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Überlegungen zur Situation nach dem faschistischen Putschversuch in den USA

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Überlegungen zur Situation nach dem faschistischen Putschversuch in den USA Ein Blick in den Spiegel

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Politik

Das Folgende wird keine wissenschaftliche Abhandlung über die Ereignisse der letzten Tage in den USA. Dazu ist jetzt nicht der Zeitpunkt.

Protest von Trump-Anhängern vor dem Capitol in Washington, 6. Januar 2021.
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Protest von Trump-Anhängern vor dem Capitol in Washington, 6. Januar 2021. Foto: Tyler Merbler (CC BY 2.0 cropped)

Datum 11. Januar 2021
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Lesezeit26 min.
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KorrekturKorrektur
Dies wird eine kurze und polemische Reaktion im Interesse meiner eigenen Selbstklärung, gerichtet nicht zuletzt auch an die „eigenen Reihen“, also die im weitesten und unschärfsten Sinn „linke Bewegung“. Widerspruch in der Sache und Diskussionsangebote sind willkommen.

Es ist zunächst zu konstatieren, was in den USA geschehen ist. Trump hat versucht, den Marsch Hitlers und Ludendorffs auf die Feldherrnhalle von 1923, den Marsch Mussolinis auf Rom nachzustellen. Er hat, wie schon all die Jahre zuvor, in direktem Appell an seine bewaffneten Milizen und andere Massen seiner Anhänger*innen eine Art Staatsstreich angeordnet, vermutlich wohl wissend, dass der an diesem Tag nicht gelingen könne. Die wahre Absicht dürfte gewesen sein, ähnlich wie bei seinen beiden zuvor genannten Vorbildern, Bilder, Narrative, Mythen zu schaffen, auf die sich später aufbauen lässt. Das ist ihm voll und ganz gelungen. Was aus seinen weiteren Plänen wird, wird man sehen.

Das Problem aber ist nicht Trump. Deshalb ist jede personalisierende und moralisierende Empörung eine Verharmlosung dessen, was gerade geschehen ist. Trump ist lediglich eine Charaktermaske, die das Problem zum Ausdruck bringt – allerdings in einer individuell höchst passenden und deshalb so wirkungsvollen Weise. Trump gleicht dem gekränkten Narzissten, der voller Wut den Spiegel zerschlägt, auf dem man ihm sein hässliches Bild vorweist. Genau in dieser Attitüde desjenigen, der unfähig ist, sich selber zu ändern und darum gewaltsam das Bild von sich zerstören möchte, das er hervorruft, gleicht er heute der Gesellschaft der USA und darüber hinaus der gesellschaftlichen Realität des Imperialismus weltweit. Schon bei seiner Inauguration am 20. Januar 2016 rief seine Sprecherin zur Anerkennung „alternativer Fakten“ auf, die „wahrer“ seien als die nüchterne Wirklichkeit. Dabei ist es geblieben bis zum Schluss, und es wird nicht aufhören.

Die Konzentration auf die Person Trumps ist falsch – denn das Problem hat auch nicht mit Trump angefangen. Sein Vorgänger, der heute als sein leuchtendes Gegenmodell gefeiert wird, war bekanntlich derjenige, der einmal wöchentlich jene „killing lists“ der Geheimdienste abzeichnete, auf deren Basis anschliessend missliebige Personen weltweit mittels Drohnenangriffen oder ähnlichen extralegalen Machenschaften ohne Prozess liquidiert wurden. Im Fall der Tötung Osama bin Ladens, jenes engen Freundes seines Amtsvorgängers Bush II, hat er bekanntlich die Abschlachtung sogar persönlich, live und in Farbe mitangeschaut. Ihn als Musterdemokraten und humanes Beispiel gegen Trump aufzurufen ist nichts anderes als der feste Glaube an „alternative Fakten“. Und der bereits erwähnte Bush II bekam in seiner ganzen tiefen Irrationalität in Michael Moores Dokumentarfilm „Fahrenheit 9/11“ ein unvergängliches Denkmal gesetzt.

Die feste Entschlossenheit, die Welt nicht so sehen zu wollen, wie sie ist, sondern wie man sie gerne hätte, ist an sich nichts Schlechtes. Es gäbe weder Utopien noch Träume, weder Religion, Kunst oder selbst Wissenschaft ohne sie. Allerdings ist die Wirksamkeit dieser Art von Träumen an die gleiche entschlossene Realitätsorientierung der Träumenden gebunden: „Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung“.[1]

Imperialismus und Irrationalismus

Das Phänomen Trump oder auch die Idealisierung Obamas usw. ist das genaue Gegenteil dessen. Sie ist Ausdruck eines Irrationalismus, der zu Recht als „adäquate Bewusstseinsform der imperialistischen Gesellschaft“ bezeichnet wurde, und die ihre unausweichliche Funktionsweise nicht dem „verkehrten Bewusstsein“ irgendwelcher Akteure verdankt, sondern geradezu gesetzmässiges Ergebnis der systemischen Imperative eben dieser Gesellschaftsformation ist.[2]

Die Welt heute ist die Welt imperialistischer Herrschaft. Unter Imperialismus ist nicht eine Form von „Politik“ oder gar nur eine Form expansiver Aussenpolitik zu verstehen. Imperialismus ist ein Begriff für die (noch mit Ausnahme Kubas und Nordkoreas) weltweit herrschende Form des Kapitalismus in seinem höchsten und letzten Stadium.[3] Imperialistische Gesellschaften konkurrieren erbittert miteinander nach Aussen und enthalten nach Innen systemnotwendig die Tendenz zu Stagnation, reaktionärer staatlicher Formierung der Gesellschaft im Interesse des Monopolkapitals und zu jeder Zeit die Möglichkeit des Faschismus.

