Damit könnte es, zumindest in Arizona, bald Schluss sein.4 Ein neues Polizeigesetz in dem westlichen Bundesstaat verbietet alle Aufnahmen von Polizeiverhaftungen, die aus einer Entfernung von weniger als 2,5 Metern gemacht werden. Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen wie der American Civil Liberties Union (ALCU) öffnet diese Regelung in der Praxis dem Missbrauch durch Polizeibeamte Tor und Tür. Da alle Polizisten in Arizona nun einen Abstand von 2,5 Metern gegenüber filmenden Zeugen einfordern können, dürften Videoaufnahmen von Verhaftungen einfach durch das Zugehen des Polizeibeamten auf den Filmenden verhindert werden. Die neuen Auflagen sind somit noch repressiver als die diesbezügliche postdemokratische Rechtssprechung in der Bundesrepublik.5 Die ALCU in Arizona kommentierte, dass hierdurch „eins der effektivsten Werkzeuge“ gegen Menschenrechtsverstösse beeinträchtigt worden sei.
Das neue Polizeigesetz in Arizona sei nicht nur „eine schlechte Idee“, es sei auch „verfassungswidrig“, kritisierte die ALCU. Dabei ist es fraglich, ob eine solche Aussage noch sinnvoll ist, da die Idee dessen, was in den USA verfassungsgemäss ist, einem raschen, reaktionären Wandel unterworfen ist. Die ALCU könnte beim Gang vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten in dieser Streitfrage ihr blaues Wunder erleben, nachdem das oberste rechtsprechende Staatsorgan mit einer Reihe spektakulärer Grundsatzentscheidungen die jahrzehntelange Rechtspraxis, wie auch frühere Grundsatzentscheidungen, in den USA revidierte.
Die neun Richter des „Supreme Court“ werden vom Präsidenten nominiert und vom US-Senat auf Lebenszeit ernannt – und die US-Rechte hat es in den vergangenen Jahren geschafft, in dem Gremium eine deutliche Mehrheit zu erkämpfen. Donald Trump, der rechtspopulistische Amtsvorgänger Joe Bidens, hat während seiner Amtszeit drei Richterposten beim Supreme Court besetzen können. Dabei verfolgten die zunehmend nach rechts abdriftenden Republikaner jahrelang eine gezielte Strategie der reaktionären Politisierung des Justizwesens der USA, bei der reaktionäre Justizorganisationen, wie die als „Verfassungstaliban“ verschriene Federalist Society, rechte Aktivisten, mitunter mit mangelnder juristischer Sachkenntnis, in Schlüsselpositionen im Justizapparat hievte.6
Dies gilt auch für den Supreme Court. Derzeit gelten sechs der neun Richter als „konservativ“, als dem rechten politischen Spektrum zugehörig.7 Diese reaktionäre Mehrheit bemühe sich faktisch in einem rechten Kulturkampf, die Uhren der gesellschaftlichen Entwicklung zurückzustellen, kritisierten US-Medien.8
Es scheine, als ob die konservative Mehrheit der Richter sich mit dem Amerika der 50er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts identifiziere, als die Nation „christlich, weiss und ländlich geprägt“ gewesen sei, kommentierten Menschenrechtsaktivisten in The Atlantic. Der Supreme Court versuche somit, die tiefgehenden demografischen und kulturellen Veränderungen in den urbanisierten USA zu revidieren, die ein „ethnisch, religiös und kulturell diverses Amerika“ formten.
Abtreibungen: Zurück in die Vergangenheit
Dies ist vor allem beim Abtreibungsrecht evident geworden,9 wo die rechte Richtermehrheit Ende Juni die Grundsatzentscheidungen des Supreme Court aus den Jahren 1973 und 1992 kippte, die ein landesweites liberales Recht auf Schwangerschaftsabbrüche festschrieben. Von nun an sollen wieder die Bundesstaaten der USA das Abtreibungsrecht regeln, was für viele Frauen in konservativen Regionen zu einer massiven Einschränkung ihrer Rechte führen wird. Die drei liberalen Richter, die gegen das Urteil stimmten, kritisierten bei ihrer Minderheitenmeinung, dass künftig „junge Frauen mit weniger Rechten aufwachsen“ würden als „ihre Mütter und Grossmütter“.Das von breiten Protesten begleitete Urteil bildete dabei nur einen Baustein in einer reaktionären Strategie eines regelrechten Justizkrieges,10 in dem eine politisierte Justiz die ohnehin durch Lobbyarbeit und Krisendynamik eingeengten Spielräume der demokratischen Biden-Administration weiter einzuengen versucht. Es scheint fast, also ob die Republikaner, die spätestens mit der Wahl Trumps sich zu einer rechtspopulistischen, für die extreme Rechte offenen Kraft entwickelten, vermittels des Supreme Court weiterregieren würden.
