Gegen kapitalistische Gewalt und soziale Disziplinierung Die politische Ökonomie der Taktiken
Politik
Zeitgenössische Zirkulationskämpfe, die die Berichterstattung über den Widerstand dominieren - wurden in den letzten Jahren häufig mit linken Bewegungen in Verbindung gebracht.
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13. April 2022
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Es ist mehr als wahrscheinlich, ja sogar sicher, dass die Cod-Aufständischen (?, d.Ü.) des 6. Januar den George-Floyd-Aufstand des vorangegangenen Sommers als Antagonisten und Vorbild im Kopf hatten (eine wahre Episode des Hassliebe-Wahnsinns, wobei die Liebe standhaft geleugnet wird und doch überall offensichtlich ist) - und damit die vielen Vorläufer dieses Aufstands von Watts 1965 bis Ferguson 2014 und darüber hinaus ins Capitol trugen
Besetzungen, Unruhen, Blockaden kritischer Infrastrukturen. Dies sind grundlegende Taktiken, die andernorts als Zirkulationskämpfe bezeichnet werden: Sie erfordern keinen privilegierten Zugang zum Produktionsprozess, entfalten sich in einem ambivalenten öffentlichen Raum, der vom Staat überwacht wird, und greifen oft in die Warenzirkulation ein. Diese Taktiken haben uralte Wurzeln, aber seit den sechziger und siebziger Jahren haben sie das Repertoire kollektiver Aktionen im Westen zunehmend bestimmt. Sie mögen zwar bestimmte politische Tendenzen in ihrer Form enthalten, denen sie eher zuzuordnen sind, doch weisen diese Taktiken keinen intrinsischen Bezug zu einer bestimmten Politik auf, anders als z.B. ein Streik, der die Aktion der Arbeiter als Arbeiter impliziert.
Dies ist sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche. Zirkulationskämpfe sind mehr oder weniger offen für alle Beteiligten. Aber in den letzten Jahren wurden sie häufig mit dem in Verbindung gebracht, was Immanuel Wallerstein als "anti-systemische Bewegungen" (“antisystemic movements”) bezeichnete, die oft militanter Natur sind.
Es ist daher unheimlich, zu sehen, wie diese Taktiken über das politische Spektrum wandern (insofern das Spektrum noch funktioniert, das ist zugleich eine Frage, die viel damit zu tun hat). Seit dem Höhepunkt des Sommers 2020 und der relativen Flaute der linken Militanz seit der Niederschlagung des George-Floyd-Aufstands haben solche Taktiken ihren Weg nach rechts gefunden, getragen von Bewegungen, deren Sprache der Freiheit sich sowohl auf einen noch virulenteren reaktionären Staat bezieht als auch einen solchen fordert, als er gegenwärtig zur Verfügung steht.
Es ist eine merkwürdige Tatsache der Gegenwart im kapitalistischen Zentrum: der Kampf um die Zirkulation, aber man gestaltet ihn nationalistisch..
Die Frage, wie Taktiken weitergegeben werden, ist viel diskutiert worden. In den seltensten Fällen ist es so, dass Gruppe B ein effektives Manöver von Gruppe A bemerkt und es sich zu Eigen macht. Oder eigentlich ist es genau das, was passiert - aber wie kommt es dazu? Warum ist die Taktik von Gruppe A überhaupt wirksam, und warum wählt Gruppe B unter all den wirksamen Taktiken der letzten zehn oder fünf Jahre gerade diese aus? Und warum erweist sie sich in einem scheinbar anderen politischen Kontext erneut als wirksam? Ein bekannter Ausspruch des 'Unsichtbaren Komitees' besteht darauf, dass "revolutionäre Bewegungen sich nicht durch Ansteckung, sondern durch Resonanz verbreiten". Das klingt tiefgründig, ist aber im wahrsten Sinne des Wortes oberflächlich: Man stellt sich das Problem in zwei Dimensionen vor, als eine Fläche, über die sich die Ereignisse "ausbreiten", wenn auch nicht durch Berührung und Nachbarschaft, sondern durch diskontinuierliche Sprünge entsprechend den Schwingungsfeldern.
Die oberflächliche Ähnlichkeit der Ereignisse beweist jedoch nur die Korrelation. Die Ursache, wenn es sie denn gibt, ist eher unterirdisch, in der dritten Dimension verborgen. Sie benennt einen Umstand, ein gemeinsames Bündel von historischen Kräften, die die Ereignisse in diesen besonderen Ausprägungen ins Sonnenlicht treiben. Diese Formen werden nicht durch die Positionen der Akteure im politischen Spektrum vorgegeben, sondern durch reale Bedingungen, die bestimmte Taktiken als praktikabler, zugänglicher und wirksamer erscheinen lassen. Und da die mächtigsten Bedingungen oft am weitesten verbreitet sind, werden die von ihnen vorgegebenen Taktiken wahrscheinlich an allen möglichen Orten auftauchen und von allen möglichen Gruppierungen angewandt.
