Was ist Eugenik?
Biologismus, auch biologischer Determismus, bildet die (pseudo-)wissenschaftliche Grundlage der Eugenik. Dieser führt Intelligenz und Fähigkeiten auf Kategorien wie Race, Class, Gender und andere Unterdrückungskategorien zurück, mit dem Zweck, eben jene Unterdrückung zu rechtfertigen.Biologismus kam Ende des 19. Jahrhunderts auf und gilt heute als weitestgehend widerlegt. Obwohl er immer umstritten war, hatte er erheblichen und zum Teil dominierenden gesellschaftlichen Einfluss, weil er gesellschaftliche Unterdrückungsformen legitimierte. Dies trifft besonders auf die USA und Deutschland, aber auch auf die Schweiz zu.
Rassismus, Patriarchat und Klasse
Weisse wurden als fähiger und intelligenter als rassifizierte Menschen (BIPOC) konstruiert, um Kolonialismus und Sklaverei zu rechtfertigen.Männer wurden als fähiger und intelligenter als FINTA* konstruiert, um die patriarchale Herrschaft zu rechtfertigen. Queere / LGBTQ+ Menschen wurden pathologisiert und als "erbkrank" und gefährlich dargestellt, um das heteronormative Patriachat (die "Kernfamilie") zu verteidigen.
Die herrschende Klasse wurde als fähiger als das Proletariat bzw. die arbeitende Schicht dargestellt, um deren wirtschaftliche Ausbeutung und eingeschränkten Zugang zu Bildung zu rechtfertigen.
Entstehung der Eugenik
1859 begründete Charles Darwin die Evolutionstheorie, welches sich auf Tierarten bezog. Soweit es menschliche Gesellschaften betraf, war das Denken von Charles Darwin stark rassistisch geprägt, insbesondere in Bezug auf Schwarze und Indigene Menschen: "In einer künftigen Zeit (...) werden die zivilisierten Rassen (...) die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben."Die Eugenik wurde durch Darwins Halb-Cousin Francis Galton begründet, welcher den Begriff 1883 einführte. Er sprach sich für Völkermord aus: "Es gibt eine Stimmung, grösstenteils ziemlich unvernünfigerweise, gegen die schrittweise Vernichtung von minderwertigen Rassen."
Diese Vernichtung sollte gemäss führenden Eugenikern mittels Sterilisation und Verhinderung der sexuellen Reproduktion erfolgen.
Eugenik in der Schweiz
In der Schweiz gilt August Forel (1848-1938) als Pionier der Eugenik. Er war Direktor der psychiatrischen Klinik Burghölzli. Er forderte die Verhinderung der Fortpflanzung (Sterilisierung) von psychisch Kranken und vertrat ebenfalls stark rassistische Ansichten:"[Es] waren da eine Mensche N_ und M_ aus Haiti, deren kindisches Geschwätz (auf Französisch) zum Kranklachen war", schrieb er über Schwarze haitianische Menschen (auf Haiti wird Kreolisch gesprochen), und über jüdische Menschen schrieb er: "Ihr merkantiles Wesen durchbricht auch ihre Geschlechtsverhältnisse, und wir finden sie häufig beim [Frauen]handel und bei der Prostitution bestätigt."
Euthanasie (Mord)
Der zeitweise an der Uni Basel lehrende Strafrechts-Professor Karl Binding veröffentlichte 1920 mit Alfred Boche die "Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens". Diese forderte und legitimierte die offene Ermordung ("Euthanasie") von so genannt "Minderwertigen", und ging damit einen bedeutenden Schritt weiter als die Sterilisation. Sie lieferte die ideologische Grundlage für millionenfache Morde, im Speziellen für die Hunderttausende NS-Krankenmorde an körperlich und geistig Kranken und Behinderten.Von der Schweiz zu den Nazis
Ein Umsetzer dieser NS-Krankenmorde war der schweizerische Psychiater Ernst Rüdin, welcher stark von August Forel beeinflusst war und wie er zeitweise im Burghölzli arbeitete. Wie Karl Binding lehrte er zeitweise an der Uni Basel. Ernst Rüdin wanderte nach Deutschland aus, nahm die Deutsche Staatsbürgerschaft an und wurde Vorsitzender des internationalen Eugenik-Verbands.Nach der Machtergreifung der Nazis war er Vorsitzender des deutschen Psychiater-Verbands und arbeitete an Gesetzen und Programmen mit zur Ermordung Hunderttausender körperlich und geistig Beeinträchtigter und Kranker. Er schrieb dazu, es sei "der unvergängliche geschichtliche Verdienst Adolf Hitlers und seiner Gefolgschaft, über die rein wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus den ersten wegweisenden und entscheidenden Schritt zur genialen rassenhygienischen Tat in und am Deutschen Volk gewagt zu haben". Er wurde, wie die allermeisten seiner eugenischen Kameraden, für seine Morde kaum zur Rechenschaft gezogen.
