Von langer und von kurzer Hand
Diese Regierungsbildung war aber nicht von langer Hand vorbereitet. Primär war sie den Ambitionen des ÖVP-Vorsitzenden geschuldet. Es war auch seine letzte Chance, politisch im Geschäft zu bleiben. Schüssels Karriere neigte sich im Herbst 1999 bereits dem Ende zu, immerhin hatte er für die ÖVP das bisher schlechteste Wahlergebnis in der Zweiten Republik abgeliefert. Doch der Coup sollte ihn retten. Die freiheitliche Karte sicherte sein Überleben. „Eine Flasche wie Schüssel (…) war politisch schon mausetot, die VP-Granden hatten bereits ihre Trauerkleider an“, verkündete Michael Schmid, Landesobmann der steirischen FPÖ, einer dieser unglückseligen freiheitlichen Zweitagesfliegenminister unter eben diesem Kanzler.Wolfgang Schüssel war ein gewiefter Taktiker, ein Blitzgneisser. Da hat sich etwas angeboten, was er nicht ausschlagen wollte. Kurzer Hand wurde zugegriffen. Ohne Schüssels Entschlossenheit, seinen Mut zum Übermut, hätten sich in der ÖVP zweifellos die Grosskoalitionäre der alten Schule durchgesetzt. Die Schüsselsche Logik ging so: Der Erste ist der Verlierer, der Zweite ist der Gewinner, aber der Dritte ist der Sieger. Und der Dritte, das bin ich.
Mit einer Schneid sondergleichen, noch dazu gegen jedes Wahlversprechen, hatten vor allem die regierenden Sozialdemokraten nicht gerechnet. Zur Strafe wurden sie sechs Jahre in die Opposition geschickt und ihr Parteiobmann Viktor Klima verabschiedete sich ins argentinische Exil. Schüssel hievte sich 2000 nicht nur ins Kanzleramt, er nutzte Haiders psychische Schwächen auch beinhart aus, indem er 2002 an dessen Tiefpunkt wählen liess und seinen einzigen, wenn auch beachtlichen Wahlsieg feiern konnte. Selbst 2007 war es ihm – nach verlorener Wahl gegen Alfred Gusenbauer (SPÖ) – noch vergönnt, trotz Niederlage die Koalitionsverhandlungen fulminant zu gewinnen und quasi im Abgang eine Ressortverteilung ganz nach seinen Vorstellungen zu basteln. Diese Jahre werden wohl einmal als Schüsseliade in die Geschichtsbücher eingehen.
Die Vereidigung des neuen Kabinetts erfolgte im Jänner 2000. Bundespräsident Thomas Klestil gab der Regierung ein Präambel mit auf den Weg und agierte bei der Angelobung in der Hofburg mit eisiger Miene. Der Regierungseintritt der FPÖ sorgte im für ziemliche Aufregung. Im Ausland noch mehr als im Inland. So hatte sich das Europaparlament Anfang Februar mit deutlicher Mehrheit gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ ausgesprochen. Weiters beschlossen vierzehn Regierungen, die bilateralen Beziehungen zur österreichischen Bundesregierung auf ein Mindestmass zu reduzieren. Das Elend des Kanzlers und seiner Minister lag darin, auf zwischenstaatlicher Ebene weder eingeladen noch besucht zu werden. Ab und zu wurde ein Handschlag verweigert oder zwischendurch ein Raum verlassen. Ansonsten nahm aber alles seinen gewohnten Gang. Auf Kontakte innerhalb der Europäischen Union hatte das keine Auswirkungen.
Die Massnahmen erinnerten mehr an eine partielle Quarantäne denn an eine Sanktion, an kleinere Schikanen und grössere Unfreundlichkeiten. Der Begriff der Sanktion war zweifelsfrei masslos übertrieben, aber innenpolitisch zweckmässig, um Österreich als Opfer darzustellen. „Österreich soll dem Ausland wie ein Mann gegenüberstehen“, so Haider.
Die Sanktionen sind „bedingungslos aufzuheben“, forderte die als „Haiders Cobra“ bekannte freiheitliche Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer (pikanterweise die spätere Ehefrau des aktuell ausscheidenden österreichischen EU-Kommissars Johannes Hahn, ÖVP). Zuerst versuchte Österreichs Diplomatie die Lage zu beruhigen. Der Kanzler selbst begab sich in Europa auf eine Promotion-Tour. Er garantierte vor laufender Kamera, dass Jörg Haider jetzt für alles sei, wofür die ÖVP schon immer gewesen ist. Sogar für die EU und gegen Ausländerfeindlichkeit habe er sich ausgesprochen: „Das haben wir auch gleich schriftlich festgehalten.“ Das fruchtete freilich wenig.
Im Frühjahr 2000 verschärften die Wiener Koalitionäre die Gangart gegenüber der EU. Sie bedienten sich dabei der Erpressung und des Ultimatums: Sollten die EU-14 die Sanktionen nicht ehebaldigst aufheben, dann werde man eine Volksbefragung anzetteln und durch diesen Akt patriotischer Aufstachelung das Ende jener herbeiführen. Punkt 1 des vorliegenden Volksbefragungstextes lautete etwa: „Soll die Regierung im Zuge der bevorstehenden Reform des EU-Vertrages mit allen geeigneten Mitteln sicherstellen, dass die von den anderen Mitgliedsstaaten der EU gegen Österreich ungerechtfertigt verhängten Sanktionen sofort aufgehoben werden?“ Spätestens mit der angedrohten Volksbefragung, wo die Österreicher ihre entschiedene Missbilligung der Sanktionen durch die willfährige Beantwortung von Aha-Fragen ausdrücken sollten, war die Wiener Regierung in der Offensive.
