Putin eskaliert nicht, weil er sich bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine auf der Siegesstrasse wähnt.[6] Und das in doppelter Hinsicht. Zum einen führt der langwierige Abnutzungskrieg dazu, dass das grössere russische Ressourcenpotenzial immer stärker zum Tragen kommt. Die Geländegewinne Russlands im Osten beschleunigen sich, während die ukrainische Armee kaum noch in der Lage ist, genügend Menschenmaterial für die Front zu mobilisieren. Die Drohne und die Informationstechnik funktionieren als der grosse Gleichmacher auf dem Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts, was eine offensive Kriegsführung erschwert – ähnlich dem Maschinengewehr während des Ersten Weltkrieges.
Was bleibt, ist die Verfeuerung von Material und Menschen an der weitgehend statischen Front, bis eine der Kriegsparteien kollabiert. Deswegen sind gerade die graduellen Erfolge Russlands im Osten so entscheidend, da hierbei die am besten ausgebauten Verteidigungslinien der Ukraine überwunden wurden. Jede weitere ukrainische Frontlinie wird schwächer verteidigt werden. Da der Westen in der Ukraine aller Voraussicht nach nicht direkt intervenieren wird, will es das blutige Gesetz der Kriegsmathematik, dass Kiew bei dem Abnutzungskrieg, sollte er bis zur letzten Konsequenz geführt werden, unterliegen muss.
Eskalationslogik und Abnutzungskrieg
Die einzige realistische Chance auf einen militärischen Sieg Kiews bestand in einer Erschütterung der russischen Machtvertikale, wie sie sich bei der Revolte der Wagner-Truppe um den Söldnerführer Prigoschin abzeichnete.[7] Doch dieser wurde vom Kreml inzwischen beseitigt, sodass der Opposition innerhalb der russischen Staatsoligarchie ein militärisch-organisatorischer Kern fehlt, an dem sich ein Oligarchenaufstand gegen den desaströsen Krieg Putins – dieser ist auch für Russland ein sozioökonomisches und demografisches Desaster – entzünden könnte. Deswegen werden auch aktuell alle schlechten Nachrichten von der russischen Wirtschaftsfront im Westen begierig aufgenommen, da hierbei auf innenpolitische Destabilisierung spekuliert wird.Ähnlich spekuliert der Kreml. Russlands winterliche Terrorkampagne gegen die ukrainische Infrastruktur, insbesondere gegen den Energiesektor der Ukraine, hat die Erosion der Moral und Widerstandsfähigkeit der ukrainischen “Heimatfront” zum Ziel, um so die innenpolitische Machtprojektion und Mobilisierungsfähigkeit Kiews zu minimieren und letztendlich zu zerstören. Die zunehmenden Desertationen in der ukrainischen Armee zeigen, dass diese Zermürbungstaktik im Rahmen des Abnutzungskriegs erfolgreich ist.[8]
Worauf eigentlich beide Seiten – realistisch betrachtet – abzielen können, ist die Erosion der Staatlichkeit der gegnerischen Kriegspartei. Eine andere Form des Sieges, insbesondere gegen Russland, ist kaum noch denkbar. Der feindliche Staat soll zum Failed State werden – dieses Kriegsziel ist in der Tat realistisch, weil es in dem krisenhaften Lauf der Dinge eingewoben ist. Die Krise des Kapitals lässt Staatsapparate verrohen, in Zerfall übergehen – der Krieg beschleunigt diese Tendenz nur. Die militärische Auseinandersetzung als Endform geopolitischer Krisenkonkurrenz bildet faktisch das Medium, in dem dieser Krisenprozess sich nun vollziehen wird.