Um ein einziges Beispiel zu wählen: Wenn die Notwendigkeit eines reibungslosen und schnellen Warentransports in der Ära der logistischen Revolution immer sichtbarer wurde, dann hat die Pandemie die globalen Versorgungsketten so weit erhellt, dass man sie in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit von der nächsten Galaxie aus sehen konnte. Die Kämpfe um die Zirkulation sind in Richtung Reaktion gewandert, oder besser gesagt, sie haben sich über das ganze politische Spektrum ausgebreitet, und zwar aus einem in gewissem Sinne sehr einfachen Grund: Die Kämpfe finden an den Punkten statt, an denen eine planetarische politische Ökonomie verwundbar ist, und an den Berührungspunkten, an denen die Bevölkerungen verwaltet werden. Und diese Punkte haben sich für alle verändert, nicht nur für die Menschen, mit denen wir uns vielleicht verbunden oder solidarisch fühlen.
Ohne das ziemlich elaborierte Argument wiederholen zu wollen, ist die Fähigkeit, die Bevölkerung im postindustriellen Zentrum durch Lohndisziplin zu steuern, immer weiter geschwunden. Die viel beschworenen Arbeitslosenquoten können nicht über die anhaltend niedrige Erwerbsquote und die Aushöhlung der Vollzeitbeschäftigung hinwegtäuschen. Das spezielle Elend der kapitalistischen Ausbeutung setzt sich unaufhaltsam fort. Aber Formen des Managements, die mit 'der Kolonie' in Verbindung gebracht werden - die direkte Gewaltausübung der Staatsmacht -, sind immer zentraler geworden, um die soziale Ordnung in der Metropole durchzusetzen, so wie es Aimé Cesaire vor siebzig Jahren in seinem Diskurs über den Kolonialismus voraussah.
Dies ist keine freie Entscheidung, sondern ein vorhersehbarer Weg angesichts der begrenzten Fähigkeit des Kapitals, neue Arbeitsinhalte gewinnbringend zu internalisieren. Das bedeutet, dass die Form und der Umfang der gegenwärtigen Polizeiarbeit ein nützliches Beispiel dafür sind, wie die Kräfte der staatlichen Gewalt (wie auch ihre Gegner) in ihrer Taktik eingeschränkt sind, und zwar unabhängig von den Debatten darüber, wie die Intensivierung der Polizeiarbeit auf die Bevölkerung wirkt.
Dies gilt im Übrigen auch für das Kapital in seinen Bemühungen um die Erzielung von Profit. In der gleichen Zeit, in der Polizeitätigkeit und Inhaftierungen explosionsartig zunehmen, und aus den gleichen Gründen (was die Notwendigkeit des Kapitalismus betrifft, angesichts der schwindenden globalen Akkumulation nach Gegenmassnahmen gegen die sinkenden Profite zu suchen, zu denen die Senkung der Zirkulationskosten, die Beschleunigung der Umschlagzeiten und die Verbilligung der Produktionsmittel gehören), hat die globale politische Ökonomie in vielerlei Hinsicht den Druck auf extraktivistische Gambits, logistisches Kommando und massiven Ausbau der Infrastruktur in Richtung kapitalistischer Projekte verstärkt, die mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmass operieren, das staatliche Koordination und staatliche Gewalt erfordert.
Ein solches Verständnis der Zwänge, denen Kämpfe unterworfen sind, sollte, so hofft man, vor einer reflexhaften Hinwendung zur Sympathie für eine bestimmte Taktik schützen. Blockaden werden für jede erfolgreiche soziale Bewegung zur Befreiung von zentraler Bedeutung sein, aber das macht Blockaden nicht per se zu etwas Befreiendem. Dasselbe gilt für Besetzungen, Rebellionen und sogar die Erstürmung des Kapitols.
Und doch stösst man manchmal auf solche Sympathien bei denjenigen, die sich mit der anti-staatlichen Position identifizieren. Die pauschale Ablehnung jeglicher staatlicher Intervention, die mittlerweile zu einem selbsternannten Konspirationismus geworden ist, hat ihre Vertreter auch quer durch das politische Spektrum, was zu den verschiedenen Taktiken passt, mit denen wir begonnen haben. Unter den linken Intellektuellen hat dieser Konspirationismus keinen bekannteren Vertreter als Giorgio Agamben, dem sich in letzter Zeit das 'Unsichtbare Komitee' angeschlossen hat, eine Gruppe, zu der ehemalige Schüler des Philosophen gehören können oder auch nicht.
