UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Quo vadis, Anarchismus?

778

Black Flame, CrimethInc. und die Frage, wohin der Anarchismus steuert Quo vadis, Anarchismus?

earth-europe-677583-70

Politik

"Was ist eigentlich Anarchie?" Diese Frage ziert bereits eine der meist gelesenen Anarchismuseinführungen mit der Absicht, diese zu beantworten. Gemeinhin scheint das auch ein nicht allzu schweres oder kontroverses Unterfangen zu sein, richtig? Falsch. Die Lektüre zweier neuer Bücher zum Anarchismus lässt hier Zweifel aufkommen.

Strassenpropaganda in Poznan, Polen.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Strassenpropaganda in Poznan, Polen. Foto: MOs810 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 23. Februar 2013
1
0
Lesezeit8 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Ich habe stets die Position vertreten, dass der Anarchismus eine heterogene Bewegung und Idee ist, wo man verschiedene Anarchismen (also sich überschneidende Unterströmungen im Anarchismus mit speziellen inhaltlichen und/oder aktionistischen Ausrichtungen) finden kann.

Diese Heterogenität betrachte ich als Zeichen von Vitalität und der Fähigkeit und Bereitschaft, sich theoretisch und praktisch weiterzuentwickeln sowie solidarisch auszutauschen. Die Bereitschaft, unterschiedliche Auffassungen in anarchistische Theorie und Praxis zu akzeptieren (auch, wenn man fallweise nicht mit allem einverstanden ist), halte ich für einen Vorteil gegenüber autoritären Spielarten des Sozialismus. Ich betrachte sie nicht als Hemmschuh.

Einige Fragen und Zweifel diese Position betreffend sind jedoch legitim: Wo beginnt die Beliebigkeit? Wo ist die Grenze zu ziehen, was nun doch nicht mehr "Anarchismus" ist? Und wer zieht sie mit welcher Berechtigung? Ist diese Vielfalt in Theorie und Praxis tatsächlich nicht viel häufiger hinder- als förderlich für den Anarchismus (bzw. für die Arbeit anarchistischer Gruppen und Organisationen)?

Vor allem letztere Frage wird seit langem in der anarchistischen Bewegung diskutiert und ist der entscheidende Unterschied zwischen dem sog. "synthetischen" und den "plattformistischen" Organisationsmodellen. Wie dem auch sei, alle hier in den Raum gestellten Fragen sind legitim und wichtig, weshalb ich mir den "Spass" erlaubt habe, bewusst zwei anarchistische Publikationen aufeinander folgend zu lesen, welche Strömungen repräsentieren, die weit voneinander auseinander liegen, um anschliessend diese Fragen erneut durchzudenken - ohne jedoch (und das ist Absicht) eine Reihe von Antworten zu präsentieren, sondern um zur Reflexion und zur Diskussion anzuregen.

Die Bücher, um die es sich handelt, sind Black Flame. The Revolutionary Class Politics of Anarchism and Syndicalism von Michael Schmidt und Lucien van der Walt und Message in a Bottle vom CrimethInc. Ex-Workers Collective.

Anarchismus im Korsett

Das Buch Black Flame zeichnet sich vor allem durch eines aus: durch ein sehr rigides Definieren, was Anarchismus sei und was nicht.

Das mag bei Autoren, die sich im plattformistischen Anarchokommunismus verorten, nicht unbedingt überraschen, dennoch kann ihre Suche nach dem Anarchismus manchmal seltsam anmuten.

Kurz zusammengefasst wird in dem Buch die Ansicht vertreten, dass Anarchismus ausschliesslich eine Bewegung und Idee sei, die sich im späten 19. Jahrhundert in der (sozialistischen) Arbeiterbewegung entwickelt hat und vor allem durch Bakunin und Kropotkin in seine prägende und quasi unabänderliche Form gegossen wurde.