Den Sieg vor Augen scheint der Kreml aber vor allem aufgrund der Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump zu haben. Trump erklärte immer wieder im Wahlkampf, den Ukraine-Krieg rasch durch Verhandlungen beenden zu können. Für den Kreml scheint somit die Aussicht auf einen Siegfrieden am Verhandlungstisch realistisch – zumal die USA nun in offene Faschisierung eintreten, samt einem reaktionären politischen Klima und einer oligarchischen Machtstruktur, wie sie auch für das Russland der putinischen Senatsoligarchie charakteristisch ist. Es ist offensichtlich, dass die Krise des Kapitals in den westlichen Zentren inzwischen so weit vorangeschritten ist, dass sie sich den zerrütteten machtpolitischen Strukturen der postsowjetischen Semiperipherie annähern. Ein dreckiger geopolitischer Deal auf dem Leichnam der Ukraine, ausgeheckt von autoritären Führern hochkorrupter, faschistoider, oligarchischer Staatsmonster, darauf hofft der Kreml in diesem Jahr.
Womit wir wieder bei den eingangs erwähnten roten Linien des Kreml wären, die durch den Westen Ende 2024 in Gestalt weitreichender Raketenschläge aufs russische Hinterland überschritten wurden. Aus der Perspektive Moskaus scheint es so, dass diese Angriffe nur bis zum 20. Januar hingenommen werden müssen, bis zum Amtsantritt Trumps. Wozu einen Atomkrieg riskieren, wenn der Sieg so nah scheint? Im Westen – in Washington wie in vielen Hauptstädten der EU – greift hingegen Torschlusspanik um sich. Vieles von dem, was nach der Wahl Trumps von Washington oder der EU aussenpolitisch initiiert wurde, dient dazu, geopolitische Prozesse und Entwicklungen irreversibel zu machen. Den faschistoiden Terrorclowns, die bald in Washington ihren Unilateralismus, Nationalismus und Imperialismus ausleben dürften, sollen möglichst viele Optionen genommen werden.
Die Ukraine wird ein letztes Mal mit Waffen versorgt, ihre Verhandlungsposition soll durch weitreichende militärische Optionen verbessert werden, während die Unfähigkeit der korruptionszerfressenen russischen Armee, das Drohnenpatt an der Front zu überwinden und zu tiefreichenden Frontdurchbrüchen überzugehen, etwaigen Verhandlungen Zeit verschaffen soll.
Nukleares russisches Roulette
Doch faktisch handelt es sich nur noch um Schadensminimierung, da die Niederlage des Westens beim Kampf um die Ukraine längst selbst im Westen offen diskutiert wird.[9] Wieviel Ukraine wird man dem russischen Imperialismus zum Frass vorwerfen müssen, um den Krieg zu beenden – dies ist inzwischen die Logik, die auch in westlichen Denkfabriken Einzug hält. Diskutiert wird nur noch die Frage, ob es möglich sein wird, der “Restukraine” irgendeine Art von Souveränität zu verschaffen. Das Überschreiten der letzten putinischen Roten Linie, die klare Eskalation, die von den USA in dem Interregnum zwischen Biden und Trump gesucht wurde, sie dient praktisch nur noch dazu, den Preis in die Höhe zu treiben, den Russland für seinen Sieg in der Ukraine zu zahlen hat.Es war eine Art nukleares russisches Roulette, das beide Seiten Ende November 2024 spielten. Weitgehend von der westlichen Öffentlichkeit unbeachtet, befand sich das spätkapitalistische Weltsystem tagelang am Rand einer nuklearen Eskalation. Der Unterschied zur Kuba-Krise bestand vor allem darin, dass 1962 die Welt in Schockstarre den Atem anhielt, während heute die Drohungen Putins nur noch lästig sind, kaum beachtet werden. Der ideologisch ummantelte Todesdrang, den das Kapital in seiner Agonie in vielfacher Gestalt produziert, äussert sich nicht nur im individuellen Amoklauf, im islamistischen Sebstmordanschlag, in der verbissenen Klimakrisenkrisenleugnung der Neuen Rechten oder der Pestliebe der deutschen Querfront.