Solche Positionen stehen im Einklang mit einer reflexiven Anti-Staatlichkeit, der am linken Rand des politischen Spektrums existiert (viele anarchistische Freunde von mir würden es ablehnen, sich mit der Linken zu identifizieren, und das aus gutem Grund); sie scheinen auch mit dem angeblich populistischen Anti-Staastismus von Bewegungen wie dem 'Freedom Convoy' übereinzustimmen, der wiederum einige Sympathien von der staatsfeindlichen Linken auf sich gezogen hat.
Wir sehen also die komplizierte Verflechtung: Der “Freiheitskonvoi” (und wohl auch der Pseudo-Coup vom 6. Januar) scheint sowohl eine staatsfeindliche Politik zu verkünden als auch auf Taktiken zurückzugreifen, die mit dem direkten anti-staatlichen Kampf identifiziert werden. Warum sollte jemand, der ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat hegt - oder, besser gesagt, jemand, der glaubt, dass die Form des Staates, selbst wenn sie ethisch neutral wäre, kein befreiendes Potential mehr in sich birgt -, in diesen jüngsten Ereignissen, den Zirkulationskämpfen auf der Rechten, nicht etwas finden, mit dem man durchaus sympathisieren könnte?
Eine Antwort auf dieses Rätsel würde über den Weg der Feind-des-Feindes-Politik gehen, die letztendlich ziemlich leicht in sich zusammenfällt. Man könnte ein allgemeines Prinzip teilen - zum Beispiel, dass der Staat nicht die Befugnis haben sollte, zu entscheiden, wer in einer Gesellschaft, in der Lebensmittel Geld kosten, einen Lohn verdienen kann und wer nicht -, ohne sich vorzustellen, dass die Reaktionäre irgendein befreiendes Projekt vorschlagen. Sie haben auch nicht die Absicht, die Fasern der staatlichen Macht auch nur ansatzweise zu beschädigen. Immer wieder haben sie deutlich gemacht, dass sie in Wirklichkeit einen noch autoritäreren Staat vorziehen würden, DeSantis gegenüber Hochul, Roman Baber gegenüber Trudeau.
Diejenigen, die den Vizepräsidenten hängen und die Polizei im Kapitol bekämpfen wollten, haben Pence und die Polizisten einfach als staatsfeindlich und als Verräter an der wahren Nation bezeichnet. Was wir sehen, ist ein Kampf zwischen konkurrierenden Visionen darüber, wie der Staat seine Herrschaft durchsetzen sollte, und die Identifikation mit einer von beiden ist einfach eine Parteinahme für den Staat. Wie die Januaristen von 2021 hat auch der “Freiheitskonvoi” bekräftigt, dass sie sich eine grosse Wiederherstellung der Ordnung wünschen, und zwar genau die, die sie bevorzugen: archists of the first water.
Wichtiger als die Erkenntnis, wer in diesem Moment ein autoritärer Statist ist und wer nicht, ist jedoch die Überhöhung der staatlichen Macht, die diesem Moment vorausgeht. Gegen einige von Agambens unplausiblen Behauptungen über biopolitische Herrschaft, die in der Analogie des Impfstoffnachweises zum gelben Stern, den die Juden in den Konzentrationslagern trugen, gipfeln, hat der aufschlussreiche Benjamin Bratton eine "positive Biopolitik" ins Feld geführt. Adam Kotsko, einer von Agambens Übersetzern, bot eine nachhaltige und nachdenkliche Auseinandersetzung, die letztlich bei Agamben das Versäumnis sah, die Möglichkeit eines koordinierten staatlichen Handelns anzunehmen, das sich gegen das nackte Leben richtet, anstatt es zu ermöglichen.
Aber auch diese Ansätze hypostasieren den Staat, auch wenn sie seine Macht und Autonomie nicht in demselben Masse fetischisieren. Paradoxerweise ist die oben beschriebene Ausweitung der staatlichen Gewalt im kapitalistischen Zentrum ein Zeichen für seine tatsächliche Schwäche und fehlende Autonomie. Wie Adam Smith schon früh feststellte, ist der moderne Staat seit jeher damit beauftragt, die Interessen des Kapitals als Ganzes zu koordinieren und seine Widersprüche zu verhandeln, was dem Staat einen Grossteil seiner Gestalt verleiht. In der Zeit der Pandemie war der dramatischste dieser Widersprüche der zwischen der kurzfristigen Notwendigkeit, genügend Menschen an den Arbeitsplatz zu zwingen, damit das Kapital nicht dort zusammenbricht, wo es schwankend steht, und dem langfristigen Bedarf an Arbeitskräften, die gesund genug sind, um im nächsten Jahr und im nächsten Jahrzehnt Waren, Dienstleistungen und Mehrwert zu produzieren (in Bezug auf diese Spannung zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen des Kapitals und seinen Überlebensbedingungen ähnelt die Pandemie wirklich dem Klimakollaps).
