Eine in der Zeitung aufgeführte Bücherliste zur Russischen Revolution zeigt, welch Geistes Kind die Veranstalter mehrheitlich sind: So gilt ihnen Leo Trotzkis verstaubte Geschichte der Russischen Revolution noch immer «als ein Meisterwerk marxistischer Geschichtsschreibung». Auch andere Klassiker über die Russische Revolution werden angeführt. Was fehlt, sind alle Klassiker der anarchistischen Kritik an der Russischen Revolution wie Emma Goldmans My Disillusionment in Russia (1923) und Grigori Maximoffs The Guillotine at Work (1940). Als einziger vermeintlich anarchistischer Zeitzeuge wird Victor Serge mit seinem Buch Erinnerungen eines Revolutionärs (1951) aufgelistet. Zu der Zeit, als er das Buch schrieb, war er aber längst kein Anarchist mehr, sondern stand den Trotzkisten nahe.
Nur eine einzige neuere Arbeit der Anarchismus-nahen Ecke, die des Historikers Ewgeniy Kasakow, wird zitiert. Kasakow wendet sich, anhand der neusten Forschung, verdienstvoll gegen bis heute herumschwirrende anarchistische Mythen über die Russische Revolution, streitet aber das Vorhandensein einer starken linken parteiunabhängigen Basisbewegung nicht ab. Doch die Alt-Trotzkisten und ehemaligen und jetzigen Gewerkschaftsfunktionäre, die an der Literaturliste beteiligt waren, interpretieren Kasakows Aufsatz Bewegung versus Avantgarde? dahingehend um, dass es keine starken linken Basisbewegungen gegeben hätte. Kasakow schreibt dies aber nirgendwo, sondern stellt nur fest, dass unter den wirtschaftlichen Sachzwängen und den menschlichen Schwächen der Beteiligten es sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, dass die Basisbewegungen eine wirkliche Alternative zu den Bolschewiki geworden wären. Die Interpretation des Aufsatzes durch das Denknetz dient natürlich der Bestätigung, dass die bolschewistischen Führer wie Trotzki alternativlos waren, weshalb eine rätekommunistische oder anarchistische Sicht auf die Russische Revolution für eine solche Veranstaltung, die sich scheinbar ideologisch offen gibt (so zum russischen Nationalbolschewismus eines Boris Kagarlitzky), für die Veranstalter*innen nicht relevant erscheint.
Diesen verengten Blick ehemaliger Marxisten-Leninisten, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft gut etabliert haben, würden natürlich Aussagen des marxistischen Philosophen Karl Korsch nur stören. Dieser schreibt, dass der Wiederaufbau einer revolutionären Theorie und Praxis nur durch den Bruch mit dem monopolistischen Anspruch des Marxismus auf die theoretische und praktische Führung erfolgen kann. Dazu kommt wohl auch, dass die Veranstalter*innen ihren Anspruch, aus der Geschichte revolutionäre Schlüsse zu ziehen, längst aufgegeben haben. Genauso wie es sie in ihrer Weltsicht stören würde, zu verstehen, dass die Wirkung der Russischen Revolution auf die Schweizer Arbeiter*innenbewegung und das Schweizer Bürgertum, ohne Berücksichtigung des Anarchismus in- und ausserhalb der Schweizer Sozialdemokratie, nicht verstanden werden kann und unvollständig ist.
Anarchist*innen in Partei und Gewerkschaft
Vor und während des Ersten Weltkrieges galten die Anarchist*innen als vernachlässigbare Minderheit in der Schweizer Arbeiter*innenbewegung. Auf den ersten Blick scheint dies auch richtig, gab es doch nur in ein paar grösseren Schweizer Städten organisierte Gruppen. Zu den grössten gehörten bis zum Ersten Weltkrieg der anarchistische Sozialistische Bund (SB), die Gruppen um die Zeitung Le Réveil und die überall verbreiteten italienischsprachigen Gruppen, die sich um die Il Risveglio gruppierten. Die Anarchist*innen des SB waren mehrheitlich Mitglieder in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS). Es ist sowohl für Sozialdemokrat*innen und Anarchist*innen bis heute schwer verständlich, dass sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in der Deutschschweiz der revolutionäre Flügel der SPS und der Gewerkschaften nicht nur aus Marxist*innen, sondern auch aus Anarchist*innen zusammensetzte. Die berühmtesten Beispiele sozialdemokratischer Anarchist*innen sind natürlich Fritz Brupbacher und die Mitgründerin des SB, Margarete Faas Hardegger. Ebenso standen in dieser Zeit grosse Teile der Sozialistischen Jugendorganisation (SJO) einem Anarchismus kropotkinscher Prägung nahe. Die französisch- und italienischsprachigen Gruppen standen jedoch ausserhalb der Sozialdemokratie und wurden von einem Kreis um Luigi Bertoni gefördert.Lenin: «Nur mit der Jugend lohnt es sich zu arbeiten»