Die internationale Seite dieser Medaille der herrschenden imperialistischen Gesellschaftsform, von Lenin seinerseits mit der revolutionstheoretischen Metapher einer „Kette“ beschrieben, dessen schwächstes Glied man brechen müsse, ist heute (inklusive Russlands und Chinas) so komplex und global, dass es wahrscheinlich richtiger ist, sie mit der „dreidimensionalen“ Metapher der Pyramide zu veranschaulichen[4].

In den Gesellschaften der „imperialistischen Pyramide“ und erst recht global türmen sich in den letzten Jahrzehnten die Probleme auf und überlagern einander, die im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise von heute nicht gelöst werden können, ohne dass sie sich selbst aufgeben muss.

Die beschönigend so benannte „Bankenkrise“ von 2008/09 ist in ihren Folgen bis heute nicht bewältigt. Sie war unter anderem das Ergebnis des erbitterten Wettlaufs um die Extraprofite bei der Neuaufteilung der Welt nach der Implosion des sozialistischen Weltsystems 1989/91, das seinerseits entstanden war im Ergebnis der Niederschlagung des deutsch-faschistischen Griffs nach der Weltherrschaft, der wiederum nicht zu verstehen ist ohne den wilhelminisch-deutschen ersten Griff dieser Art im Ersten Weltkrieg und seiner Besiegung durch die imperialistischen Konkurrenten, in dessen Gefolge mit dem ersten sozialistischen Staat der Geschichte für siebzig Jahre eine – vorerst gescheiterte – greifbare Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise entstand.

Das heisst: wir leben in einer Welt der allenfalls immer wieder nur um einige Jahre aufschiebbaren, aber niemals ganz zu beseitigenden kapitalistischen Weltwirtschaftskrise.

Die drohende Klimakatastrophe, in ihrer Herkunft und Funktionsweise evident Begleiterin von Aufstieg und Fall des Kapitalismus / Imperialismus (und deswegen eben nicht „menschengemacht“ sondern Ausdruck des Imperialismus als gesellschaftlichen Systems) lässt der Menschheit global nur noch wenige – etwa zwei bis drei – Jahrzehnte, um die Formen menschlicher Zivilisation, die wir kennen, vor dem weitestgehenden Kollaps des globalen Raums der Wechselwirkung von Natur und Gesellschaften zu bewahren. Sie ist im Rahmen der kapitalistischen Ordnung, der imperialistischen Pyramide, nicht zu verhindern.[5]

Die immer tiefer in die bis dahin noch nicht vermenschlichte Natur vordringende kapitalgetriebene menschliche Aktivität hinterlässt zB. weltweit Millionen Tonnen Mikroplastik auf dem Mount Everest und im Marianengraben, nachweisbar inzwischen schon in menschlichen Föten. Die gewaltsame Durchdringung der Natur, in der die von Menschen geschaffene Technik heute noch allzuoft steht wie eine Armee in einem besetzten Land, fördert die zoonotische Entstehung von Pandemien wie die derzeitige Corona-Krise. Es ist nicht vorstellbar, wie eine solche Entwicklung gesellschaftlich gestoppt werden könnte, solange damit noch private Profite zu erwirtschaften sind, also im Rahmen des Kapitalismus/Imperialismus.

Es ist aber auch nicht absehbar, wie lange oder kurz es noch bis zum Ausbruch eines weltweiten Kriegs dauert. Die technischen Voraussetzungen dafür sind gegeben, an den gesellschaftlichen Voraussetzungen im Sinn der notwendigen Ruhe und Einheit an der Heimatfront wird intensiv gearbeitet[6]. Beispiel: Trumps vor wenigen Tagen ergangene Anweisung an den atomar bewaffneten Flugzeugträger USS „Nimitz“, entgegen dem Befehl des Verteidigungsministeriums der USA im Bereich nahe Iran zu verbleiben, verweist auf die leider nicht undenkbare Möglichkeit dieses US-Präsidenten, in letzter Minute eine Art erweiterten Selbstmord in Form des Auslösung eines globalen Kriegs zu veranstalten.[7]

Diese schlaglichtartigen Verweise auf Weltwirtschaftskrise und Kriegsgefahr, Klimakatastrophe und Pandemie sind durch den internen, notwendigen Zusammenhang ihres gemeinsamen imperialistischen Charakters miteinander systematisch, dh. notwendig und nicht zufällig, verbunden. In ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung ergeben sie – hier nur oberflächlich benennbar – das Dickicht, in dem sich die Menschheit global befindet.

Aus diesem Dickicht heraus kann nur ein Weg führen, der die systematische Grundlage all der benannten Probleme und ihrer mannigfachen weiteren Facetten (zum Teil viel älterer Herkunft wie der ungebrochenen Herrschaft des Patriarchats oder von Erscheinungsformen bürgerlicher Herrschaft wie Rassismus und Nationalismus), in Form eines im Wortsinn radikalen Bruchs mit dem Bisherigen hinter sich lässt. Nach allem, was man heute plausibel wissen kann, ist das für meine Wahrnehmung nur auf dem Weg einer sozialistischen Revolution möglich, die mit der Systemlogik des Kapitalismus und der Warenproduktion bricht und an ihrer Stelle eine nicht profitgetriebene, sondern eine rational planbare, bedürfnisorientierte und möglichst rasch vollständig im gesellschaftlichen Eigentum arbeitende Wirtschaft setzt.

Hierzu ist es notwendig und unabdingbar, die bisherigen imperialistischen Staaten als Bestandsgaranten der kapitalistisch-imperialistischen Produktionsweise zu zerbrechen, was noch nirgends auf der Welt ohne die Anwendung von Gewalt möglich war, weil die jeweilige Klassendiktatur der Bourgeoisie sich auf dem Weg etwa über parlamentarische Wahlen noch nie und nirgends dazu bewegen liess, ihren Privatbesitz an Produktionsmitteln aufzugeben.

