weil es zu gefährlich ist. Für die zapatistischen Strukturen, die den Kartellen ein Dorn im Auge sind, wird es immer enger. Die Angriffe haben in letzter Zeit sehr zugenommen.Konnten die Zapatistas der bisherigen strukturellen Gewalt und Ungerechtigkeit mit sozialen und politischen Massnahmen begegnen, beispielsweise mit Landbesetzungen, so sehen sie sich jetzt mit roher physischer Gewalt konfrontiert – eine Bedrohung, auf die sie keine Antwort haben, schon gar nicht auf militärischer Ebene. “Kartelle sind quasi Armeen”, meint eine Person aus der Solibewegung. Ihre persönliche Einschätzung: Die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) sei zwar eine Guerrilla-Begegnung, aber nicht darauf vorbereitet, einen Guerillakrieg gegen die Kartelle zu führen, und besitze nicht genügend Waffen dazu.
Der Spielraum für die Zapatistas wird somit immer kleiner. Bestand früher eine Doppelmacht-Situation – Zapatistas auf der einen Seite, der mexikanische Staat auf der anderen Seite – ist nun mit den Kartellen eine dritte Macht hinzu gekommen. Laut der Auskunftperson seien viele Leute zu den Zapatistas gegangen, weil sie Aufgaben, die der Staat erfüllen sollte, wie etwa Schulen, besser erfüllen konnten, und weil ihre Strukturen nicht korrupt waren. Heute werde es aber immer schwieriger, offen Autonomie aufzubauen.
Ein Problem ist, dass die bestehenden zapatistischen Strukturen in der Nähe von grossen Städten (z. B. San Cristóbal, Altamirano) und Verbindungsstrassen gelegen sind, die für die Kartelle interessant sind. Zwei der ursprünglichen Caracoles liegen im Gebiet zwischen den Montes Azules an der Grenze und weiter nördlich gelegenen Städten Ocosingo und Palenque. Diese bergige, bewaldete Region wird auch von Migrant*innen genutzt. Eine weitere Route verläuft weiter westlich, an der Pazifikküste. In all diesen Regionen sind die Kartelle sehr aktiv, und die Carcoles entsprechend gefährdet. Früher, als der Drogenkrieg vor allem im Norden stattfand, war die Lage weniger schlimm. Zu all dem kommt aktuell noch der Tren Maya hinzu, ein Megaprojekt, an dem die Kartelle über ihre legalen Fronten ebenfalls beteiligt sind.
Die Reorganisation stärkt die autonomen Strukturen
Die Auskunftsperson betont, dass nicht bekannt ist, was die Pläne der EZLN sind. Sie ist dennoch überzeugt: “Die Zapatistas werden die Positionen, die sie in den letzten Jahren gewonnen haben, nicht einfach aufgeben.” Eine realistische Möglichkeit sei ein Rückzug an die Basis. Die Caracoles seien zu “Zielscheiben” geworden und hätten deshalb ihre Funktion aufgegeben. Das Bestreben, Autonomie aufzubauen, sei weiterhin da, aber es werde mit anderen Mitteln geschehen.Eine weitere Person aus der Zapatista-Solidaritätsbewegung teilt diese Meinung. Die bisherigen Zivilstrukturen der Juntas und MAREZ seien geschlossen worden, um die Angreifbarkeit zu verringern. Ein Grund, der für den Rückzug ins Lokale spricht, ist auch (so die Interpretation der Auskunftsperson), dass sich die Reisezeit auf den Strassen verringert. Wenn Verwaltungsbeauftragte von Ort zu Ort reisen, müssen sie Strassensperren passieren und sind Angriffen ausgesetzt.
Nun findet auf noch kleinerer Ebene – wo die Zapatistas ja vorher schon stark organisiert waren – eine neue Organisierung statt. “Das ist kein Zeichen der Schwäche, sondern eher eine Bestätigung der autonomen Strukturen”, betont die Person. Es handle sich nicht nur um eine Reaktion auf die Gewalt, sondern um einen Prozess, der gemäss Communiqué vor zehn Jahren begonnen und in den letzten drei Jahren intensiviert worden sei.