Alles andere, was im Laufe der Geschichte mit dem Anarchismus-Label ausgestattet wurde, kann und darf per definitionem kein Anarchismus sein. Generell herrsche laut den Autoren auch ein Missverständnis in der anarchistischen Szene vor, denn "Klassenkampf-Anarchismus, manchmal auch revolutionärer oder kommunistischer Anarchismus genannt" sei "keine Form des Anarchismus" sondern "der einzige Anarchismus". (Schmidt/van der Walt 2009, S. 19; Hervorhebung im Original)

Es wird deshalb viel Aufwand betrieben, einerseits vielen geschätzten Persönlichkeiten des Anarchismus ihr Anarchist-Sein schlicht abzusprechen - wie Proudhon, Godwin, Tolstoi, Tucker, Stirner - gleichzeitig aber autoritäre Sozialisten wie Daniel De Leon oder den irisch-republikanischen Unabhängigkeitskämpfer und Syndikalisten James Connolly als Teil der anarchistischen Bewegung zu erklären. Das Ergebnis dieses Ex- und Inkludierens von Persönlichkeiten wird paradoxerweise dann als die "breite anarchistische Tradition" (broad anarchist tradition) bezeichnet.

Dieses Ex- und Inkludieren geschieht aber keineswegs willkürlich. Es folgt einerseits dem Anarchismus, den sie durch jene Personen definiert sehen, die sie als "echte" AnarchistInnen betrachten und andererseits eben jenen AnarchistInnen, die wiederum den (ihren) Anarchismus definieren. Wie man sieht, wird so eine in sich logische, geschlossene sowie widerspruchsfreie definitorische Logik geschaffen.

Das Muster, wie Ex- und Inkludiert wird, ist dabei eigentlich ein recht simples und hier wird auch deutlich, was mit "broad" gemeint ist bzw. in welche Richtung man bereit ist in die Breite zu gehen.

Am Beispiel von De Leon oder Connolly heisst es z.B. sinngemäss: der Syndikalismus (nicht nur der Anarchosyndikalismus) war und ist immer Teil der "breiten anarchistischen Tradition"; De Leon und Connolly waren Syndikalisten (beide waren u.a. bei der IWW aktiv); daher folgt: De Leon und Connolly sind Teil der anarchistischen Bewegung. (1)

Im Gegenzug funktioniert das Exkludieren der oben genannten Anarchisten ähnlich: Die Frage, ob sie diesen in sich logischen (oder logisch gemachten), zuvor definierten und abgesteckten "einzigen Anarchismus" vertreten, wird - richtigerweise - mit Nein beantwortet, daher die Schlussfolgerung: Diese Persönlichkeiten könnten keine Anarchisten sein und sie als Teil dieser Tradition zu betrachtet sei ein Fehler.

All jene (2), die jemals behauptet haben oder behaupten, diese Menschen seien Anarchisten, hätten folglich ein falsches Anarchismusverständnis, das einer Korrektur bedürfe. (3)

Anarchismus im Molli

Ganz anders bei Message in a Bottle. Das "Ex-Workers" im Namen des Kollektivs lässt vermuten, dass diese AnarchistInnen kilometerweit vom Black Flame'schen "einzigen Anarchismus" entfernt sind.

Wer ein klein wenig Einblick in die inner-anarchistischen Debatten hat, kennt die Auseinandersetzungen, die sich viele AnarchistInnen - u.a. aus dem anarchokommunistischen Spektrum - mit CrimethInc. geliefert haben. "Verwöhnte Mittelklassen-AmerikanerInnen" war da noch eine der netteren Bezeichnungen für diese AktivistInnen. (4)

Schon die Bebilderung des Buches lässt erahnen, wohin die Reise geht: vermummte StrassenkämpferInnen; umgeworfene oder, besser noch, in Brand gesteckte Autos; Rauchschwaden; Riot-Cops. Die "Bottle", in der die "Message" vom CrimethInc. Ex-Workers Collective transportiert wird, ist auf dem Buchumschlag als Molotowcocktail illustriert.

Ich habe das Buch nicht bis zum Ende gelesen. Ich ertrage es nur schwer, wenn mir jemand vermitteln will, dass ich, als jemand der einer Lohnarbeit nachgeht, in einer Mietwohnung wohnt und sich sein Essen im Supermarkt kauft und nicht klaut, sein Leben im Grunde genommen falsch lebt.

Wie verhält sich der CrimethInc.-Ansatz nun mit jenem von Black Flame?