Die herrschende Bewusstseinsform der durch ihre Staaten gewaltsam gepanzerten imperialistischen Gesellschaften kann grundsätzlich nur in Teilbereichen wissenschaftlicher, kritischer Rationalität verpflichtet sein und ist es auch tatsächlich. Sie kann aber den Blick in den Abgrund ihrer nicht mehr vorhandenen Zukunftsperspektive ebensowenig ertragen wie der von seinem wahren Anblick gekränkte Narzisst den Blick in den Spiegel oder Trump die Wahrheit über seine Niederlage erträgt. Sie müsste sonst anerkennen, dass die Alternative lautet: Überleben der Menschheit oder des Imperialismus, Sozialismus oder Barbarei.

Imperialismus und der Verfall des Zwei-Parteien-Systems als Instrument politischer Massenintegration: Zeichen einer zugespitzten politischen Krise und die faschistische Option

Bislang war es in den meisten bürgerlich-demokratisch verfassten imperialistischen Staaten möglich, die parlamentarischen „Spielregeln“ ihrer politischen Bestandssicherung, des Aushandelns der jeweiligen systemimmanenten Problemlösungsstragtegien nach Innen und nach Aussen auf imperialistischer Basis in mehr oder weniger so funktionierenden Zweiparteiensystemen zu organisieren, die sich von Zeit zu Zeit in der Führung der Geschäfte des Staats als „ideeller Gesamtkapitalist“ abwechselten und sich dabei gegenseitig auf die Finger schauten. Gerade in Zeiten, in der das sorgfältig austarierte Gefüge des bürgerlichen Staats in Gefahr gerät, hat es sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. So soll Régis Debray als Berater Mitterands zu den Perspektiven des Widerstands gegen die faschistische Militärdiktatur in Chile geäussert haben, dieser Widerstand werde wahrscheinlich vor allem von den Kommunisten geleistet werden, nach dem Sieg würden sich dann Sozialdemokraten und Christdemokraten in der Herrschaft abwechseln. So kam es dann ja auch.

Aber dieses System, klassisch in den USA, funktioniert offenbar nicht mehr so richtig. Der Grund dafür liegt nicht in deren Unfähigkeit, bürgerliche Politik zu gestalten, sondern in deren radikaler Perspektivlosigkeit angesichts der zu lösenden globalen Probleme.

Es liegt auf der Hand, was in der Klimafrage zB. im Bereich von Mobilität, Landwirtschaft, Energiepolitik national, regional und global zu tun wäre, aber es kann trotz vorhandener technischer Möglichkeiten und weithin vorhandener gesellschaftlicher Bereitschaft zu auch tiefgreifenden Veränderungen nicht radikal in Angriff genommen werden, weil es mit den Eigentumsverhältnissen in den Gesellschaften der grossen imperialistischen Staaten kollidieren würde.

Es liegt auf der Hand, dass die riesige Masse der Menschheit in einem globalen Krieg nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren hätte – aber wenn ein solcher Krieg der einzige Ausweg ist, auf dem Weg über massenhafte Kapitalvernichtung und die Mobilisierung einer antirevolutionär formierten Heimatfront dafür zu sorgen, dass die herrschenden Produktionsverhältnisse die Produktionsverhältnisse der Herrschenden bleiben, gibt es keinerlei Garantie dafür, dass er nicht angezettelt wird.8

Die in den Jahrzehnten nach Reagan / Thatcher zu beobachtende scheinbar unaufhaltsame Rechtsverschiebung politischer Diskurse und der Organisationen, in denen sie geführt werden, hat ihren objektiven Grund darin, dass dann, wenn die Systemfrage, also der revolutionäre Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, nicht gestellt werden soll und darf, angesichts der sich auftürmenden Probleme die Abgrenzung gegen im Wortsinn radikale, also deren zugrundeliegenden strukturellen Probleme, immer deutlicher werden muss. Die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus und damit die sozialistische Revolution ist der unsichtbare Elefant im Raum, von dem jeder weiss, der aber nicht benannt werden darf oder empört in seiner Existenz geleugnet werden muss.

In dieser Lage schieben sich die Diskurse ehemals eher linker oder liberaler Vertreter*innen des Kapitalismus und die deren rechter Opponent*innen immer weiter zusammen, ihr argumentativer Spielraum in der verbleibenden „Mitte“ wird schmaler. Deshalb gibt es weder in der traditionellen Sozialdemokratie der Bundesrepublik noch den von ihr heute noch immer weitgehend politisch abhängigen Gewerkschaften des DGB das, was man bis in die 1970er Jahre hinein ernsthaft als Reformismus bezeichnet hätte: Ideen und Diskussionen, die in scharfer Abgrenzung zu revolutionären Alternativen den Übergang zu einem „demokratischen Sozialismus“ mit Methoden des parlamentarischen Kampfs, der „Wirtschaftsdemokratie“ usw. zum Ziel hatten.

Mit dem Pyrrhussieg des Imperialismus über die sozialistische Alternative, die bis in die späten 1950er Jahre hinein einmal einen gangbaren Weg gesellschaftlichen Lebens jenseits des Kapitalismus auf einem Drittel des Globus, bis 1989 immerhin noch auf einem Sechstel, vorgeführt hatte, entfiel im Lauf weniger Jahrzehnte die raison d'être für den Reformismus, und seine ehemaligen Exponenten wie zB. der frühere „Marxist“ Gerhard Schröder liessen ihn nach erfolgreicher Karriere nicht nur wie eine heisse Kartoffel fallen, sondern gingen sang- und klanglos auf die Positionen ihrer früheren rechten Todfeinde des sogenannten Neoliberalismus über.

