11. Juni 2021: Ein Fotograf und zehn Journalist:innen von «Bund» und «Berner Zeitung» (BZ) versammeln sich gegen sieben Uhr bei der hinteren Seite der Heiliggeistkirche visàvis dem Bahnhof Bern. Dabei beobachten sie zufällig, wie zwei Polizist:innen einen dunkelhäutigen Mann anhalten. Sie bringen ihn zu ihrem Fahrzeug. Als der Mann nicht freiwillig einsteigen will, schlagen sie ihn brutal zusammen und werfen ihn mit einer Platzwunde über dem Auge in den Kastenwagen.
Am Tag darauf dokumentieren sie die Geschehnisse unter dem Titel: «Das Knie auf dem Hals: Verstörende Aktion der Berner Polizei» in den Onlineund Printausgaben von «Bund» und «BZ». In dem Artikel kritisieren Experten das AufdemHalsKnien und der Name George Floyd fällt. Der Diskussionsbedarf ist gross. Die Polizei argumentiert wie immer rechtfertigend und verharmlosend. In den folgenden Monaten ist der Fall immer wieder Thema in verschiedenen Medien.
Der misshandelte Mann ist der Marokkaner A. E. und kommt in Haft. Er ist ein DublinFall und wird bald nach Deutschland ausgeschafft. derbund.ch vom 18. Juni 2023 beschreibt seinen Zustand ein paar Tage nach dem Übergriff: «Von der Platzwunde über dem Auge ist eine feine rosarote Narbe übrig geblieben. An den Ellbogen, Knien und Händen hat er ebenfalls frische Narben und verheilende Schürfungen. Allerdings ist schwer zu beurteilen, was frisch und was älter ist. Schon den Polizisten, die ihn am Freitag vor einer Woche angehalten hatten, waren seine verletzten Arme aufgefallen. [...] Er könne den Vorfall nicht vergessen, schlafe nicht gut und wache manchmal schreiend auf. ‹Ich habe grosse Angst vor der Polizei.›»
Eine Verurteilung, ein Freispruch
Der Übergriff wird ein Fall für die Justiz. Am 5. September 2023 erfolgt das Urteil: Der Polizist, der den Mann «achtlos wie eine Ware» (Richterin Gysi) in den Wagen geworfen hat, wird verurteilt. Dass der mit Handschellen gefesselte Betroffene beim Einsteigen «gestolpert» sei, glaubt das Gericht nicht. Das Urteil: Eine bedingte Geldstrafe von 110 Tagessätzen à 90 Franken – bei einer Probezeit von zwei Jahren. Hinzu kommen eine Busse von 600 Franken sowie ein Teil der Verfahrenskosten von über 10'000 Franken, die er bezahlen muss. Der Polizist, der A. E. mit dem Knie am Hals am Boden fixiert hat, wird freigesprochen. Zwar stuft die Richterin das Vorgehen als zu hart ein, aber es kommt dennoch zum Freispruch, weil – so die Richterin – nicht erwiesen sei, dass der Polizist dabei Druck ausgeübt habe.Rechtsbürgerliche Sicherheitspolitiker:innen toben
Erstaunlich ist die Reaktion der konservativen Politiker:innenGilde. Ihr geht es nicht darum, aus der Verurteilung Lehren zu ziehen, ganz im Gegenteil: Die Berichterstattung zum Freispruch motiviert sie zu einer Hetzkampagne gegen die Medien. Den Anfang macht der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) am 6. September 2023. Er verschickt eine ausführliche Medienmitteilung samt Videostatement. Darin kritisiert er die Medienberichterstattung: Sie habe «eine öffentliche Vorverurteilung des Mitarbeitenden der Kantonspolizei in Kauf» genommen. In einem Leitartikel weist die Chefredaktion von «Bund» und «BZ» die abstrusen Vorwürfe von Sicherheitsdirektor Philippe Müller entschieden zurück.Im Oktober doppeln vier rechtsbürgerliche Grossrät:innen nach. Andreas Hegg (FDP), Katharina Baumann (EDU), Andrea GschwendPieren (SVP) und André Roggli (Die Mitte) – alle Mitglieder der Sicherheitskommission des Grossen Rates – beklagen die «Vorverurteilung» des freigesprochenen Polizisten und reichen eine Motion ein. Ihr dubioser Titel: «Machtmissbrauch durch MedienKonzern: Kantonsangestellte schützen». Zur Erinnerung: Der Polizist wurde freigesprochen, weil nicht erwiesen ist, dass er beim Knien auf den Hals des Opfers Druck ausgeübt hat. Die Chefredaktion von «Bund» und «BZ» weisen die Vorwürfe erneut zurück und verweisen auf ihre früheren Stellungnahmen. Anders als behauptet, hätten sie kein Bildmaterial zurückgehalten. «Die Redaktion habe zwecks Auswertung sämtliches Bildmaterial dem kantonalen Polizeidirektor Philippe Müller gezeigt und mit der Staatsanwaltschaft kooperiert.»