Er kommt auch in der Sehnsucht nach dem grossen Knall zum Ausdruck, der endlich Ruhe vor den krisenbedingt zunehmenden Widersprüchen herstellen würde. Es ist die Sehnsucht nach der Leere des Todes, die etwa den Wahnsinn des Nuklearkrieges ernsthaft diskutieren lässt.[10] Dicht unter der Oberfläche der offiziellen Rhetorik von Interessen und Einflusssphären, teilweise schon offen zu Tage tretend, lauert die dem Kapitalismus inhärente Irrationalität. An seine systemischen inneren und äusseren Schranken stossend, droht das Kapital dem Zivilisationsprozess in einem Grosskrieg ein Ende zu bereiten. Diese objektive, autodestruktive Krisentendenz des an seinen Widersprüchen zerbrechenden Kapitals droht durch eben die zunehmenden geopolitischen Spannungen zur Entladung gebracht zu werden.
Die neue Volatilität in der geopolitischen Sphäre, der auch in den Zentren zunehmende Hang zum Krieg als Mittel der Politik, die Bereitschaft, immer grössere militärische Risiken einzugehen – sie sind Ausdruck der neuen Krisenphase, in die das kapitalistische Weltsystem nach der Erschöpfung der neoliberalen Defizitkonjunkturen eintritt. Die Krisenära des Neoliberalismus mit seinem globalen Schuldenturmbau, den korespondierenden Spekulationsblasen und seinen Weltordnungskriegen in der Peripherie geht mit der abermaligen Wahl Trumps endgültig zu Ende. Es folgt nun die Phase der offenen autoritären Krisenverwaltung, staatlicher Erosion und militärischer Auseinandersetzungen auf allen Ebenen – auch zwischen den Zentren des Weltsystems (siehe “Eine neue Krisenqualität”).[11] Putins staatsoligarchisches Russland, das autoritär regierte Belarus – sie manifestieren in ihrem labilen Autoritarismus die Zukunft der Krisenverwaltung.
Multipolare Weltunordnung
Allen Staatsmonstern sitzt die Krise im Nacken, alle bemühen sich, die sich zuspitzenden sozioökologischen Widersprüche, das ansteigende Krisenpotential und die zunehmende Instabilität durch äussere Expansion oder das Abwälzen der Widersprüche auf Konkurrenten zu kompensieren. Putin überfiel die Ukraine aus einer Position der Schwäche, gerade weil sein postsowjetischer Hinterhof zunehmend erodierte.[12] Die USA müssen die Position des Dollars als Weltgeld verteidigen, da sie ansonsten zu einem waffenstarrenden Griechenland verkommen würden.Und alle Akteure müssen sich darum bemühen, angesichts der voranschreitenden ökologischen Krise um jeden Preis Ressourcen und Rohstoffe zu sichern. Der Charakter des imperialistischen Geschachers um die Ukraine wandelte sich gerade im Gefolge der Pandemie und der damit einhergehenden Versorgungsengpässe. Ging es bei der ersten militärischen Eskalationsrunde 2014 vor allem um die geopolitische Einbindung der Ukraine in konkurrierende Bündnissysteme – in Russlands eurasische Union oder EU und Nato -, so gerieten nach der Pandemie die grossen Ressourcenlagerstätten in den Fokus des krisenimperialistischen Kalküls.[13] Das imperiale Konzept des Kreml, das Energieimperium, zielt gerade auf die Kontrolle von Energieträgern und Rohstoffen ab. Doch inzwischen argumentieren auch die USA unverhohlen auf dieser Linie hinsichtlich der Ukraine.[14]
Waren es in der neoliberalen Ära vor allem Exportüberschüsse, die zu Handelskonflikten und dem zunehmenden Protektionismus führten, so sind es jetzt handfeste militärische Optionen, die erwogen werden zur Realisierung von Staatsinteressen, die durch den Krisenprozess präformiert sind. Je weiter die Krise in ihrer ökologischen Dimension voranschreitet, desto grösser ist der Ressourcenhunger der stotternden Verwertungsmaschine. Die Eisschmelze in der Arktis befeuert einfach nur einen zunehmenden imperialistischen Weltlauf um die Rohstoffe unter der rapide schmelzenden Eisdecke.[15] Bis zu den bizarren, klischeehaft imperialen Fieberfantasien Trumps, der plötzlich Grönland begehrt.[16]
Den Kipppunkt vom Neoliberalismus zum Neonationalismus markierte der pandemiebedingte Krisenschub, als zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine hartnäckige Inflationsdynamik aufkam,[17] die der langjährigen, durch expansive Geldpolitik befeuerten globalen Defizitkonjunktur den Treibstoff entzog.[18] Die Versorgungsengpässe samt der Belastung der globalen Produktionsketten liessen zudem das Szenario ausgewachsener Ressourcen- und Rohstoffkrisen aufkommen. Der Abschottung gegen die ökonomisch “überflüssigen” Menschenmassen der Peripherie korrespondiert somit zunehmend ein militärisch flankierter Extraktivismus der Zentren, bei dem die Peripherie nur noch als Ressourcenlagerstätte wahrgenommen wird.