Wie bereits eingangs erwähnt wurde: Die Stärkung der Basisebene kann auch als logische Konsequenz aus den gesammelten Erfahrungen mit den MAREZ und JGB verstanden werden. Ob die Zapatistas vor zehn Jahren schon wussten, dass sich die Gewaltsituation derart zuspitzen würde, darüber lässt sich nur spekulieren.[5]
Drogenkrieg lässt sich nicht mit Gewalt lösen
Die weitere Entwicklung hängt auch davon ab, wie sich soziale Bewegungen und Selbstverteidigungsgruppen in anderen mexikanischen Bundesstaaten verhalten werden. Der Drogenkrieg lässt sich jedoch nicht mit Gewalt lösen. Anders als in Hollywoodfilmen genügt es nicht, den Kopf einer kriminellen Organisation zu eliminieren. In der Realität spriessen immer weitere Kartelle, Sub-Kartelle und Fraktionen hervor, die sich gegenseitig bekämpfen, was zu noch mehr Gewalt führt. “Es ist ein mega Chaos”, so die Auskunftsperson. “Ich befürchte, es werden sehr schwere Zeiten für Indigene und Zapatistas kommen.” Ein Hinweis auf der Ernst der Lage ist, dass die Zapatistas inzwischen den internationalen Unterstützer*innen davon abraten, nach Chiapas zu kommen, weil sie nicht für ihre Sicherheit garantierten können.Festzuhalten ist, dass die grösste Verantwortung für den Drogenkrieg bei den USA liegt, die eine Gewaltspirale in Gang getreten haben. Die aktuelle Situation kann demnach als eine Konsequenz neoliberaler Politik angesehen werden, die zu einer völligen Sinnlosigkeit führt, in der es keine Gewinner*innen gibt.
Einzig soziale Massnahmen könnten etwas gegen den Drogenkrieg ausrichten, aber der Staat (der zudem auf allen Ebenen mit der organisierten Kriminalität verflochten ist), nimmt diese Verantwortung nicht wahr, und wenn soziale Massnahmen “von unten” ergriffen werden, setzen die Kartelle alles daran, diese zu zerstören.
Neue Aufgaben für die EZLN?
Interessant ist auch, dass im letzten Communiqué der Unterschied zwischen der militärischen Organisation EZLN und den zivilen Strukturen gemacht wird: Die pyramidale Form passe vielleicht für das Militärische, aber nicht für das Zivile. Da stellt sich die Frage: Wie ist momentan die Funktion der EZLN einzuordnen?Die zweite Auskunftsperson sieht aktuell eine Stärkung der EZLN, beziehungsweise, dass ihr andere, neue Rollen zukommen. Bisher sei die Frage im Raum gestanden, ob die EZLN, wenn sie nicht imstande sei, die Bevölkerung wirklich militärisch zu schützen, nur etwas Symbolisches sei. Neu sei das Bestreben da, die EZLN in ein anderes Licht zu rücken. Was das genau bedeutet, ist noch unklar. „Ich glaube nicht, dass sie offen angreifen und Waffengewalt anwenden werden“, meint die Person. Das würde den Grundsätzen der Zapatistas widersprechen. Aber es gehe darum, welche Art von Guerrilla-Strategie zum jetzigen Zeitpunkt angemessen sei. „Sie wollen die Bevölkerung besser schützen können“, ist die Person überzeugt.