Diese Entwicklung und ihre globalen ideologischen Begleiterscheinungen provozieren nun allerdings erst recht den weiteren Aufstieg des Irrationalismus als dominante Erscheinung der imperialistischen Gesellschaften, wovon man sich im Rückblick leicht überzeugen kann, wenn man Ereignisse wie zB. den Aufstieg des djihadistischen Islamismus mit Unterstützung des US-Imperialismus9, die Reaktion auf die islamistischen Angriffe auf die Twin-Towers, die wahnwitzigen „Begründungen“ für den dritten Irak-Krieg 2003 usw. ansieht10, eine Linie, die man auf der Seite der Rechten bis in den heutigen Islamhass, konstitutiver Ideologiekitt heterogener Intentionen, auf der Seite nicht weniger Linken in die Behauptung der Existenz eines angeblichen „Islamfaschismus“ hinein weiterziehen kann.

In analoger Weise wird bis zum heutigen Tag wie selbstverständlich davon ausgegangen, die drohende kapitalistische Klimakatastrophe liesse sich im Rahmen des Kapitalismus lösen, eine Vorstellung, die tiefe und allgegenwärtige Spuren selbst noch in radikal linken Kreisen von Klimagerechtigkeitsaktivisti hinterlässt, wenn man zwar die Überzeugung äussert, man brauche einen #systemchange, aber nicht angeben kann oder will, worin konkret er denn ausser in „gelebten Utopien“ bestehen soll, was schon mehr als der erste Schritt zur nächsten eigenen Niederlage darstellt. Im ängstlich den Blick nach radikal links vermeidenden Zusammenschieben der gesellschaftlichen Diskurse in die „Mitte“ wird der Irrationalismus dieser Diskurse natürlich nicht kleiner.

In einer solchen Lage kann ein traditionelles Zweiparteiensystem oder ein politisches System unterschiedlicher Parteien, die sich grundsätzlich zwei Lagern, einem traditionellen Werten und Wegen verhafteten konservativ-rechten und einem liberal-reformistischen bürgerlich-linken nicht mehr funktionieren, weil es seine ursprünglich einmal durchaus vorhandene funktionale Bedeutung für die Administration der bürgerlichen Gesellschaft verliert.

Diese Rolle für das Funktionieren der Politik bürgerlicher Staaten hat zB. Lenin 1912 in seiner Einschätzung der damaligen US-Präsidentschaftswahlen klar beschrieben: feste Verankerung beider konkurrierenden Parteien auf dem Boden des Kapitalismus, enorme Stabilität dieses Zweiparteiensystems auf dem Boden grösstmöglicher bürgerlicher Freiheit und mit dem gemeinsamen Interesse der entschlossenen Abwehr des Sozialismus als politischer Bewegung der Systemalternative, systemstabilisierende Funktion des Reformismus bis hin zu progressiver Arbeitsrechtsgesetzgebung in diesem Kontext.

In „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ wiederholt Lenin dies acht Jahre später in seiner Kritik an der britischen „linken Kommunistin“ Sylvia Pankhurst und schildert zugleich die Manöver zur Rettung des Kapitalismus im Rahmen dieses letztlich relativ-einheitlichen Systems bürgerlicher Parteien zur politischen Massenintegration der Ausgebeuteten: „ … die liberale Bourgeoisie verzichtet auf das durch jahrhundertelange geschichtliche Erfahrung geheiligte und für die Ausbeuter ausserordentlich vorteilhafte System der „zwei Parteien“ (der Ausbeuter) und hält es für notwendig, ihre Kräfte zum Kampf gegen die Arbeiterpartei zu vereinigen. Ein Teil der Liberalen läuft, wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen, zur Arbeiterpartei über.“

Diese beiden Momentaufnahmen aus der Perspektive Lenins zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen die damas gegebene hohe Funktionalität des Zweiparteien-Modells für das politische Mangement der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer imperialistischen Phase – selbst über die unerhörten Krisen des 1. Weltkriegs und der siegreichen Oktoberrevolution hinaus. Wie wir heute wissen überdauerte es auch den Zweiten Weltkrieg und konnte sogar vorläufig einen fast weltweiten Sieg über den Sozialismus, nicht ohne damit zugleich „Das Ende der Geschichte“ überhaupt auszurufen.

Am Ende dieses Wegs, heute, sieht das so aus: „Das Zwei-Parteien-System, die vorherrschende Form der Politik in unserer postpolitischen Ära, ist die Erscheinung einer Wahl, wo es grundsätzlich keine gibt. Beide Pole konvergieren in ihrer Wirtschaftspolitik, während ihre Differenz sich letztlich auf entgegengesetzte kulturelle Attitüden beschränkt: multikulturelle, sexuelle „Offenheit“ versus traditionelle Werte.“

Das von Zizek hier als „Konvergieren in der Wirtschaftspolitik“ eher abstrakt Beschriebene politische Apriori der Bestanderhaltung des Kapitalismus ist nichts anderes als der fundamentale und objektive Grund für das „Zusammenschieben“ der gesellschaftlichen Diskurse in der Mitte, ein Vorgang, dessen Bedeutung, wie ich es wahrnehme, konstitutiv ist für den Funktionsverlust des traditionellen Zwei-Lager- oder Zwei-Parteien-Systems imperialistischer Staaten, ein grundlegender, gleichsam tektonischer Vorgang, an dessen heutigem Punkt Reformismus (sozialdemokratischer, linkschristlicher, liberal begründeter uws. Art) überflüssig, weil objektiv unmöglich und daher bedeutungslos geworden ist.

Im faschistischen und rechtsliberalen Denken widerspiegelt sich dieser Vorgang in der gängigen Behauptung, es gäbe heute „Rechts und Links“ nicht mehr, was insofern subjektiv nicht falsch ist, weil man sich zuvor den Blick nach Links mit fest zusammengekniffenen Augen selbst verboten hat.