Die autoritäre Formierung der Staatsapparate, der zunehmende Hang zum Staatskapitalismus samt der wachsenden Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel im Rahmen der sich zuspitzenden krisenimperialistischen Staatenkonkurrenz – sie gehen aber mit staatlichen Erosionsprozessen einher. Autoritäre Staatsformierung und staatliche Erosionsprozesse bilden zwei Momente ein und desselben Krisenprozesses.
Vom ewigen Frieden zum ewigen Krieg
Ein ideologiekritischer Blick auf den Beginn, auf die Ausformungsphase des kapitalistischen Weltsystems im 18. Jahrhundert mag helfen, dessen gegenwärtigen Zersetzungsprozess zu erhellen. In seiner berühmten Schrift Zum ewigen Frieden bemühte sich der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant, die Grundlagen einer friedlichen Koexistenz der Staaten in einer vernunftgeleiteten internationalen Ordnung zu skizzieren. Zentral war für Kant ein verbindliches Rechtssystem, die Ausformung einer Rechtsgrundlage internationaler Beziehungen, die den titelgegebenen ewigen Frieden zwischen den Staaten garantieren sollte. Angesichts der historischen Erfahrung der letzten Jahrhunderte entpuppt sich hier die kantsche Aufklärungsargumentation, die blind für die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung bleiben musste, vollends als Ideologie.Dieses Paradebeispiel für Aufklärungsideologie gilt es somit schlicht in sein Gegenteil zu verkehren, um sich der spätkapitalistischen Krisenrealität in der geopolitischen Sphäre anzunähern. Die krisengeplagten Staatsmonster können die Illusion eines inneren Friedens nur durch äussere Expansion aufrechterhalten. Die soziale Zerrüttung samt der daraus resultierenden politischen Instabilität lässt den Krieg innerhalb der krisenimperialistischen Logik als Fluchtpunkt erscheinen. Immer grössere aussenpolitische Risiken werden hingenommen, da die Spannungen im Innern zunehmen. Es ist eine objektive Krisentendenz, die sich vermittels der subjektiven krisenimperialistischen Handlungen der erodierenden Staatsapparate herstellt. Diese krisenimperialistische Logik aus innerer Erosion und äusserer Expansion garantiert den ewigen Krieg in der sich inzwischen voll entfaltenden Weltkrise des Kapitals – sofern das Kapital nicht emanzipatorisch Überwunden wird.
