Gegenüber dem rechten Sender Fox News erklärte Manchin, dass er einfach nicht in der Lage sei, für das Gesetz zu stimmen, obwohl er alles „Menschenmögliche“ versucht habe. Die Gesetzgebung seiner „demokratischen Kollegen“ würde die Gesellschaft „dramatisch umwandeln“ und „noch anfälliger gegenüber den Bedrohungen machen“, denen die USA ausgesetzt seien, hiess es in einer Erklärung des Senators.2
Republikanische Politiker wie Senator Lindsey Graham begrüssten die Blockade des konservativen Demokraten, der damit der Biden-Administration einen schweren Schlag versetzte. Denn offensichtlich hat Manchin überraschend interne Absprachen mit dem Weissen Haus gebrochen. In einer Stellungnahme der Pressesprecherin des Präsidenten, Jen Psaki, wurde der konservative Demokrat aus West Virginia faktisch als Lügner bezeichnet.3
Demnach habe Manchin sich bei einem Treffen mit Präsident Biden vor wenigen Wochen ausdrücklich verpflichtet, das „Rahmenwerk von Build Back Better zu unterstützen“. Die jüngsten Äusserungen des Senators aus West Virginia stellten einen „plötzliche und unverständliche Kehrtwende“ dar, die einem „Bruch seiner Verpflichtungen gegenüber dem Präsidenten und den Kollegen des Senators im Repräsentantenhaus und Senat“ gleichkomme. Zugleich wurden private Äusserungen Manchins publik gemacht, laut denen er Kinderunterstützung für sozial benachteiligte Familien ablehnte, da die Eltern angeblich „das Geld nur für Drogen“ ausgeben würden.4
Bei Joe Manchin sind längst die üblichen Anzeichen für eine prinzipielle, interessengeleitete Blockadehaltung zu finden, wie sie auch bei der demokratischen Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona auftraten,5 die Steuererhöhungen für Wohlhabende und Reiche blockierte – und mit Millionenbeträgen von Finanz6 und Industrieverbänden7 überschüttet wurde.
Der kohlefreundliche Demokrat aus West Virgina konnte hingegen über sein „Politisches Aktionskomitee“ (PAC – political action committee), mit dem laut US-amerikanischen Spendenrecht Politiker indirekt Gelder für Wahlkämpfe sammeln können,8 binnen nur zweier Monate rund 250 000 an Spenden der Finanzindustrie und Wirtschaft erhalten.9 Zudem schwirren in Washington Gerüchte umher, laut denen Manchin schlicht die Parteien wechseln und sich den Republikanern anschliessen könnte.10 Diese Option wollte der Senator aus West Virginia, der auch persönlich vom Kohlebergbau profitiert,11 schon Mitte 2021 nicht ausschliessen.12
Dabei muss Manchin selber einen Balanceakt vollführen, da Teile des Reformprogramms der Biden-Administration in seinem verarmten, aber kulturell konservativ orientierten Bundesstaat durchaus populär sind. West Virginia, jahrzehntelang geprägt von der Kohleindustrie, weist eine hohe Armutsrate, eine schlechte ländliche Gesundheitsversorgung und eine rasche Zunahme klimabedingter Überflutungen auf. Die Sozialreformen der Biden-Administration würden gerade vielen armen Bürgern in West Virginia zugutekommen, sodass es eigentlich „unvorstellbar“ schien, dass Manchin dieses Vorhaben gänzlich scheitern liesse, hiess es in Hintergrundberichten.13
Die Ankündigung seiner Blockadehaltung bei dem reaktionären Sender Fox News deutet aber bereits darauf hin, dass der Senator die Vorbehalte und Ressentiments gegenüber den „Liberalen“ in Washington, die in seiner konservativen Wählerschaft virulent sind, unter Zuhilfenahme rechter Massenmedien mobilisieren könnte. Die Soziale Frage würde so durch rechte Identitätspolitik und reaktionäre „Kulturkämpfe“ („culture wars“) überdeckt, um die Wähler West Virginias dazu zu bringen, entgegen ihrer eigenen sozialen Interessen zu handeln.
