Die derzeitige Situation der USA sei vergleichbar mit der Chinas im 19. Jahrhundert, wo einst das britische Empire versuchte, China durch den Verkauf von Opium von sich abhängig zu machen, was die chinesische Gesellschaft zerstörte und zu den Opiumkriegen führte, schreiben der Soziologe James Petras und die Pathologin Robin Eastman-Abaya in einem Artikel, der auf der kanadischen Webseite «globalreasearch» publiziert wurde. Die Autoren wählen starke Worte. Sie vergleichen die Opioid-Epidemie mit den kambodschanischen «Killing Fields» und nennen sie einen «Amerikanischen Holocaust».
Was muss passieren, damit sich die USA befreien können von Strukturen, die eine ganze Nation zu ruinieren drohen?, fragen sie. Wer profitiert von der Opioid-Schwemme, wer leidet darunter und warum hat eigentlich noch niemand nach den sozio-ökonomischen Zusammenhängen gefragt?
Wer profitierte und das noch immer tut
Die Pharmaindustrie ist weder das British Empire noch die Camorra, profitiert hat sie aber sicherlich. Zuallererst das Unternehmen Purdue Pharmaceuticals und seine Eigentümer, die Familie Sackler. Purdue vermarktete ab den 1990er-Jahren das Medikament Oxycontin (Oxycodon) und täuschte die Öffentlichkeit mit allen Mitteln über die stark süchtigmachende Eigenschaften des Schmerzmittels. Andere Pharmaunternehmen zogen nach. Opioide sind günstig herzustellen und haben bisher die höchsten Profite der Pharma-Geschichte eingefahren.Zu einem sehr hohen Preis.
Jedes Jahr sterben laut Petras und Eastman-Abaya über 65'000 Arbeiter an den Folgen ihrer Abhängigkeit. Viele sind infolge schärferer Verschreibungsvorschriften längst in der Illegalität angelangt.
Pillen sind günstiger als Physiotherapie
Wer vor der Tür eines Dealers landet, dessen Geschichte hat wahrscheinlich in einem Wartezimmer angefangen. Ärzte und Angestellte im Gesundheitswesen verschlossen jahrelang die Augen vor dem wachsenden Suchtproblem und profitierten mit. Schmerzmittel waren einfach, günstig und effektiv, vor allem für weniger gut gestellte Patientinnen und Patienten. Wer weniger Geld hatte, bekam nicht nur schneller und häufiger Opioide verordnet, er ist auch schlechter versorgt, wenn er davon abhängig wird.Pillen sind günstiger als Physiotherapie und kostspielige Untersuchungen. Und sie kosten weniger Zeit. Zum doppelten Vorteil der Arbeitgeber, dieser meist aus der Unter- und Mittelschicht stammenden Kranken: Sie fallen bei der Arbeit weniger häufig aus. Und sie belasten die Krankenkasse weniger, an deren Kosten sich die Arbeitgeber beteiligen müssen. Die Unternehmen profitieren noch zusätzlich: Vor allem in strukturschwachen Regionen können sie ältere Arbeitnehmer, die wegen eines Suchtproblems ausfallen, mit jüngeren ersetzen, die sie deutlich schlechteren Bedingungen einstellen.
Das hat Folgen auch für die Gewerkschaften: Ungefähr 15 Prozent aller im Baugewerbe beschäftigten Arbeiter sind laut Petras und Eastman-Abaya substanzabhängig, was sich nun bemerkbar macht. Die Kassen der Gewerkschaften können die Folgen kaum mehr tragen.
Für die Pensionseinrichtungen sind die Folgen finanziell erfreulich: Die Lebenserwartung in den USA ist gesunken, die Suizidzahlen erreichen Höchstwerte. Dadurch sparen Pensionskassen, an denen sich in den USA auch der Arbeitgeber beiteiligen muss, und die Pensionsfonds Milliarden.