Eugenik im Burghölzli
Wie zuvor beschrieben war die Psychiatrische Uniklinik Zürich ("Burghölzli") eng verbunden mit der Geschichte der Eugenik. Dazu trug auch massgeblich ihr Direktor Eugen Bleuler bei, der beim Pionier der Eugenik in der Schweiz, August Forel assistierte und 1898 dessen Nachfolger wurde. Auch sein Nachfolger von 1927 bis 1941, Hans Wolfgang Maier, war Eugeniker.Allen dieser drei Direktoren des Burghölzli war gemeinsam, dass sie nicht nur Sterilisationen (Verhinderung der Reproduktion), sondern auch die Tötung bzw. Ermordung von psychisch Kranken und Beeinträchtigten gegebenenfalls befürworteten. Die Euthanasie (Mord) ist aber nur die brutale Spitze der Eugenik:
Zwar wurden in der Schweiz – im Gegensatz etwa zur USA, welches Bezugspunkt der Bewegung war – fast keine Zwangssterilisiations-Gesetze eingeführt. Trotzdem wurden eugenische Massnahmen wie Kastration, Sterilisation und das Eheverbot in allen Teilen des Landes von Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er praktiziert.
Zu den hauptsächlichen Zielgruppen eugenischer Massnahmen gehörten all diejenigen, welche aufgrund von pseudowissenschaftlichen Annahmen als (erblich) "minderwertig" dargestellt wurden:
- Rassifizierte Personen (BIPOC)
- Queere Personen
- disabled people
- geistig und körperlich Kranke
- neurodivergente Menschen
"Rassenhygiene" an der Uni Zürich
Eugenik war in der Schweiz nicht nur in der Psychiatrie relevant, sondern auch in anderen Bereichen, allen voran in der Anthropologie ("Völkerkunde"). 1921 wurde die Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene an der Uni Zürich begründet.Ihr Gründer und Präsident bis 1968, Otto Schlaginhaufen, forderte etwa das Verbot von "Mischehen", wenn der "Kreuzung ungünstige Erbmerkmale entspringen" würden, und führte grossangelegte "rassentypologische" Studien in der Schweiz durch. Die Julius-Klaus-Stiftung existiert immer noch an der Uni Zürich.
Patriarchale Gewalt
Eugenik ist auch eine Form institutioneller patriarchaler Gewalt gegenüber Frauen*, Trans, Inter und Queere Personen. So galt Homosexualität als gefählrliche Krankheit, wobei sich (männliche) Betroffene zum Teil zwischen Internierung und Kastrationen entscheiden mussten. Bei Frauen* genügte ein der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechendes Sexualleben für die Sterilisation, welche häufig gegen deren Willen durchgesetzt wurde.Falsche Wissenschaftlichkeit
Die gesellschaftliche Abwertung von "Mischehen" und ihren Kindern versteckte sich hinter dem Schein von Wissenschaftlichkeit und Moderne, obwohl klarerweise keine wissenschaftliche Grundlage dafür bestand. Ihr Zweck war weisse Vorherrschaft. Ebenfalls trat Queerfeindlichkeit nicht – wie meist heute – unter dem Deckmantel der Religion oder Kultur auf, sondern unter dem Deckmantel einer (falschen) Wissenschaftlichkeit.Rassist*innen berufen sich heute noch häufig auf längst widerlegte oder pseudowissenschaftliche Modelle zur Rechtfertigung ihrer angeblichen Überlegenheit. Ähnlich kann Diskriminierung auch gegenüber FINT*, Queeren Personen, neurodivergenten Menschen usw. unter einer falschen Wissenschaftlichkeit auftreten. Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass es den Vertreter*innen und Täter*innen um gesellschaftliche Machtverhältnisse geht, nicht um Wissenschaft.
"Race and Intelligence"
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Eugenik als pseudo-wissenschaftliche Grundlage der NS-Verbrechen stark an Bedeutung und wurde geächtet. Biologistisch-rassistische Diskurse waren damit aber längst nicht ausgestorben. Audrey Shuey versuchte in den 60ern, und Murray und Herrnstein versuchten in den 90ern die rassistische Annahme wiederzubeleben, dass Schwarze Menschen weniger intelligent als weisse Menschen seien, jeweils finanziert durch den eugenischen Pioneer Fund. Diese Aussagen wurden schnell widerlegt, hatten jedoch eine starke gesellschaftliche Wirkung entfacht.Unzähliges Leid
Rassismus – die biologische Minderwertigkeit von BIPOC und anderen rassifizierten Menschen – galt einst als wissenschaftliche Objektivität. Das gleiche gilt etwa für Queerfeindlichkeit und Diskriminierung von neurodivergenten Menschen durch deren Pathologisierung. Diese Ideologie forderte Millionen Menschenleben als Opfer und unfassbares Leid, welches aber häufig die Zustimmung derjenigen fand, welche in der Gesellschaft als "normal" eingestuft wurden. Dass dieses Denken noch lebendig ist, zeigt etwa der untenstehende Tweet eines (ex-)FDP-Politikers:“Die Welt hat zuviele übergewichtige, zuviele kranke Menschen, zuviele Menschen mit zu schwachen Immunsystemen, zuviele hochbetagte. Corona bereinigt das jetzt. Ist das wirklich so schlimm und müssen wir die auf Teufel komm raus alle 'gesund' päppeln und am Leben erhalten?”