Das Scheitern der Sozialreformen Bidens
Die Geschichte des BBB-Programms14, das die sozialen wie ökologischen Reformvorhaben umsetzen sollte, die im Vorwahlkampf der Demokraten ein zentrales Streitthema bildeten, ist charakteristisch für das Scheitern sozialdemokratischer Reformpolitik im Spätkapitalismus, die schlicht nicht in der Lage ist, adäquat auf die zunehmenden ökologischen wie sozialen Verwerfungen zu reagieren. Ursprünglich wollte Biden im Rahmen seines Reform- und Konjunkturprogramms rund vier Billionen Dollar in den den sozialen Umbau und in die Bekämpfung des Klimawandels fliessen lassen,15 was aber weit unter den Forderungen von Umweltverbänden lag, die ein Klimapaket von rund zehn Billionen als notwendig erachteten.16 Der linke Gegenspieler Bidens im demokratischen Vorwahlkampf, Bernie Sanders, propagierte 2020 hingegen ein gigantisches Transformationsprogramm von 16 Billionen an17, um der Klimakrise zu begegnen.Doch was ist aus den Reformprogrammen Bidens, aus dem Build Back Better Plan18 geworden? Das Gesamtpaket wurde in zwei Teile aufgespalten: in ein insbesondere auf die Erneuerung der Verkehrswege abzielendes Infrastrukturprogramm, genannt Infrastructure Investment and Jobs Act,19 das von etlichen Wirtschaftsverbänden begrüsst und mit Unterstützung der Republikaner im August verabschiedet werden konnte, nachdem es zuvor in Verhandlungen von ursprünglich 2,3 Billionen auf 1,2 Billionen beschnitten wurde. Die sozialökologischen Komponenten – nun als Build Back Better Act bezeichnet20 – wurden insbesondere deswegen aus dem Konjunkturprogramm der Biden-Administration ausgelagert, da sie auf eine geschlossene Ablehnung der Republikaner wie auch etlicher rechter Demokraten im Senat (vor allem Manchin und Sinema) trafen.
Nach den üblichen Kürzungen und Umschichtungen stand ein BBB-Programm von 1,7521 bis 1,9 Billionen22 zur Debatte im Senat – das nach der Blockade Manchins entweder überhaupt nicht mehr realisiert, oder abermals zusammengestrichen werden wird.23 Ohnehin könnte selbst bei einer Verabschiedung dieses bescheidenen Reformpaketes von einer Bekämpfung der Klimakrise nicht mehr die Rede sein. Nur noch 555 Milliarden Dollar waren in dem gescheiterten Reformpaket für „Investitionen in saubere Energien“ vorgesehen,24 sodass von einem konsistenten Klimaprogramm, gar von einer ökologischen Transformation keine Rede mehr sein kann, da die Aufwendungen in keinerlei sinnvoller Relation zur Dramatik der Klimakrise stehen.
Immerhin hätten – allem Kahlschlag25 zum Trotz – Millionen sozial schwache US-Bürger, insbesondere verarmte Familien, tatsächlich von den sozialpolitischen Massnahmen im Rahmen des BBB-Programms profitiert,26 das ursprünglich in einer klassisch sozialdemokratischen Strategie den intendierten Ausbau des Sozialstaates mit Steuererhöhungen für Vermögende finanzieren wollte. Ein durch Steuervergünstigungen finanziertes Kindergeld, Essensgelder für Kinder, Vorschulprogramme für Kleinkinder, eine Ausweitung des Schulessens, ein staatlich finanziertes Familien- und Krankengeld, Verlängerungen von Steuererleichterungen für Geringverdiener, Zuschüsse zur Krankenversicherung, oder ein bescheidenes soziales Wohnungsbauprogramm waren – wenn auch vielfach in abgespeckter Form – in dem Programm immer noch zu finden.
Dieses Sozialpaket wird von der US-Rechten ausser- und innerhalb der Demokratischen Partei aber vor allem deswegen abgelehnt, weil ein grosser Teil der bisherigen Ausgabenkürzungen durch eine Reduzierung der Laufzeit der Sozialprogramme erreicht wurde.27 Nach wenigen Jahren würde folglich die Debatte um die Verlängerung dieser Sozialmassnahmen, die Millionen US-Bürgern zugute kämen, erneut entbrennen, was die Republikaner in die Defensive drängen und der Linken neue politische Angriffsmöglichkeiten verschaffen würde.
Die New York Times (NYT)28 monierte bereits, dass die Demokraten, um die Unterstützung der Parteilinken für die Kürzungen zu erhalten, „nahezu alle grossen Sozialprogramme“ im Reformpaket „verkeilt“, und dabei auf „willkürliche Ablauftermine“ gesetzt hätten, um das Programm „weniger kostspielig“ erscheinen zu lassen. Würden diese temporären Sozialmassnahmen permanent in einen Sozialstaat überführt werden, so würden sich deren Kosten auf 4,7 Billionen Dollar summieren, warnte die NYT, die für die „Fokussierung auf wenige Prioritäten“ plädierte. Die US-Bürger sollen sich somit gar nicht erst an einen Sozialstaat gewöhnen.