Während des Ersten Weltkriegs waren es denn auch die Anarchist*innen, mit und ohne sozialdemokratischem Mantel, nebst einigen revolutionären Marxist*innen, die den steigenden Unmut der städtischen Arbeiter*innenschaft, der sich in Teuerungs- und Hungerdemonstrationen manifestierte, aktiv unterstützten. Sie erhofften sich eine Neue Gesellschaft durch Erschaffung einer revolutionären Stimmung in der Bevölkerung. Der damals in Zürich arbeitende Anarchist Enrico Arrigoni erinnert sich später: «Wir italienischen Anarchisten hatten die Idee eine Revolution zu machen.» Dass es dabei teilweise zu blutigen Zusammenstössen von unbewaffneten Demonstrant*innen mit säbelschwingenden Polizisten (Kosaken, so deren Übername in der Arbeiterschaft) kam, hatten nicht zuletzt auch Sozialdemokraten wie der Stadtzürcher Polizeivorstand Jakob Vogelsanger mit zu verantworten.Die Anarchist*innen und die SJO waren vehemente Gegner*innen der Militärmaschinerie und ihres zerstörerischen Produktes, dem Krieg. So führte eine Gruppe um Luigi Bertoni in der Deutsch- und der Westschweiz antimilitaristische Kampagnen durch und half internierten Deserteuren, sich den für sie errichteten Arbeitslagern zu entziehen. Überall wo während des Ersten Weltkriegs Widerstand gegen die mit unbeschränkten Vollmachten ausgestattete bürgerliche Regierung vorhanden war, da waren Anarchist*innen anzutreffen. Dies erkannte auch Lenin, der seit dem Herbst 1914 in der Schweiz wohnte. «Nur mit der Jugend lohnt es sich zu arbeiten», verkündete er über die SJO anfangs 1917, erkennend, dass sie das revolutionäre Element war mit dem er seine Revolution führen musste.
Als überzeugter orthodoxer Marxist störte er sich zwar am starken Einfluss des Anarchismus auf die SJO, doch er hoffte, sie einfacher als die erwachsenen Anarchist*innen, vom Anarchismus weg, hin zu seinem Marxismus bringen zu können. Dabei half ihm, dass wichtige Symbolfiguren des Anarchismus wie Kropotkin sich öffentlich für eine Kriegspartei, die Entente, ausgesprochen und damit dem Ansehen des Anarchismus massiv geschadet hatten. Nicht zuletzt mit diesem anarchistischen Zielpublikum im Auge verfasste er später seine Revolutionsschrift Staat und Revolution.
Staat und Revolution verfehlte seine Wirkung nicht und viele Anarchist*innen wie Brupbacher glaubten nach der Lektüre der Schrift, dass der Bolschewismus jetzt seine schon lange propagierte weltweite Synthese von Bakunin mit Marx sei, die da und dort schon im Oktober 1917, durch neu gebildete Gruppen wie die der Zeitungsgruppe Forderung in Zürich, entstanden waren. Die revolutionäre Zeitung Die Forderung wurde von den ehemaligen SB-Mitgliedern Cilla Itschner Stamm und Hans Itschner herausgegeben und vom schon stark von Lenins Ideen beeinflussten anarchistischen Flügel der SJO mitgetragen. Auch einige religiöse Sozialist*innen um den Theologen Leonhard Ragaz, die sich zu dieser Zeit zu einem tolstoianischen Anarchismus bekannten, halfen mit, die Zeitung herauszugegeben. Als im November 1917 in der Schweiz die russische Oktoberrevolution Schlagzeilen machte und grosse Teile der städtischen Bevölkerung sich ebenfalls eine Oktoberrevolution in der Schweiz erhofften und auf die Strasse gingen − «In diesem Glauben befand man sich − mit Schwankungen − bis etwa Mitte 1919», erinnert sich Brupbacher − da waren die Forderungs-Leute wichtige Protagonist*innen des Geschehens.
Auch das Bürgertum, so der spätere Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung Willy Bretscher, sah im entstehenden Bolschewismus nichts anderes als die Vollstreckung der Ideen Bakunins. Wie wichtig in diesen Kreisen der Anarchismus geblieben war, zeigt sich auch darin, dass der Altanarchist, Jungburschenpapa und enge Freund Brupbachers Edy Meyer Ende 1918 mit Brupbachers Hilfe Kropotkins Der Wohlstand für Alle wieder herausgab. Diese zeitweilige Einheit ist auch in einem Polizeibericht über eine Veranstaltung anfangs 1919 dokumentiert, an der Erich Marks «als Angehöriger der alten, anarchistisch gerichteten Internationale» für eine Einigung zwischen Anarchisten, Kommunisten und wirklichen Sozialisten, d.h. Sozialrevolutionären geworben habe und an der am Schluss verkündet worden sei: «So mögen uns Bakunin und Krapotkin Führer sein, wenn wir in die kommende Revolution hineinschreiten.»