Auf der Linken entspricht dem im Übrigen das Bestehen auf identitätspolitischen Inhalten wie gender, Rassismus, Nationalismus, Ableismus, unter die dann bisweilen auch noch „Klassismus“ als ein weiteres von etlichen Feldern der Diskriminierung nachgereicht wird als der von Zizek richtig als solchen bezeichneten „Attitüde“. Dieser bisweilen zu Unrecht „intersektional“ begründete Vorgang entspricht dem kompletten Verfall historisch-materialistischen Denkens und Handelns der gesellschaftlichen Linken und ist eine Art Ersatzhandlung für die Notwendigkeit des Klassenkampfs, von dem man im Grunde nichts mehr hören mag, weil auch auf dieser Seite – bis auf verschwindende Ausnahmen – das Ziel der sozialistischen Revolution abgelehnt wird.

Der ungeheure Druck des politisch-gesellschaftlichen Problemstaus, der nur durch eine entschlossene, nämlich revolutionäre Wendung nach Links, über die Grenze des Kapitalismus hinaus, zu lösen wäre, ein Weg, der deshalb in den Augen bürgerlicher Politik natürlich auf keinen Fall begangen werden darf, dessen Gangbarkeit entschieden abgelehnt und dessen ihn erzwingende Probleme sogar hartnäckig geleugnet werden müssen, dieser Weg muss durch ein – notwendigerweise – irrational begründetes Verharren im „Weiter-So“ oder „Lieber-Ein-Bisschen-Anders-Weiter-So“ oder mit nackter Gewalt, also faschistisch, verhindert werden.

Faschismus, Gewalt und bürgerliche Demokratie

Zurück zum Thema, den Ereignissen des 6. Januar 2021 in Washington und seither. Die oben verwendete Metapher des narzisstischen Blicks in den Spiegel und der wuterfüllten Reaktion darauf darf man nicht für die erbärmliche Person des Noch-Präsidenten der USA reservieren. Nach meiner Wahrnehmung war der versuchte faschistische Putschversuch in Washington ein Ereignis, das dem gesamten weltweiten Imperialismus einen solchen Blick in den Spiegel erzwang. In ihm erkannte er sich vor Zeugen für einen kurzen Moment selbst.

Das Spektrum der Reaktionen seitens der politischen Funktionsträger*innen fiel deshalb auch recht einhellig aus. Es konvergierte für meine Wahrnehmung in zwei Glaubensaussagen:
  • wir verurteilen entscheiden jede Gewalt in der politischen Auseinandersetzung!
  • wie schrecklich, dass so etwas in der ältesten Demokratie der Welt möglich war!
Wer die zweite von beiden Aussagen bejaht, erklärt zugleich, dass die Haltung von Sklav*innen und der Handel mit ihnen keinerlei Problem für das als Demokratie bezeichnete Herrschaftssystem ist. Denn die USA sind 1776 von Sklavenhaltern und -händlern mitgegründet worden, sie mussten nicht zuletzt um die Frage der Sklaverei 1861 – 1865 einen Bürgerkrieg um diese Frage führen und noch vor wenigen Monaten kämpfte die „black lives matter“ – Bewegung gegen Polizei und bewaffnete Faschisten auf den Strassen für das blosse Recht, auch als Mensch mit einer Hautfarbe, die nicht weiss ist, von den Träger*innen des bewaffneten Gewaltmonopols ihres Staats als Mensch behandelt zu werden.

Demokratie nach dieser Definition ist also offenbar eine politische Ordnung, in deren Rahmen solche Zustände über Jahrhunderte aufrecht erhalten werden – diese sind also keine irgendwie „systemfremden“ Momenterscheinungen. Sie sind vielmehr konstitutiv für Demokratie in den USA, und haben also solche in ihren Bewunderern, siehe oben, Modellcharakter für den rest der Welt. „We, the People… “ schloss in seiner historischen Konkretion Frauen, die indigene Bevölkerung und schwarze Sklav*innen aus. Wie es damit heute aussieht ist offenbar so umstritten, dass darum bis zur Stunde im Ernstfall bewaffnet gekämpft werden muss. Jede argumentative Beschwichtigung der Härte dieses Tatbestands relativiert, legitimiert, verharmlost Rassismus, Genozid und Menschenfeindlichkeit.

Wer die erste beider Behauptungen mitsprechen möchte ist zugleich gebeten, eine einzige menschliche Gesellschaft der Geschichte anzuführen, deren Ordnung nicht mit Gewalt aufrechterhalten wurde und wird. Gewalt ist alltäglich und überall. Sie besteht allerdings in den Fesseln, die man nur spürt, wenn man sich bewegt. Wer deren Existenz leugnet kann für einen Moment auf die Idee kommen, es gäbe sie gar nicht. Aber allein schon die nicht zu leugnende Existenz der „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“15, die in jeder Klassengesellschaft einschliesslich des Sozialismus im Ernstfall gewaltsam mithilfe von Polizei, Armee, Gefängnissen usw., die öffentliche Ordnung bzw. das, was als solche bezeichnet wird, aufrechterhält, belehrt eines Schlechteren. Infolgedessen ist also nicht Gewalt an sich verwerflich, sondern diejenige Gewalt, die sich gegen die herrschende Ordnung stellt, wird als Gewalt bezeichnet:

„Der reissende Strom wird gewalttätig genannt
Aber das Flussbett, das ihn einengt
Nennt keiner gewalttätig.„

merkte Bertolt Brecht dazu an und ergänzte an anderer Stelle:

„Zur Gewalt seine Zuflucht zu nehmen
Scheint Böse.
Aber da, was ständig geübt wird, Gewalt ist
Ist es nichts Besonderes.“

Mit anderen Worten: eine generelle, abstrakte Ablehnung von „Gewalt“ ist bestenfalls sinnentleert, schlimmstenfalls verlogene und bewusste Heuchelei aus dem Mund derer, die, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, bei anderer Gelegenheit im Bierzelt verkünden, sie wollten „bis zur letzten Patrone gegen die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem kämpfen“ und die Abschiebung von 69 Menschen in ein Kriegsgebiet als unerwartetes Geburtstagsgeschenk für sich verbuchen, das doch nicht nötig gewesen sei.