Keine substanziellen Steuererhöhungen
Diese klima- und sozialpolitischen Vorhaben erscheinen auch deswegen so „teuer“ , weil die zweite Komponente der Reformpolitik Bidens – die im Wahlkampf versprochenen Steuererhöhungen29 für Kapital, Vermögende und Oligarchie – ebenfalls kaum realisiert werden konnte.30 Biden wollte grösstenteils schlicht die extremen Steuersenkungen der Trump-Administration revidieren, um mit den Mehreinnahmen den Ausbau des Sozialstaates zu finanzieren.Bei der Unternehmenssteuer wollte der dem unternehmensnahen Parteiestablishment nahestehenden Präsident, der sich im Wahlkampf als ein gewiefter „Dealmaker“ verkaufte, sogar nur einen Teil der Steuersenkungen der Republikaner revidieren, die diesen Steuersatz von 35 % auf 21 % senkten. Biden wolle diesen nur auf 28 % anheben. Nur der Spitzensteuersatz sollte tatsächlich von den 37 %, auf die Trump ihn absenkte, wieder auf die 39,6 % angehoben werden, die unter Obama festgeschrieben waren. Weitere Vorschläge sahen höhere Kapitalertrags- und Erbschaftssteuern vor, wobei kein US-Bürger, der weniger als 400 000 Dollar jährlich verdiente, dadurch mehr Abgaben zu zahlen hätte.
Daraus ist nichts geworden, da die Republikaner eine geschlossene Abwehrfront bildeten und etliche rechte Demokraten sich diesen Steuererhöhungen verweigerten. In dem BBB-Gesetzespaket finden sich nur marginale Erhöhungen, wie eine Mindeststeuer von 15 % für abschreibungsfreudige Konzerne, oder leichte Steuererhöhungen für Superreiche mit einem Jahreseinkommen von mehr als 10 Millionen Dollar. Die prognostizierten Einnahmen aus diesen Steuererhöhungen fielen somit gegenüber den ursprünglichen Planungen von 4,3 Billionen Dollar binnen der kommenden Dekade auf nur noch 1,27 Billionen, was einer Einnahmenkürzung von rund 70 % entspricht. Somit hätten die ursprünglichen Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne einen Grossteil des Sozialstaatsausbaus finanziert, dessen Kosten die NYT nun beklagt.
Um das steuerpolitische Scheitern der Biden-Administration vollauf zu erfassen, reicht ein Rückblick in den Vorwahlkampf der Demokraten, wo die Steuererhöhungen für Reiche, die in den USA immer noch sehr populär sind,31 breit debattiert wurden. Der gegen Biden antretende Sozialist Sanders plädierte etwa für substanzielle Steuererhöhungen für Amerikas Millionäre und Oligarchen, die mit Spitzensteuersätzen von 53 % und Milliardärssteuern von bis zu 97,5 % zur Kasse gebeten werden sollten.32
Drohende Wahlniederlage für den „Dealmaker“
Ein zentrales Argument des Establishments der Demokraten um Biden im Vorwahlkampf bestand darin, diesen als einen versierten Politiker zu propagieren, der tatsächlich durch Kompromisse im Senat konkrete Reformen realisieren könne. Damit sollte die auf Konfrontation mit der US-Oligarchie gerichtete Politik des Sozialisten Sanders als illusorisch und realitätsfern gebrandmarkt werden. Der „Dealmaker“ Biden, der sich in der Washingtoner Politlandschaft auskenne, würde „gemässigte“ Reformen implementieren, während Sanders mit seiner Konfrontationshaltung gegenüber den Megareichen und ihrer Politlobby zum Scheitern verurteilt sei – dies war im Kern die Litanei, die den Generalangriff des Establishments der Demokraten gegen Sanders im Vorwahlkampf begleitete.33Nun ist es aber offensichtlich gerade der „Dealmaker“, der mit seinem Latein am Ende ist, wie inzwischen US-Medien beklagen.34 Angesichts der totalen Blockadehaltung der Republikaner und rechter Demokraten wie Manchin oder Sinema, die mitunter schlicht von Kapitalverbänden gekauft werden, scheinen sozial- oder klimapolitische Reformen in den Vereinigten Staaten kaum noch umsetzbar. Sozialpolitisch bleibt der Neoliberalismus den Vereinigten Staaten35 – allen pandemiebedingten Staatsinterventionen zum Trotz36 – somit weitgehend erhalten, sollte das Weisse Haus nicht doch noch mehr Druck auf die Rechtsabweichler ausüben. Das Scheitern des zentralen, gegen Sanders in Stellung gebrachten Versprechen Bidens, durch gute Verzahnung mit den Machtstrukturen in Washington und durch Kompromisse Reformen umzusetzen, ist somit auch auf eine daraus resultierende Selbstbeschränkung des Weissen Hauses zurückzuführen: Die Demokraten sind schlicht nicht bereit, gegen die Rechtsabweichler in eigenen Reihen so hart und rücksichtslos vorzugehen, wie sie es im Vorwahlkampf gegen den Sozialisten Sanders taten.37