Dies wird gerade anhand der poststaatlichen Zusammenbruchsregion deutlich, die einstmals Syrien war. Das Zombie-Regime in Damaskus kollabierte unter dem Ansturm islamistischer Milizen, da es längst ökonomisch ausgehöhlt war. Es gab kein wirtschaftliches Fundament eines modernen Staatsapparates, der auf ausreichend breite Kapitalverwertung angewiesen ist, um nicht zu verwildern und zu erodieren – das Assad-Regime, erschöpft nach langem Bürgerkrieg, suchte mitunter im Drogenhandel Zuflucht, um überhaupt noch Gratifikationen an seine Rackets verteilen zu können.[19]
Krisenimperialismus konkret
Der Kreml verlor binnen weniger Tage seinen wichtigsten regionalen Verbündeten, in dessen Überleben Russland während des Bürgerkrieges jahrelang ungeheure militärische Ressourcen pumpte. In der westlichen Häme über diese neue russische Katastrophe, die charakteristisch ist für die Diskrepanz zwischen den imperialen Ambitionen und Fähigkeiten des Kreml, konnte der ähnlich verlaufende Zusammenbruch Afghanistans in Vergessenheit geraten. Der Rückzug der USA aus der zentralasiatischen Zusammenbruchsregion verlief ähnlich demütigend wie derjenige Russlands aus Syrien.Wiederum ist hierbei die objektive Krisentendez zum Staatszerfall entscheidend, die sich vermittelst der imperialistischen Auseinandersetzungen herstellt – und nicht die flüchtigen geopolitischen Konstellationen, in denen sich die beständig wandelnden Allianzen und Lagerbildungen manifestieren. Der Irak Saddam Husseins, das Libyen Gaddafis, oder eben das Syrien Assads – sie wirken von aussen wie undurchdringliche Machtmonolithe; die im Inneren wirkenden Erosionsprozesse sind von aussen kaum erkennbar, bis diese staatlichen Ruinen gescheiterter kapitalistischer Modernisierung beim geringsten Anlass kollabieren und die in ihnen wirkenden anomischen Zentrifugalkräfte freisetzen. Es ist einfach, diese abgetakelten Modernisierungsregimes zu stürzen, wie in Libyen und zuletzt in Syrien – doch an ihre Stelle tritt keine neue staatliche Ordnung, da die Weltkrise des Kapitals dem Staat sein ökonomisches Fundament entzieht.
Ein Blick auf Libyen oder gerade Afghanistan kann sehr gut illustrieren, wohin Syrien sich zu entwickeln droht: In Libyen – das von konkurrierenden Clans beherrscht wird – gibt es faktisch keine zentrale Staatsgewalt mehr, während in Afghanistan inzwischen die Taliban – trotz extremster Repression, bei der Frauen buchstäblich das Reden verboten wird – nicht mal in der Lage sind, eine islamistische Friedhofsruhe herzustellen. Im Innern sehen sich die Taliban mit einer Terrorkampagne des islamischen Staates konfrontiert,[20] nach aussen befindet sich Afghanistan in einer schwelenden Auseinandersetzung mit Pakistan, die zuletzt zu offenen militärischen Auseinandersetzungen führte.[21] Die gerade vom rechten Kulturalismus gespeiste Idee, wonach der Islamismus diese soziökonomischen Zusammenbruchsregionen befrieden würde, entpuppt sich hier als Ideologie.
Was sich am Horizont abzeichnet, ist somit nicht Stabilität im Rahmen islamistischer oder faschistischer Regimes, sondern der permanente Krieg, der von islamistischen Rackets oder oligarchischen, in Faschisierung begriffenen Staatsapparaten geführt werden wird. Das Friedensgerede von Trump oder der AFD ist blosse Propaganda – ähnlich den Friedensreden Hitlers kurz nach der Machtübergabe an diesen.[22] Es herrscht kein Krieg zwischen Liberalismus und Autoritarismus – dies ist eine vom absteigenden Liberalismus genährte Illusion. Der einstmals liberale Westen nähert sich hingegen krisenbedingt in Riesenschritten den Regimes der Semiperipherie an. Oligarchische Strukturen, die Faschisierung, sie sind Ausdruck staatlicher Zerrüttung im Gefolge des voranschreitenden Krisenprozesses, der diese Staatsmonster unweigerlich in immer neue Konflikte treiben wird.