Das festzustellen soll nun umgekehrt natürlich auch keine abstrakte Rechtfertigung für „Gewalt“ sein, schon gar nicht für die konkrete Gewalt faschistischer Putschisten. Sondern es ist ein Plädoyer dafür, immer mitzubenennen und die eigene Empörung dahingehend zu kontextualisieren, wer im kritisierten Einzelfall gegen wen Gewalt anwendet. Wer das nicht tut, dokumentiert damit, faschistische Gewalt nicht als solche benennen, sondern in einem allgemeinen moralisierenden Rauschen untergehen lassen zu wollen. Die allgemeine Verurteilung von Gewalt ist dann ein Mittel, nicht genau hinsehen zu wollen oder zu müssen, was sich am 6. Januar in Washington ereignet hat, ein Mittel, das zugleich und ans Publikum gewandt in homöopathischer Dosis auch bei dieser Gelegenheit noch mitverabreichen möchte, dass sich nur ja keiner gegen die öffentliche Ordnung auflehnen solle.

Diese Ordnung allerdings, und das zeigt der weltweite Blick in den Spiegel der hässlichen Visage des Imperialismus, ist jederzeit in der Lage, aus „Frieden“ „Gewalt“ werden zu lassen, die im obigen Sinn qualifizierte Demokratie in offenen Faschismus umschlagen zu lassen. Denn „Demokratie“ und „Faschismus“ waren historisch und sind, wie gerade gezeigt wurde, keine absoluten Gegensätze, wie gerne behauptet wird – Faschismus ist nicht das Andere der Demokratie, schon eher die Leiche in ihrem Keller, die bei gegebenen Bedingungen jederzeit als Untoter umgehen kann:

„Faschismus und Liberalismus sind mögliche Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft. In bürgerlichen, aber auch in marxistischen Kreisen gibt es oft die Tendenz, den Faschismus in der Analyse als Gegenmodell der bürgerlichen Demokratie gegenüberzustellen. Damit ist eine falsche Vorstellung über die bürgerliche Klassenherrschaft verbunden, die in jedem Fall eine Klassendiktatur ist und entsprechend den Bedürfnissen des Kapitals und den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf zwischen offenen und verdeckten Formen der Diktatur wechseln kann. Weder der Faschismus noch die bürgerliche Demokratie dürfen klassenneutral betrachtet werden„.

Der Wechsel von bürgerlich-demokratischen zu faschistischen Herrschaftsformen kann defensiven oder offensiven Zielen dienen. Er kann schrittweise und allmählich oder putschartig erfolgen. Er ermöglicht es den Herrschenden, sich zur Durchsetzung sonst nicht erreichbarer Absichten der Schranken bürgerlich-demokratischer Standards zu entledigen und „die Macht des Finanzkapitals selbst“ (Georgi Dimitroff) offen und mit allen denkbaren Mitteln aufzurichten: „The essence of Fascism is the endeavour violently to suppress and overcome the ever-growing contradictions of capitalist society“ in der Absicht, die Struktur des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase aufrecht zu erhalten.

Es gibt keinen Faschismus ohne Imperialismus. Faschistische Bewegungen handeln, wie auch immer vermittelt und in sich widersprüchlich, letztlich im objektiven Interesse des aus Monopol- und Bankenkapital verschmolzenen Finanzkapitals und dessen Staatsapparats. Sie sind in der Regel politisch heterogen. Die Interessen ihrer Mitglieder stehen in ihrer grossen Mehrheit in einem antagonistischen Widerspruch zum eigenen Agieren.

Schlussfolgerung – der Blick in den Spiegel

Der faschistische Putschversuch in Washington war nicht deshalb ein wichtiges Ereignis, weil er so spektakulär war, sondern weil er exemplarisch zum Ausdruck bringt, was in den sich selber heute Demokratie nennenden imperialistischen Staaten möglich ist (auf andere Weise und nicht weniger blutig auch in Staaten, sich selber nicht Demokratien im bürgerlichen Sinn nennen, um die es aber hier und jetzt nicht geht).

Es geht nicht darum, dass Trump so schrecklich anders war als Barack Obama. Es geht darum zu verstehen, dass „Obama“ jenseits aller individuellen Eigenschaften handelnder Personen der Nährboden für „Trump“ ist, solange die Strukturen des Imperialismus existieren, in dessen Verwaltung beide Typen politischer Verwaltung der kapitalherrschaft arbeiten. Das Bestehen auf den gemeinsamen Wurzeln beider in den Strukturen ihrer Gesellschaft verkennt nicht, dass auch kleine Unterschiede in der jeweiligen Herrschaftspraxis bedeutsam für diejenigen sein können und genutzt werden müssen, die sich dieser Herrschaft gänzlich entledigen wollen.

Wer das allerdings nicht will und dennoch auf Unterschiede zwischen liberalen und offen terroristischen Formen des Imperialismus verweist, möchte sich und andere wohl eher darüber hinwegtrösten, dass der Imperialismus eben Imperialismus ist und der Faschismus zu seinem Arsenal der Selbstbehauptung gehören wird, solange er existiert. Diese „Ablehnung“ von Faschismus hat Bertolt Brecht, mitten aus dem Kampf gegen den deutschen Faschismus sprechend, wie folgt charakterisiert:

„Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?

Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.

Laute Beschuldigungen gegen barbarische Massnahmen mögen eine kurze Zeit wirken, solange die Zuhörer glauben, in ihren Ländern kämen solche Massnahmen nicht in Frage. Gewisse Länder sind imstande, ihre Eigentumsverhältnisse noch mit weniger gewalttätig wirkenden Mitteln aufrecht zu erhalten, als andere. Ihnen leistet die Demokratie noch die Dienste, zu welchen andere die Gewalt heranziehen müssen, nämlich die Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln. Das Monopol auf die Fabriken, Gruben, Ländereien schafft überall barbarische Zustände; jedoch sind diese weniger sichtbar.

Die Barbarei wird sichtbar, sobald das Monopol nur noch durch offene Gewalt geschützt werden kann. Einige Länder, die es noch nicht nötig haben, der barbarischen Monopole wegen auch noch auf die formellen Garantien des Rechtsstaates, sowie solche Annehmlichkeiten wie Kunst, Philosophie, Literatur zu verzichten, hören besonders gern die Gäste, welche ihre Heimat wegen des Verzichtes auf solche Annehmlichkeiten beschuldigen, da sie davon Vorteile haben in den Kriegen, die erwartet werden.

Soll man da sagen, diejenigen hätten die Wahrheit erkannt, die da z.B. laut den unerbittlichen Kampf gegen Deutschland verlangen, „denn dieses ist die wahre Heimat des Bösen in dieser Zeit, die Filiale der Hölle, der Aufenthalt des Antichrist“? Man soll lieber sagen, es sind törichte, hilflose und schädliche Leute. Denn die Folgerung aus diesem Geschwätz ist, dass dieses Land ausgerottet werden soll. Das ganze Land mit allen seinen Menschen, denn das Giftgas sucht nicht die Schuldigen heraus, wenn es tötet.

Der leichtfertige Mensch, der die Wahrheit nicht weiss, drückt sich allgemein, hoch und ungenau aus. Es faselt von „den“ Deutschen, er jammert über „das“ Böse, und der Hörer weiss im besten Fall nicht was tun. Soll er beschliessen, kein Deutscher zu sein? Wird die Hölle verschwinden, wenn er gut ist? Auch das Gerede von der Barbarei, die von der Barbarei kommt, ist von dieser Art. Danach kommt die Barbarei von der Barbarei und hört auf durch die Gesittung, die von der Bildung kommt. Das ist alles ganz allgemein ausgedrückt, nicht der Folgerungen für das Handeln wegen und im Grunde niemandem gesagt.

Solche Darstellungen zeigen nur wenige Glieder der Ursachenreihe und stellen bestimmte bewegende Kräfte als unbeherrschbare Kräfte, hin. Solche Darstellungen enthalten viel Dunkel, das die Kräfte verbirgt, welche die Katastrophen bereiten. Etwas Licht, und es treten Menschen in Erscheinung als Verursacher der Katastrophen. Denn wir leben in einer Zeit, wo des Menschen Schicksal der Mensch ist.”

Was ist zu tun?

Kern jeder antifaschistischen Praxis im „radikalen“, also das zugrundeliegende Problem an der Wurzel packenden Antifaschismus muss also sein, Kapitalismus und Imperialismus zu überwinden. Zwar ist selbstverständlich jede Praxis und jedes Denken, das die schrecklichsten Begleiterscheinungen des Faschismus wie etwas Krieg, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus bekämpft, zu unterstützen. Doch steht eine solche nicht-radikale Praxis immer objektiv in der Gefahr, letztlich genau die Bedingungszusammenhänge nicht anzugreifen, um die es gehen muss – also die bürgerliche Gesellschaft und ihre ökonomische Basis, den Kapitalismus.

Das am weitesten verbreitete Problem heutiger antifaschistischer Theorie und Praxis ist, das Verhältnis von Antifaschismus und revolutionärer Strategie / Praxis zur Beendigung des Kapitalismus auf den Kopf zu stellen. Seit langem hat sich der mainstream der heutigen Antifa vom Historischen Materialismus und den Zielen eines revolutionären Antifaschismus entfernt. Sie will vornehmlich die in letzter Instanz und in ihren heutigen Formen vom Imperialismus hervorgebrachten Bewusstseinsformen wie Nationalismus, Rassismus, Sexismus usw. bekämpfen, anstatt sich am Kampf gegen die die gesellschaftliche Wurzel des Faschismus, den Kapitalismus / Imperialismus, zu beteiligen. Damit bringt diese Bewegung unter anderem auch die jahrzehntelange Schwäche der revolutionären Bewegung in unserem Land zum Ausdruck.

Mit dieser Phase der antifaschistischen Arbeit und ihren Vorstellungen muss deshalb grundsätzlich gebrochen werden. Dasselbe gilt auch für eine antifaschistische Praxis, die sich heute auf den Boden einer „Verteidigung der bürgerlichen Republik“ begibt, anstatt die Verteidigung des Rechts auf Revolution, ihre unabdingbare Notwendigkeit und des praktischen Herankommens an sie in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns zu rücken. Die wichtigste aktuelle Aufgabe von Antifaschistinnen und Antifaschisten heute ist es, sich theoretisch und praktisch an der Klärung einer revolutionären Strategie für unser Land zu beteiligen. Eine solche Bewegung muss sich in den Rahmen einer sorgfältig begründeten Rekonstruktion marxistischen, revolutionären Denkens und mit ihr im Zusammenhang stehenden organisierten Praxis stellen. Unabhängig von einer solchen Praxis wird sie ziellos bleiben und scheitern.

Dass alle, die diesen Weg gehen wollen, heute unter dem enormen Zeitdruck stehen, den drohender imperialistischer Krieg und die drohende kapitalistische Klimakatastrophe ausüben, macht die Situation historisch einzigartig. Ob wir ihr gewachsen sind, wird sich zeigen.