Das bisherige Scheitern des BBB-Programms macht somit eine Wahlniederlage der Demokraten bei den sogenannten midterm elections wahrscheinlich, den Zwischenwahlen zum Kongress und Repräsentantenhaus, die schon 2022 zu einem Verlust der demokratischen Mehrheiten im beiden Parlamentskammern führen können. Demokratische Politiker klagen bereits offen, dass ein Scheitern der Sozialreform dazu führen werde, dass man bei den kommenden Wahlen „geröstet“ würde.38 Schwere Wahlniederlagen der Demokraten bei den midterm elections nach ihren Siegen bei den Präsidentschaftswahlen bilden eigentlich schon eine politische Tradition in den USA, die von der Obama- und Clintonadministrationen begründet und aufrecht erhalten wurde. Der progressiven Wahlkampfrhetorik vom Politikwechsel, „Change you can believe in“, folgte prompt die Enttäuschung der Wählerschaft, die den Republikanern Aufwind verschaffte.
Somit schliesst sich das enge Zeitfenster, das der Biden-Administration das Durchsetzen progressiver Reformpolitik ermöglicht hätte – auch weil die Republikanische Partei des Jahres 2021 nicht mit den Konservativen gleichzusetzen ist, wie sie etwa in Opposition zur Clinton-Administration standen. Die Trump-Ära hat die US-Rechte transformiert, indem sie nicht nur der extremen Rechten Aufwind verschaffte, sondern gerade einen Extremismus der Mitte im Mainstream der Republikanischen Partei forcierte, die längst Elemente rechtsextremer Ideologie aufnahm und auch mit militanten Rechtskräften kooperieren kann.39 Klima- und sozialpolitisch kann die Biden-Administration von den Republikanern folglich nur eine destruktive Blockadehaltung erwarten.
Der „Dealmaker“ konnte keine Steuererhöhungen und keinen Sozialstaatsausbau durchsetzen, mitten in der Klimakrise können die Vereinigten Staaten keine nennenswerte Klimapolitik formulieren. Das Scheitern der Reformpolitik des demokratischen Establishments, deren Akteure linke Alternativen verbissen bekämpften, dürfte somit der US-Rechten bald wieder Auftrieb verschaffen und angesichts der zunehmenden sozioökologischen Krisendynamik auch faschistische Kräfte befördern. Denn es ist nicht nur die Blockadehaltung einflussreicher Kapitallobbys und rechter Kräfte bei Demokraten und Republikanern, die sozialdemokratische Reformpolitik scheitern lässt – die Krise des Kapitals macht in Gestalt der zunehmenden Inflation40 systemimmanente Reformpolitik schlicht obsolet.
Immer öfter reicht der Verweis auf die rasch ansteigende Inflation, um die sozialdemokratischen Befürworter grosser Sozial- oder Konjunkturprogramme in die Defensive zu bringen.41 Und längst propagiert gerade die US-Rechte ein entsprechendes Narrativ, das Sozialprogramme wie BBB für eine eventuelle Eskalation der Teuerung verantwortlich macht.42
Das Körnchen Wahrheit in dieser reaktionären Ideologie besteht darin, dass die US-Notenbank Fed sich tatsächlich gezwungen sieht, ihre expansive Geldpolitik, mit der die Folgen des pandemiebedingen Krisenschubs aufgefangen worden sind, aufgrund der ausartenden Teuerung zurückzufahren. Mittels der Gelddruckerei der Fed wurden aber nicht zuletzt US-Staatsanleihen aufgekauft, was die Zinslast der Vereinigten Staaten trotz hoher Staatsverschuldung niedrig hielt. Nun scheint die Fed aus ihren Programmen zur „Quantitativen Lockerung“ bis Mitte 2022 auszusteigen, um die Teuerungsdynamik einzudämmen. Die Option einer billigen Verschuldung in der Weltleitwährung, mit der eben auch Sozialprogramme durch Washington finanziert werden könnten, scheint für Washington angesichts der Erschöpfung der finanzmarktgetriebenen neoliberalen Verschuldungsdynamik bald nicht mehr gegeben zu sein.43