Man ahnt es bereits. CrimethInc. verwehrt sich bereits gegen den schlichten Gebrauch des Wortes "Anarchismus" (geschweige denn, diesen noch rigide zu definieren), denn "[z]u sagen, [] AnarchistInnen [hätten] sich dem Anarchismus [verschrieben]" mache "ungefähr so viel Sinn, wie zu sagen, dass sich PianistInnen dem Pianismus verschreiben. Es gibt keinen Anarchismus. Aber es gibt Anarchie, oder vielmehr: viele Anarchien." (CrimethInc. 2012, S. 71).

Für viele AnarchistInnen klingt so etwas wie das One-Way-Ticket in die Beliebigkeit - also genau das, wogegen sich der Black-Flame-Ansatz mit aller Vehemenz stemmt. Die Aufforderung, man solle "den Spanischen Bürgerkrieg und all die alten Männer mit ihren langen Bärten und ermüdenden Theorietraktaten" (Curious George Brigade et. al. 2006, keine Seitenangabe) am besten gleich vergessen wenn man sich für Anarchismus interessiere (ohne die bei Black Flame wohlgemerkt überhaupt gar kein Anarchismus möglich ist!), ist hier nur noch die provokante Draufgabe.

Quo vadis, Anarchismus?

Nun werden sich manche fragen, wozu dieses Vorhaben, sich mit zwei konträren Vorstellungen des Anarchismus auseinander zu setzen, um dann das Offensichtliche schlusszufolgern, gut sein soll.

Es ist deshalb notwendig, da hier die anfangs erwähnte und für mein Empfinden essentielle Frage exemplarisch abgehandelt werden kann, worüber wir reden, wenn wir vom Anarchismus und der anarchistischen Bewegung sprechen.

Diese Frage kann nämlich, wie es scheint, tatsächlich nicht eindeutig beantwortet werden, und Murray Bookchins (1995) Polemik über "Lifestyle Anarchism" versus "Social Anarchism" war hier lediglich ein Höhepunkt einer andauernden Debatte. (5)

Dass der Anarchismus eine heterogene Strömung ist, ist nicht zu übersehen. Genau gegen diese Vorstellung gibt es aber verstärkten Widerspruch und zwar nicht nur in der Form, dass diese Heterogenität als Hemmschuh gesehen, sondern ihr gar der anarchistische Charakter abgesprochen wird. Und was, wenn die Heterogenität aber so weit geht, dass man z.B. anarchistische Geschichte teilweise explizit als irrelevant erklärt?

Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Ab wann wird Heterogenität bzw. Rigidität schädlich für die Bewegung?

Dieser Text will bewusst nicht auf die gestellten Fragen vorgefertigte Antworten bieten, sondern lediglich einige Themen aufwerfen, um einen notwendigen Reflexionsprozess in Gang zu bringen, der mir notwendig erscheint.

Das Bemerkenswerte an diesen zwei anarchistischen Ansätzen ist, dass sich beide in einflussreichen Bahnen des Anarchismus verorten. Beruft sich der Black-Flame-Ansatz direkt auf die Wurzeln des Anarchismus (und ist zudem international verbreitet und gut vernetzt), was vor allem durch die zentrale Stellung von Bakunin und Kropotkin deutlich wird, und womit natürlich thematisch eine Position eingenommen wird, an der keinE AnarchistIn vorbei kann, so heisst es bei CrimethInc., dass das Kollektiv wohl "das weltweit einflussreichste anarchistische Projekt der letzten fünfzehn Jahre" (CrimethInc. 2012, S. 6) sei. Die Rollenverteilung ist ebenfalls klar: Die einen verstehen sich als die "Gralshüter" eines "richtigen" (also einzig richtigen) Anarchismus, die anderen als die Quasi-Avantgarde eines "entstaubten" Praxis-Anarchismus der für das 21. Jahrhundert fit gemacht wurde, sich der scheinbar "ermüdenden" Geschichte des Anarchismus entledigt hat und das als Fortschritt feiert. Wenn diese beiden Ansätze nun tatsächlich so einflussreich sind, wie behauptet wird oder wie es scheinen mag, dann hat der gegenwärtige Anarchismus tatsächlich ein Problem!

Aber wollen wir es bei dieser Einschätzung belassen?

Wohl kaum. Die Frage, wie man mit derartigen Problemen und Widersprüchen umgeht, egal, wie das eigene Anarchismusverständnis konkret aussieht, ist eine, die es sich verstärkt zu stellen gilt.

Sebastian Kalicha / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 376, Februar 2013, www.graswurzel.net