Angesichts dessen beschreiben die panischen und hechelnden Oszillationen der staatlichen Politik - die sich auf jeder Ebene vom Schulbezirk über den Landkreis bis zum Bundesland und der Nation abspielen - nicht die gegensätzlichen Züge zwischen vernünftig und schrecklich, besser und schlechter, dem guten und dem schlechten Zustand. "Oszillation" ist nur die Bezeichnung für das Springen zwischen den beiden Seiten eines Widerspruchs, den der Staat nicht auflösen kann. Diese verrückte und wahnsinnige Reihe von Spasmen, die so sichtbar und so schwerwiegend sind, erwecken den Anschein, dass der Staat (oder 'Der Staat') die Quelle dieser zackigen Verlautbarungen und Gegenverlautbarungen ist, jede Woche neue, Mandate und Umkehrungen, hier die Herrschaft des neuesten Dekrets, dort die Schwachen, die in eine pandemische Exposition gezwungen werden, und so weiter und so fort. In der Zwischenzeit sehen sich weite Teile der Menschheit, vor allem die "essentiellen Arbeiter", mit dem Widerspruch konfrontiert, an SARS-CoV-2 zu sterben oder zu verhungern.
Für Agamben sind es die Lager, immer die Lager, die als Paradigma und Allegorie dienen. Wenn die ethisch-theoretische Ordnung der Welt anhand des europäischen Holocausts betrachtet werden muss, und ich bin mir nicht sicher, ob dies der Fall ist, dann ist es unplausibel, dies als Geschichte des Staates, geschweige denn des Ausnahmezustands, zu betrachten. "Am Ende des Kapitalismus, der seine Zeit überdauern will", stellt Cesaire in der oben erwähnten Passage klar, "steht Hitler". Dieser Hinweis scheint weitaus aktueller zu sein als die gegenwärtigen Behauptungen der verschiedenen Staaten, die sich in der Ukraine im Krieg befinden, sich gegenseitig im Sinne des Spiderman-Memes beschimpfen und bei jedem Atemzug "Hitler" schreien.
Es ist natürlich zu einfach, zu sagen: es ist der Kapitalismus, Jake; vor allem, wenn die Struktur, die wir vor uns haben, ein Kapitalismus ist, der gezwungen ist, in seinen Heimatländern immer mehr wie eine Kolonialmacht zu agieren, der immer mehr einer territorialen Besatzung gleicht, die mit direkter Gewalt befehligt werden muss - und der vom Staat nicht nur zur Koordination, zur Vermittlung seiner Widersprüche, sondern auch zur sozialen Disziplinierung abhängig ist. Auch die Zwänge (Zwänge, nicht Festlegungen), wie wir dagegen ankämpfen, sind real, und es nützt wenig, anzunehmen, wir könnten einfach unseren politischen Willen durchsetzen und unsere Taktiken frei wählen. Das ist eine Idee für Idealisten.
Nichtsdestotrotz ist es nützlich, uns daran zu erinnern, die Macht des Staates nicht zu überschätzen, weder als Antagonist noch als Retter, weder als Problem noch als Lösung, sondern stattdessen seine verzweifelte Unruhe als seine wahre Schwäche und untergeordnete Bedingung zu erkennen. Er ist nicht die Quelle unserer Unfreiheit, sondern nur deren Verwalter.
Und wir könnten auch erkennen, dass die Verallgemeinerung bestimmter Taktiken wenig über den politischen Charakter derer aussagt, die sie anwenden, aber viel über ihre eigene Kraft und Notwendigkeit unter den aktuellen Bedingungen. Wir stehen nicht auf der Seite der Krawallmacher, sondern auf der Seite des George-Floyd-Aufstandes; nicht in Solidarität mit Blockaden, sondern mit der Geschichte des indigenen Land- und Wasserschutzes. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir kämpfen können und müssen, und zwar schnell, wird es hilfreich sein, über die Orte der Verwundbarkeit nachzudenken, darüber, wie sie sich verändert haben könnten und was dadurch möglich wird.
Anmerkungen der Übersetzung: Wir haben nicht alle Verlinkungen des Original Artikels übernommen, ausserdem haben wir, wo möglich, die deutschen Übersetzungen verlinkt.
Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ
Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