Anhand des Zusammenbruchs Syriens lässt sich auch das krisenbedingte Ende von Hegemonialsystemen studieren, wie auch die daraus resultierende Dynamisierung und Destabilisierung der geopolitischen Sphäre. Der hegemoniale Abstieg der USA[23] führt dazu, dass viele Regionalmächte bemüht sind, ihre eigenen imperialen Pläne unter Anwendung militärischer Mittel zu verwirklichen.[24] Viele kleine Nachwuchs-USA sind im Rahmen krisenbedingter Expansion bemüht, die abgetakelte Weltmacht zu beerben, die nicht mehr das Monopol militärischer Gewalt innehat. Dies gilt nicht nur für Russland, sondern auch für Regionalmächte wie die Türkei oder den Iran.
Drei Ebenen krisenimperialistischer Kämpfe
Es lassen sich drei Ebenen geopolitischer und militärischer Auseinandersetzungen an den Beispielen Ukraine und Syrien festmachen, was auch zur Unübersichtlichkeit bei der Einschätzung und Interpretation konkreter krisenimperialistischer Auseinandersetzungen beiträgt. Zum einen ist es der ziellose Hegemonialkonflikt zwischen Ozeanien und Eurasien, zwischen den im Abstieg begriffenen USA mit ihren über den Atlantik und Pazifik hinausreichenden Bündnissystemen, und dem eurasischen Machtblock mit China im Zentrum, dessen Ausformung mittels einer Containmentstrategie torpediert werden soll. Der Krisenprozess verhindert dabei, dass ein neues Hegemonialsystem überhaupt entstehen kann – die USA steigen zwar ab, doch zugleich ist China nicht mehr in der Lage, den Westen als Hegemon zu beerben. Dies wird etwa an der ausgewachsenen Schuldenkrise deutlich, die das chinesische Hegemonialprojekt der neuen Seidenstrasse entgleisen liess.[25]Und dennoch bleibt den in der Krisendynamik immer stärker verfangenen Staatsapparaten nichts anderes übrig, als um die Dominanz zu kämpfen. Washington muss vor allem um die Stellung des US-Dollar als Weltleitwährung bangen, um nicht in einer ausgewachsenen Schuldenkrise zu versinken.
Der Krieg um die Ukraine begann ja ursprünglich als ein Krieg um den Frontverlauf zwischen Eurasien und Ozeanien.[26] Der Westen wollte die Einbindung Kiews in die eurasische Union Putins verhindern, während der Kreml die Ukraine als essenziellen Teil seiner Grossmachtstrategie begreift. Dieser Hegemonialkampf spiegelt sich auch im Kollaps des Assad-Regimes, mit dem Russland nicht nur den wichtigsten regionalen Bündnispartner verliert, sondern auch einen Logistikstützpunkt bei seinen Expansionsbemühungen in Afrika, wo inzwischen Frankreich stark unter Druck geraten ist.
Die USA hatten somit Interesse an dem Sturz Assads, doch massgeblich wurde dieser von Ankara betrieben. Der hoffnungslose, gewissermassen automatisch geführte Hegemonialkampf zwischen Ozeanien und Eurasien wird überlagert von den zunehmenden imperialistischen Bestrebungen von Regional- und Mittelmächten, die gerade aufgrund der erodierenden Hegemonie der USA einen grösseren geopolitischen Spielraum gewinnen konnten. Das islamofaschistische Regime in Ankara bemüht sich etwa, das Osmanische Reich wieder aufleben zu lassen. der Iran möchte zur führenden regionalen Grossmacht im Mittleren Osten aufsteigen, was beide Mittelmächte wiederum in Konflikt mit arabischen Ländern wie Saudi-Arabien und Ägypten treibt.
Syrien bildet ein Paradebeispiel für diese Mehrdimensionalität krisenimperialistischer Auseinandersetzungen. Der Libanon Krieg zwischen Israel und Hisbollah ging nahtlos in die Offensive der von der Türkei unterstützen Islamisten in Idlib über, die dem Assad-Regime ein schnelles Ende bereitet haben. Die geopolitische Achse zwischen Teheran und Damaskus – die dem Mullah-Regime die Machtprojektion bis an die Grenzen Israels erlaubte – wurde zerschlagen.