Hans Christoph Stoodt

Fussnoten:

[1] W.I. Lenin, Was tun? (1902) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap5b.htm

[2] Ausführlicher dargestellt in „Irrationalismus und imperialistische Gesellschaft“ (https://wurfbude.wordpress.com/2019/06/01/irrationalismus-und-imperialistische-gesellschaft/)

[3] Kurz zusammengefasst in „Was ist Imperialismus?“ (https://wurfbude.wordpress.com/2017/05/03/was-ist-imperialismus/)

[4] Dieser Begriff wurde zuerst von der KP Griechenlands (KKE) benutzt. Kurze Darstellung in „Krach in der imperialistischen Pyramide“ (https://wurfbude.wordpress.com/2016/09/09/krach-in-der-imperialistischen-pyramide/)

[5] Näheres mit Verweis auf die im Hintergrund stehende Diskussion: „Ökonomie der Zeit. Kommunistische Strategie im Horizont der kapitalistischen Klimakatastrophe“ (https://kommunistische.org/diskussionstribuene-klima/oekonomie-der-zeit-kommunistische-strategie-im-horizont-der-kapitalistischen-klimakatastrophe/)

[6] Das erläutert aktuell am Beispiel von Diskussionen der Münchner Sicherheitskonferenz Jürgen Lloyd, Durch den Kopf hindurch. Zur Rolle des Massenbewusstseins, in Rotfuchs, Dezember 2020, S. 21f

[7] „Trump directed Pentagon to reverse decision and keep aircraft carrier in Middle East amid Iran tensions“, CNN 4.1.2020 (https://edition.cnn.com/2021/01/04/politics/uss-nimitz-aircraft-carrier-middle-east-iran/index.html)

[8] Aktuell haben Noam Chomsky und Vijay Prashad die entscheidenden Bedrohungen der globalen Menschheit beschrieben: Pandemie, Klimakatastrophe, Krieg. Auch wenn ich die analytische Seite dieser Betrachtung nicht teile, beschreibt sie die Wirklichkeit zutreffend: Chomsky und Prashad, Drei grosse Bedrohungen für die Welt, die wir im Jahr 2021 angehen müssen, deutsch: https://www.pressenza.com/de/2021/01/chomsky-und-prashad-drei-grosse-bedrohungen-fuer-die-welt-die-wir-im-jahr-2021-angehen-muessen/

[9] in seinen beiden Untersuchungen „Afghanistancode. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“ (2010) und „Die arabische Rebellion und ihre Feinde“ (2012) zeigt Marc Thörner das bis weit in die Geschichte des Kolonialismus zurückreichende immer wiederkehrende Bündnis zwischen französischen, britischen usw. Kolonialoffizieren und (ursprünglich marginalen) fundamentalistischen islamischen Kräften der unterdrückten Gesellschaften, dessen gemeinsamer Boden die Abwehr der Vorstellung war, die bürgerlich-demokratischen, universalistischen und angeblich vernunftgeleiteten Ideen der Kolonialisten (zB. Menschenrechte) gälten auch wirklich universal, dh. auch für die Kolonisierten. Thörner weist auf die Kontinuität solcher Bündniskonstellationen vom Kolonialismus bis in den heutigen Imperialismus, bis in seine Handbücher zur Aufstandsbekämpfung hinein, hin.

[10] klassisch und kurz die Schilderung interner Diskussionen nach 9/11 durch den ehemaligen US-General Wesley Clark in „Seven Countries in Five Years“: https://www.youtube.com/watch?v=FNt7s_Wed_4

[11] „Gegen die deutschen Zustände in der Linken. Zum Stellenwert der ‚antideutsch' und ‚a ntinational' begründeten reaktionären Wende der linken Bewegung und zur Möglichkeit ihrer Überwindung“ (https://wurfbude.wordpress.com/2018/02/18/gegen-die-deutschen-zustaende-in-der-linken/)

[12] W.I.Lenin, Ergebnis und Bedeutung der Präsidentschaftswahlen in den USA, Prawda, Nr. 164, 9. November 1912; in: LW 18, 395 – 397.

[13] LW 31, S. 70.

[14] Slavoj Zizek, Beitrag auf der Konferenz „Gibt es eine Wahrheit – nach Lenin?“, Essen 2001 (http://www.die-welt-ist-keine-ware.de/vsp/soz/0102152.htm)

[15] W.I. Lenin, Staat und Revolution, Kapitel 1 in: LW 25, 397 – 413

[16] Kommunistische Organisation (Hg.), Programmatische Thesen, 5.: Faschismus und Antifaschismus (https://kommunistische.org/programm-thesen/5-faschismus-und-antifaschismus/)

[17] Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse. Bericht auf dem VII. Weltkongress der KI, 2. August 1935, in: Ausgewählte Werke II, Berlin/DDR 1958, S.525

[18] Rajani Palme-Dutt, siehe oben

[19] Zu einem Foto der das Kapitol besetzt haltenden buntscheckig verkleideten Putschisten einschliesslich eines Schamanen mit Büffelhörnern bemerkt das „lowerclassmagazin“ auf Twitter ironisch: „Mischung aus Rassismus, Incel-Männlichkeit und US-Nationalismus verblödet diese Leute auf ein level, dass sie gegen die eigene Krankenversicherung und für einen Multimillionär in Kauf nehmen, erschossen zu werden, während sie Trapper-Mützen und lächerliche Cappies tragen.“ Dies als richtige Illustration des sozialen Charakters des gesamten Vorgangs auf Seiten der unmittelbaren Akteure. Die implizit mittransportierte These, Faschisten seien vor allem dumm, halte ich für völlig verfehlt.

[20] Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, Paris 1935, (https://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html).