Rolle rückwärts bei Umwelt, Klima, Religion, Waffenrecht
Dies gilt vor allem bei der Umwelt- und Klimapolitik, die ohnehin von den neoliberalen Kräften in der Biden-Administration gegenüber den Wahlversprechen massiv verwässert wurde.11 Ein weiteres Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs, das nur wenige Tage nach der faktischen Abschaffung des landesweiten Schwangerschaftsrechts erfolgte, schränkte die Befugnisse der US-Umweltschutzbehörde EPA massiv ein.12 Künftig wird die EPA nicht mehr in der Lage sein, Emissionsvorgaben für Kohle- oder Gaskraftwerke zu erlassen.Damit wird Klimapolitik faktisch unmöglich gemacht. Alle Grenzwerte beim Ausstoss von Treibhausgasen sollen auf dem Gesetzesweg beschlossen werden, wo die Republikaner über umfassende Mittel zum Sabotieren von Klimaschutzinitativen verfügen. Es waren konservative und republikanischer Politiker aus dem Kohlestaat West Virginia, die diesen Streitfall vor das konservativ dominierte Oberste Gericht brachten.
Bei der reaktionären Justizoffensive folgt inzwischen Schlag auf Schlag: Die christliche Rechte der USA kann sich über Grundsatzurteile – wiederum gefällt mit der rechten Mehrheit von 6 zu 3 – freuen, die religiöse Handlungen Einzelner bei öffentlichen weltlichen Veranstaltungen unter den Schutz der Religionsfreiheit stellen. Ein klagender Sporttrainer sah seine Rechte verletzt, da er nach einem Football-Spiel öffentlich auf dem Sportplatz einer Schule beten wollte. Diese öffentliche religiöse Handlung, die zuvor als Privatsache galt und nicht während der Arbeitszeit erlaubt war, ist nun höchstrichterlich legitimiert.13 Faktisch werden hierdurch Gebete in öffentlichen Schulen legalisiert – und die Trennung zwischen Staat und Religion ausgehöhlt.14 Kurz zuvor hat der Supreme Court überdies entscheiden, dass private religiöse Schulen ebenfalls Anspruch auf staatliche Subventionen hätten.
Die Waffenlobby der Vereinigten Staaten kann ebenfalls – trotz regelmässiger Amokläufe und Massenmorde in der sozial zerrütteten Gesellschaft15 – auf die rechte Mehrheit im Obersten Gerichtshof zählen. Im Juni erklärten die „konservativen“ Richter, dass ein in New York gültiges Waffengesetz, laut dem das verdeckte Tragen von Waffen nur bei „hinreichender Begründung“ genehmigt werden kann, verfassungswidrig ist.16
Wiederum stimmten die drei liberalen Richter gegen die Entscheidung der rechten Mehrheit, laut der alle US-Bürger zwecks Selbstverteidigung eine Waffen in der Öffentlichkeit tragen dürfen. Diese Grundsatzentscheidung dürfte viele Regelungen zur Einschränkung des Waffenrechts obsolet machen. Laut ersten Schätzungen lebt ein Viertel aller US-Bürger in Bundesstaaten, in denen Einschränkungen des Tragens und des Besitzens von Waffen nun geschleift werden könnten.
Wozu Wahlen, wenn die Parlamente schon besetzt sind?
Dabei zeichnen sich inzwischen auch juristische Angriffe auf die bürgerlich-demokratische Verfasstheit der Vereinigten Staaten ab, die selbst Grundlagen einer kapitalistischen Demokratie – wie das Wahlrecht – infrage stellen.17 Der Oberste Gerichtshof hat Ende Juni den Fall Moore gegen Harper zur Anhörung zugelassen, bei dem es vordergründig um die von der US-Rechten favorisierte Praxis des sogenannten Gerrymandering im Bundesstaat North Carolina geht. Hierbei werden Wahlbezirke neu festgelegt, um wohlhabenden, weissen Regionen und Vorstädten ein grösseres Gewicht bei den Wahlen zu verschaffen – was den Republikanern zugutekommt.Das Oberste Gericht von North Carolina erklärte diese manipulativen Wahlbezirksänderungen, bei denen die Republikaner in dem südlichen Ostküstenstaat ihre Wahlchancen optimierten, für rechtswidrig, da sie „extreme parteiische Vorteile“ nach sich zögen.18 Daraufhin zog der Sprecher des Repräsentantenhauses von North Carolina, Timothy K. Moore, vor den Supreme Court, wobei er eine exotische Rechtsinterpretation bemühte, laut der auf Bundesstaatsebene alle Gewalt von der Legislative, dem Parlament, ausgehe und die Gerichte, also die Judikative, laut Verfassung gar nicht die Autorität hätten, deren Wahlgesetzgebung zu annullieren – und diese Klage, die sich auf die marginale „independent state legislature doctrine“ stützt, wurde prompt zugelassen.