Die Volksbefragung war insbesondere ein Anliegen Wolfgang Schüssels, der sich in dieser Frage auch gegen nicht wenige Parteigranden (EU-Kommissar Franz Fischler, seinem Vorgänger als ÖVP-Chef, Erhard Busek, diverse Landeshauptleute) durchsetzte. Was anfänglich nach einem glatten 14:1 ausgesehen hat, endete in einem blamablen 0:1. FPÖ-Kluchef Peter Westenthaler sprach von einem Golden Goal, das man der EU durch die Volksbefragung schiessen werde. Das Golden Goal war freilich ein Eigentor, ein Beispiel dafür, wie falsch in den europäischen Hauptstädten die Situation und das eigene Durchsetzungsvermögen eingeschätzt wurde. Politik darf ja nicht in erster Linie an ihren Absichten gemessen werden, sondern insbesondere an ihren Ergebnissen.
Weisenrat und Unbedenklichkeitszertifikat
Wie sollten die EU-Staaten reagieren? Mit der Installation eines Weisenrates, der Österreichs Regierungstätigkeit überprüft und das Wesen der FPÖ beurteilt, glaubte man einen Ausweg gefunden zu haben. Der Ausstieg aus den Sanktionen war vorprogrammiert, und zwar so: Die Weisen werden — legen sie die Standards der anderen EU-Länder als Beurteilungskriterien zugrunde — nichts anderes tun können als Österreich weisszuwaschen. Sie werden feststellen, dass (so potent der Rassismus auch ist) weder die Fremdenfeindlichkeit hier grösser ist als anderswo, noch, dass die Regierung Massnahmen gesetzt hat, die ausserhalb der europäischen Werte liegen. Genau so ist es gekommen. Haider wurde bestätigt, was er stets betonte, dass sich seine Ausländerpolitik nicht von der eines Blair oder Schily unterscheide, dass er da ganz auf Ebene der französischen Gaullisten liege. Tatsächlich, die Differenz bestand in der rabiaten Begleitpropaganda, sie war nie substantiell.Die Bestellung des Weisenrats unter Leitung des ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari zur Prüfung der Situation in Österreich demonstrierte, dass die massgeblichen EU-Politiker mit ihrer Weisheit schlicht am Ende gewesen sind. Nicht anders kann die Delegierung einer politischen Frage an ein Expertengremium gedeutet werden. Mit den Weisen wollte man sich offensichtlich aus der Verantwortung stehlen.
Die EU-14 befanden sich in einem klassischen Dilemma; sie hatten sich in eine Sackgasse manövriert, wo sowohl die Aufhebung als auch die Aufrechterhaltung der Sanktionen für sie kontraproduktiv geworden sind. Letztlich gab wohl den Ausschlag, dass man ein Nachgeben gegenüber Österreich für klüger hielt, als sich weiteren Konflikten auszusetzen. So kam, was kommen musste: Der ÖVP wurde ein Unbedenklichkeitszertifikat ausgestellt, und der FPÖ zumindest eine Regierungstauglichkeitsbescheinigung. So mussten die EU-Regierungschefs legitimieren, was sie nie legitimieren wollten, und was sie ohne Sanktionen nie hätten legitimieren müssen. Schwarz-Blau erhielt im September 2000 den europäischen Sanctus. Das Triumphgeheul in Wien war unüberhörbar.
Die Attacke der EU-14 auf die FPÖ war gescheitert. „Es kann festgestellt werden, dass die Einwanderungspolitik der österreichischen Regierung zeigt, dass sie für die gemeinsamen Werte eintritt“, heisst es im Report des Weisenrates. Das Schlimme ist, dass das stimmt. Der wahre Schrecken ist ja nicht, dass Österreich anders als Europa, sondern dass Europa wie Österreich ist. Es war eine peinliche Schmach, gelinde gesagt eine unabsichtliche Selbstentlarvung, als man nicht nachweisen konnte, dass diese Wiener Koalition grundsätzlich anderes tickte als die Europäische Union selbst. Eigentlich hätte man es wissen können.
Ein abschliessendes Wort noch zu Jörg Haider. Dieser wurde weniger durch die damalige Regierungsbeteiligung der FPÖ entzaubert (obwohl deren Minister meist dilettantisch bis inferior agierten), als dass er ein Opfer seiner eigenen Psyche geworden ist. Der inzwischen zum Kärntner Landeshauptmann avancierte erlebte in dieser Regierung ein veritables Fiasko, weil der labile Egozentriker sich psychisch nicht im Griff hatte und seine Kränkung ungezügelt und ungebremst bis zur Spaltung der FPÖ auslebte. Es war ein Amoklauf, der dann schliesslich in einer Amokfahrt im Oktober 2008 sein selbstzerstörerisches Ende gefunden hat.