Sogar tote Süchtige sind wertvoll. Nach dem Tod profitiert noch die Transplantationsmedizin, schreiben die Autoren. Es klinge morbid, aber so viele Tote in vergleichsweise niedrigem Alter und mit oft tadellos funktionierenden Organen habe es noch nie gegeben. Organhändler warteten oft schon in den Notaufnahmen der Krankenhäuser auf neue Drogenopfer. Für die noch lebenden Süchtigen ist eine ganze Industrie aus privaten Entzugskliniken, Drogenberatungsangeboten und Ähnlichem entstanden, die ebenfalls von der Situation profitieren.
Wer leidet und das noch lange tun wird
In manchen Fällen nutze ein Kranker den in der Regel wohlhabenden Profiteuren also mehr als ein Gesunder, legen Petras und Eastman-Abaya dar. Das obere Fünftel der US-Bevölkerung profitiere auf Kosten des untersten.Dabei bedeute die Opioid-Epidemie nicht nur Leiden für alle Abhängigen, sondern auch für ihre Familien und ihr soziales Umfeld. Soziale Bindungen brechen auseinander, die Gemeinden werden mit dem Suchtproblem nicht mehr fertig. An manchen Orten gibt es jeden Tag mehrere Notfalleinsätze aufgrund von Überdosen.
Besonders hart trifft es Kinder von Abhängigen, die bei Verwandten, Nachbarn oder in Fürsorgeeinrichtungen aufwachsen oder von ihren Eltern vernachlässigt werden. Etliche werden bereits süchtig geboren und müssen nach der Geburt zuerst einen Drogenentzug durchmachen. Zeitgleich werden weiter Steuern reduziert und Zuwendungen an soziale Einrichtungen gekürzt. Welche gesellschaftlichen Folgen das haben wird, ist noch nicht abzusehen.
Wer weggesehen hat
Sowohl die demokratische wie die republikanische Partei haben das wachsende Suchtproblem 20 Jahre lang ignoriert. Man spreche über besonders betroffene Gebiete als «Shitholes» (Donald Trump) und über ihre Bewohner als «Bedauernswerte», die ihr Schicksal schon irgendwie verdient haben müssen (Hillary Clinton). Abhängige sind als Wähler zu wenig vielversprechend, die Spenden von «Big Pharma» zu hoch und das Thema zu wenig attraktiv.Behörden wie die FDA (Food and Drug Administration), die Drogenbehörde DEA (Drug and Enforcement Agency) und die Seuchenschutzbehörde CDC (Center for Desease Control), die jahrelang die Konsequenzen des wachsenden Schmerzmittelverbrauchs ignoriert hätten, müssten ihrer Rolle gerecht werden und süchtig machende Medikamente regulieren, Hersteller, Vermarkter und Lobbyisten für den angerichteten Schaden verantwortlich gemacht werden, fordern die beiden Autoren.
Was sich ändern müsste
Nicht nur die Politik müsse sich endlich rühren. Die Verwaltung müsse die Datenerfassung vereinheitlichen und belastbare Daten zur Verfügung stellen, um das Opioid-Problem besser zu erfassen. Ärzte müssten ihre Verschreibungspraxis überdenken und ein Register über verschriebene Schmerzmittel führen. Die Zwei-Klassen-Medizin, in der Wohlhabende umfassend versorgt, Arme aber mit Schmerzmitteln ruhiggestellt werden, müsse beendet werden. Das Finanzsystem, das dafür gesorgt habe, dass ein Kranker mehr Wert hat als ein Gesunder, müsse sich ändern.Bislang hat lediglich Purdue Pharmaceuticals eine Strafe von 635 Millionen Dollar für die irreführende Angabe bezahlt, Oxycodon mache nicht süchtig. Die Gewinne des Unternehmens aus dem Verkauf von Oxycontin summieren sich unterdessen auf 35 Millarden Dollar.