Der Kampf um die syrische Konkursmasse lässt wiederum Jerusalem und Ankara auf Kollisionskurs gehen – nicht zuletzt wegen der verbliebenen Autonomiegebiete der syrischen Kurden, die der türkische Islamofaschismus ethnisch säubern will – die aber Israel als natürliche Verbündete betrachtet. In der Türkei finden inzwischen Massendemonstrationen statt, in denen die Eroberung Jerusalems angedroht wird,[27] in Jerusalem werden inzwischen hingegen Szenarien eines Krieges gegen den türkischen Islamofaschismus debattiert.[28]
Charakteristisch für dieses multidimensionale krisenimperialistische System ist somit der beständige Wechsel von Allianzen, Zweckbündnissen oder blossen Tolerierungen, wobei mitunter zeitgleich Konkurrenz und Konflikt von den Staatsapparaten praktiziert werden können. Die Türkei fiel etwa im Fall Syriens dem Kreml in den Rücken, doch zugleich können beide Staaten in Sachen Atomenergie oder bei Waffengeschäften zusammenarbeiten.
Kooperation geht mitunter binnen weniger Wochen in Konflikt über. So hatten Israel und die Türkei dasselbe strategische Ziel, das Assad-Regime in Syrien zu beseitigen, doch inzwischen befinden sich beide Staaten auf Konfliktkurs. Alles ist im Fluss, das gesamte System in permanenter Bewegung, weil die Krise die Ausbildung stabiler Hegemonialsysteme verunmöglicht. Die USA dominieren nur noch aus einer Position militärischer Stärke – und der Drohung mit Sanktionen und Zöllen, etwa gegen der EU, Mexiko oder Kanada.
Die dritte Ebene militärischer Auseinandersetzungen und Konflikte bilden die poststaatlichen Krisenprodukte, die diversen Milizen, Sekten und Söldner, die die Krise produziert. Hierunter sind vor allem die islamistischen Milizen und Banden zu subsumieren, die Ankara etwa in Syrien mobilisierte – und die immer wieder zur Erreichung geopolitische Ziele von den Staatsapparaten instrumentalisiert werden. Ähnlich verhält es sich mit den Söldnerbanden Russlands, oder den Nazi-Formationen, die formell in die ukrainische Armee eingegliedert worden sind. Doch zugleich werden diese poststaatlichen militärischen Kräfte immer zahlreicher, immer bedeutender – bis sie den geopolitischen Jackpot knacken können, um poststaatliche Territorien in Afghanistan, Libyen oder Syrien zu kontrollieren. Wiederum ist es hier die objektive Krisentendenz zur Entstaatlichung und Anomie, die sich vermittelst imperialistischer Auseinandersetzungen langfristig durchsetzt.
Friedenskampf als Teilmoment des Transformationskampfes
Es liesse sich gar argumentieren, dass aufgrund des gegebenen Arsenals an Nuklearwaffen der Spätkapitalismus sich in einer permanenten Kubakrise befindet. Atommächte tragen mehr oder minder offen geführte militärische Konflikte aus. Selbstverständlich lässt sich hierzu einwenden, dass die Diplomatie sich inzwischen an diese neue Konfliktintensität angepasst hat. Die militärischen Schläge und Eskalationsstufen, wie sie etwa zwischen Israel und dem Iran, oder im Rahmen des Ukraine-Krieges erfolgten, sind eingebettet in einen hinter den Kulissen geführten diplomatischen Dialog aus Drohungen und Forderungen.Es ist faktisch eine Form perverser, mit militärischen Mitteln geführter Kommunikation: Der Iran, Israel, die Türkei, Russland, die USA – sie kündigten im Vorfeld ihren Gegnern an, mit welchen Mitteln ihre militärischen Schläge oder Machtdemonstrationen erfolgen werden. Der Einsatz weitreichender Raketensysteme in Russland wurde vom Westen zuvor angekündigt. Ebenso hat Russland kurz vor dem Einsatz seiner nuklearfähigen Mittelstreckenrakete gegen die Ostukraine dies den USA mitgeteilt. Hierdurch sollen unbeabsichtigte Eskalationsdynamiken verhindert werden.