Mögliche Strategien für die Zukunft – Solidarität ist gefragt
Obwohl nicht bekannt ist, was die EZLN plant, sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. (Anmerkung: Im Folgenden handelt es sich um rein subjektive Einschätzungen.) Denkbar ist, laut der ersten Auskunftsperson, etwa ein Rückzug in Gebiete, die weniger unter dem Einfluss der Kartelle stehen. Oder ein Aussitzen der Situation, ein Hoffen auf bessere Zeiten. Oder aber: eine grosse, landesweite politische Initiative, vielleicht zusammen mit dem Indigenen-Kongress CNI. Die Probleme mit der organisierten Kriminalität ist nämlich nicht auf Chiapas beschränkt. Denkbar wäre eine Kampagne mit sozialen Bewegungen, beispielsweise ein Marsch auf Mexiko-Stadt. Eine solche Karawane wäre nicht so leicht angreifbar. Zudem leiden nicht nur die Zapatistas unter den Kartellen und der Militarisierung, sondern auch die übrige Bevölkerung. Schliesslich sind die existierenden Machtverhältnisse auch mit ökonomischer Ausbeutung verknüpft.Schon 1994, als die EZLN erstmals öffentlich in Erscheinung trat, stellte sie nach nur zwei Wochen ihre militärischen Aktionen ein und setzte auf die Zivilbevölkerung. Gut möglich, dass sie in der jetzigen Situation dieselbe Strategie ergreift.
Die eine Auskunftperson vermutet (auch hier: eine rein persönliche Einschätzung), dass in nächster Zeit seitens der Zapatistas Funkstille herrschen wird oder dass sie nur wenige Communiqués veröffentlichen, die nicht viel verraten, aber dass für die Zukunft etwas Grösseres geplant ist. Aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit sei damit zu rechnen, dass sie auf die Öffentlichkeit setzen: „Dann werden auch wir in Europa gefragt sein, diese Sache zu unterstützen.“ Vielleicht wird das auch eine Gelegenheit sein, die Solidaritätsstrukturen, die abgesehen von Sitzungen an Mobilisierungskraft eingebüsst hat, wieder neu aufzustellen.
Denn was im Moment abläuft, ist mehr als nur eine Reorganisation, wie im letzten Communiqué zu lesen ist. “Es ist gleichsam eine neue Initiative. Eine neue Herausforderung.”[6]
Kurz erklärt: Reorganisation der zapatistischen Strukturen
- Konkret verschiebt sich der bisherige Fokus von der 3. und 2. Verwaltungsebene (Zone und Region) zur 1. Ebene, d. h. an die Basis, zur lokalen Ebene.
- Bisher standen die MAREZ (2. Ebene; regionale Verwaltungseinheiten, “Zapatistische Autonome Rebellische Landkreise”) und die JBG (3. Ebene; “Räte der Guten Regierung”) stark im Vordergrund, auch was die Aussenwahrnehmung betraf. Hier fand ein grosser Teil der Koordination statt.
- Die “Caracoles”, die Verwaltungszentren auf der regionalen Ebene, wurden bereits vor einiger Zeit für Aussenstehende geschlossen.
- Der Fokus der Koordination dezentralisiert sich jetzt zu den Basisgemeinden. Diese unterscheiden sich von Ort zu Ort in ihrer Ausgestaltung und ihren Selbstbezeichnungen (Pueblo, Ranchería, Comunidad, Siedlung, Ortsteil, Ejido, Colonia). In ihrer Funktion als 1. Verwaltungebene ist diesen lokalen Strukturen die Abkürzung GAL zugeordnet (“Gobierno Autónomo Local”, Lokale Autonome Regierung). Statt Dutzenden von MAREZ gibt es nun Tausende von GAL, heisst es im Communiqué.
- Entscheidungen werden von den lokalen Versammlungen (asambleas) getroffen. Für die Ausführung sind lokale Beauftragte bzw. Bevollmächtigte zuständig.
- Die Entscheidungsmacht lag schon früher auf der Basisebene; neu ist eher die Gewichtung, also dass sich der Verwaltungs- und Koordinationsschwerpunkt ebenfalls an die Basis verschiebt. Eine Vernetzung auf 2. und 3. Ebene (und 4. Ebene: zonenübergreifend) findet weiterhin statt, nur steht diese nicht mehr so stark im Mittelpunkt.