Die Implikationen dieses Rechtskonstrukts sind weitreichend und fatal, da es hierbei nicht nur um massgeschneiderte Wahlbezirke geht. Die Verfassungen der Bundesstaaten würden faktisch aufhören, rechtsverbindliche Vorschriften bei der Durchführung von Wahlen auf Landes- und Bundesebene zu gewährleisten. Die Gerichte und die Gouverneure würden ihrer Rechtsmittel verlustig gehen, um Manipulationen des Wahlprozesses oder Wahlausgangs zu verhindern, die von der Mehrheit in den Repräsentantenhäusern beschlossen werden könnten.19
Sogar die blanke Ignorierung von Wahlergebnissen, die der – rechten – Mehrheit in den Repräsentantenhäusern nicht passen, wäre bei der bundesweiten Etablierung der „independent state legislature doctrine“ möglich. Tatsächlich hat die Trump-Administration unter Berufung auf ähnliche Rechtskonstrukte versucht, die Ergebnisse der verlorenen letzten Wahl zu revidieren. Es sei kaum möglich, die „Gefahr zu überschätzen“, die von diesem vor dem Obersten Gerichtshof verhandelten Fall ausgehe, kommentierten US-Medien.20
Es gibt kein Zurück in die Vergangenheit
Die reaktionäre Kampagne der politisierten US-Justiz würde somit die Einführung des allgemeinen Wahlrechts faktisch infrage stellen, sollte der Supreme Court, dessen Legitimität inzwischen von US-Leitmedien wie der New York Times21 angezweifelt wird, auch diesen antidemokratischen Bestrebungen seinen höchstrichterlichen Segen verleihen. Doch selbstverständlich ist eine reaktionäre Rückkehr in die Vergangenheit, die nicht nur die amerikanische Rechte umtreibt, nicht möglich.Die reaktionären Bestrebungen in der Politik und im Staatsapparat der USA, wie sie auch in der BRD in einem breiten Spektrum von AfD bis Wagenknecht präsent sind, treten ja nicht mit den zunehmenden sozialen und ökologischen Verwerfungen und Krisenprozessen in Wechselwirkung, die eine indirekte, durch ideologische Konsensbildung demokratisch vermittelte Form kapitalistischer Herrschaft zunehmend erschweren. Angesichts der Unfähigkeit des Kapitals, der ökonomischen wie ökologische Krise effektiv zu begegnen, tritt die Notwendigkeit der Systemtransformation immer deutlicher hervor. Damit gewinnen autoritäre, in letzter Konsequenz faschistische Bestrebungen zur Aufrechterhaltung des Bestehenden an Gewicht, die selbst vor dem Akt der Wahl nicht haltmachen können.
Die durch Markt und Justiz vermittelten Formen kapitalistischer Herrschaft drohen in der sich entfaltenden Krisenkaskade in direkte, diktatorische Aufrechterhaltung von Macht umzuschlagen. Von den Demokraten, die derzeit ihren letzten neoliberalen Tanz auf dem Vulkan22 einer zerrütteten US-Gesellschaft aufführen, ist kaum Widerstand zu erwarten. Während die Biden-Administration der rechten Justizoffensive mit einer defensiven Haltung und blankem Appeasement23 begegnet und mitunter feministische Aktivistinnen, die auf ein entschlossenes Vorgehen drängen, als „weltfremd“ verunglimpft,24 warnen nur die wenigen linken Demokraten im Repräsentantenhaus vor den Folgen dieser Apathie.
Die Vereinigten Staaten erlebten einen schleichenden „Justizcoup“, erklärte die linke Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez Ende Juni, bei dem der Oberste Gerichtshof in eklatanter Übertretung seiner Kompetenzen sich die „Machtbefugnisse des Präsidenten und des Kongresses“ aneigne. Sollte die Biden-Administration nicht jetzt gegen die rechte Mehrheit im Supreme Court vorgehen und diesen „in die Schranken weisen“, würden die Obersten Richter demnächst „sich die Präsidentschaftswahlen vornehmen“, warnte Ocasio-Cortez.
Supreme Court: Reaktionäre Kontinuitäten
Es ist eine weitverbreitete Fehleinschätzung, das Oberste Gericht der USA aufgrund einiger progressiver Urteile zu Minderheiten- und Frauenrechten während der Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er und 70er Jahren für eine prinzipiell progressive Einrichtung zu halten. In der Geschichte der Vereinigten Staaten spielte das Gremium oft eine reaktionäre Rolle, bei der die Richter grundlegende Reformen zu verhindern suchten.In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bemühte sich der Supreme Court nach Kräften und weitgehend vergeblich, den New Deal des progressiven Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu torpedieren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts stellten sich die Obersten Verfassungshüter gegen die Republikanische Partei und deren Präsidenten Abraham Lincoln, indem sie die Eindämmung von Sklaverei mit Rechtsmitteln zu hintertreiben versuchten.25
Das Oberste Gericht, das noch 1857 mit einer Mehrheit von 7 zu 2 in einem offen rassistischen Grundsatzurteil Afroamerikanern die Bürgerrechte verweigerte,26 war eine der letzten Machtbastionen der Sklavenhalterstaaten in Washington. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges hat Lincoln übrigens ein einfaches Rezept gegen die reaktionäre Justizsabotage gefunden: er hat die Zusammensetzung des Supreme Court durch ein Gesetz so verändert, dass die Anhänger der Sklaverei und Sezession in dem Gremium keine Mehrheit mehr fanden.27