Doch es fehlt nur ein Fehlschritt, nur eine Fehlkalkulation oder eine fehlerhafte Interpretation, um Nuklearmächte, die derzeit schon krisenbedingt einen Krieg niederer Intensität gegeneinander führen, in eine Situation zu treiben, in der die nukleare Option erwogen werden wird. Das eingangs erwähnte nukleare Russische Roulette zwischen dem Westen und Russland, bei dem bewusst Putins „rote Linien“ in der Ukraine überschritten wurden, hätte auch schiefgehen können. Und irgendwann wird ein ähnliches geopolitisches Pokerspiel zwangsläufig schiefgehen. Die ökonomischen und ökologischen Krisenschläge, die das geopolitische System absorbieren wird müssen, werden zunehmen und an Intensität gewinnen – was einen verheerenden, den Zivilisationsprozess beendenden Grosskrieg mittelfristig nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich macht.
Aus dieser Krisendynamik in der geopolitischen Sphäre resultiert eigentlich die Notwendigkeit einer linken, progressiven Friedens- und Antikriegsbewegung. Doch zugleich scheint diese unmöglich zu sein, wie vor allem an den “russlandtreuen” Kräften um das nationalsozialistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) oder der partiell faschistischen AfD ersichtlich wird. Alle Friedensrhetorik kann vom Kreml im Rahmen seiner psychologischen Kriegsführung gegen den Westen instrumentalisiert werden.
Faktisch ist die deutsche Linke inzwischen zerfallen in Putintrolle und Natotrolle – eine regressive Entwicklung, die sich schon zu Beginn des Krieges um die Ukraine abzeichnete.[29] Dem bizarren kremlnahen Pseudopazifismus, der die Ukraine faktisch zur Kapitulation gegenüber dem russischen Imperialismus auffordert, wie er zuletzt bei Wagenknechts “Friedensdemo” mit Unterstützung der Linkspartei zelebriert wurde,[30] korrespondiert eine linksliberale, im Umfeld der Grünen zu verortende, totessehnsüchtige Kriegsgeilheit, der die Eskalationsschritte des Westens nicht weit genug gehen – und die, aus warmen deutschen Stuben, weitere Mobilisierungskampagnen in der Ukraine einfordert.
Wie bei nahezu allen anderen Kampffeldern, kann inzwischen progressive, emanzipatorische Praxis nur bei Reflexion und offensiver Thematisierung des Krisenprozesses realisiert werden. Ein fortschrittlicher Friedenskampf ist nur als Teilmoment eines emanzipatorischen Transformationskampfes führbar. Das Kapital schaltet nicht nur an der sozialen und ökologischen Weltkrise, die durch seine inneren und äusseren Widersprüche beständig angefacht wird – es droht auch, die Menschheit in einen verheerenden Grosskrieg zu treiben.
Diese einfache Wahrheit, die inzwischen offen zu Tage liegt, muss den Menschen im Rahmen einer transformatorischen Friedenspraxis vermittelt werden. Eine dauerhafte Kriegsverhinderung ist nur im Postkapitalismus möglich. Die Schärfung eines radikalen Krisenbewusstseins, die Initiierung einer breiten gesellschaftlichen Debatte über Wege aus dem ewigen kapitalistischen Krieg würden somit ins Zentrum einer transformatorischen Friedenspolitik geraten – angetrieben von einem sublimierten Überlebenstrieb, der die Selbstvernichtungstendenz des Kapitals reflektiert. Siehe hierzu auch den Text „Emanzipation in der Krise“[31]