Bombenprozess und Masseninhaftierung 1918
Die Schweizer Regierung erkannte in den Anarchist*innen schon länger eine Gefahr für die herrschenden Verhältnisse. Als im Frühling 1918 ein Bombenlager in Zürich gefunden wurde, nahm die Schweizer Regierung dies zum Anlass, flächendeckend über hundert Anarchist*innen bis Ende 1918 zu verhaften.Ein Grossteil der Verhafteten waren Mitglieder italienischsprachiger Gruppen in Zürich und anderen Städten. Die Mehrheit der Inhaftierten wurde unter fragwürdigen Anklagen ausgeschafft und Dutzenden der Prozess gemacht. Zwei Personen starben in der Haft. Die grössten Anarchistengruppen in der Schweiz wurden durch diese Aktionen geschwächt und ihrer wichtigsten Personen beraubt oder sogar zerschlagen. So blieb der im Mai 1918 verhaftete Bertoni bis zu seinem Freispruch im Sommer 1919 in Haft. Die Anarchist*innen propagierten schon lange den revolutionären Generalstreik, der zur Revolution in der Schweiz führen sollte, doch als im November 1918 in der ganzen Schweiz ein Generalstreik ausgerufen wird, sind sie an ihm kaum beteiligt.
Revolutionäre «Altkommunisten» für eine Rätedemokratie
Der enttäuschende Verlauf des Generalstreiks liess darauf einen Teil der Forderungs-Leute, wie Leoni Kascher und Jakob Herzog, sich vermehrt auf den Aufbau einer ersten revolutionären kommunistischen Partei in der Schweiz konzentrieren. Mit der Ausweisung Kaschers Ende 1919 und der mehrmaligen Inhaftierung vieler Aktivst*innen wie Herzog, die immer wieder versuchten, durch direkte Aktion ein revolutionäres Feuer zu entfachen, erlahmte aber der Aktionismus zusehends und ging immer mehr in klassische Parteiarbeit über.Obwohl die Kommunistische Partei (KP oder Altkommunisten, wie sie später genannt wurden) ein anarchistisch-rätekommunistisches Programm vertrat, führte die zunehmende Strukturierung als Partei dazu, dass sich die reinen Anarchist*innen wieder in eigenen Gruppen zusammenschlossen. Die Gruppen der Altkommunist*innen und der Anarchist*innen blieben aber freundschaftlich verbunden, waren doch die Ziele der Altkommunisten denen der Anarchist*innen nahe. Eine von den Altkommunisten herausgegebene Schrift über den kommenden Kommunismus fordert denn auch als ersten Punkt: «Neubildung der Regierung auf der Grundlage des Systems der Arbeiter- und Bauernräte und Übergabe der ganzen Regierungsgewalt an diese.» Von den Anarchist*innen in der SPS blieben nur ein paar Theologen übrig, die 1919 die anarchische Zeitung Freie sozialistische Blätter herausgaben, die als eine der ersten linken Zeitungen die Bolschewiki und ihre Diktatur des Proletariats kritisierten: «Die Anarchisten aber stehen und lachen auch über Lenin und Trotzky.»
Libertäre distanzieren sich von der KPS
Als sich 1921 ein Teil der SPS abspaltete und sich mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) zusammenschloss, wendeten sich die ersten ehemaligen Anarchist*innen von der KPS ab und wieder dem Anarchismus zu, gab die KPS doch alle rätedemokratischen Grundsätze auf. Nebst den bekannten umtriebigen Westschweizer Anarchist*innen Bertoni und Lucien Tronchet tauchten in der Deutschschweiz nun Namen aktiver Anarchist*innen wie Bourquin, Riethmann und Vogt auf. Im Juli 1925 fand in Zürich sogar ein Anarchistenkongress statt, der von den Risveglio-Gruppen organisiert wurde. Auch als 1926 die Komintern die KPS zu stalinisieren begann, traten weitere ehemalige Anarchist*innen aus der Partei aus und gründeten in der ganzen Schweiz anarchistische Gruppen und Grüppchen.In der Westschweiz, wo der Anarchismus in Genf wegen der Gruppe um Bertoni stets gut verankert war, nahmen innerhalb der Gewerkschaften anarchosyndikalistische Ideen zu. Kein Wunder also, dass die KPS, auch wenn sie stets behauptete, dass der Anarchismus keine Rolle mehr spiele, ihn bei jedem Anlass angriff. Ihre Angriffe bestätigten nur, dass die anarchistische Kritik sie nicht gleichgültig liess, waren sie doch die einzigen Kritiker*innen von ganz links, denen sie nicht ernsthaft den Vorwurf machen konnten, bürgerlich zu sein, wie sie es den Sozialdemokraten vorwarfen, auch wenn sie den Anarchismus stets als kleinbürgerlich beschimpften.
Diese Verflechtungen und Einflüsse innerhalb der radikalen Arbeiter*innenbewegung sind aber kein Thema in den aktuellen Debatten über die Vorgänge in der Schweiz vor und nach der Oktoberrevolution, und dies zeigt nur, wie sehr die Arbeiter*innengeschichtsschreibung in der Schweiz noch immer, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, auf einer zurechtgebogenen sozialdemokratischen, bürgerlichen oder orthodoxmarxistischen, auf einer ideologisierten Geschichtsschreibung basiert.