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Staat und Virus: Linke Konfusion in der Pandemie

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Linke Konfusion in der Pandemie Staat und Virus

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Politik

Während die Welt und viele Hirne vom Zerfall bedroht sind, ist es Linken kaum gelungen, eine Perspektive über den Staat hinaus zu formulieren.

Bundeshaus Bern während COVID-19. Warntafel auf Bundesplatz, Polizeiauto und Sperrgitter Richtung Bundesterrasse.
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Bundeshaus Bern während COVID-19. Warntafel auf Bundesplatz, Polizeiauto und Sperrgitter Richtung Bundesterrasse. Foto: Hadi (PD)

Datum 8. Januar 2021
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Und dies obwohl sich in der Pandemie im Zeitraffer offenbart, wie der bürgerliche Staat funktioniert und was seine Schranken sind. Für einmal münzen sich politische Entscheide auch in der Schweiz fast unvermittelt in Tod und Elend um.

«Der Staat ist ein Palast, in den man hineintritt, der aber keinen Hinterausgang hat. Man kann in diesem Palast höchstens nach oben kommen.» (Johannes Agnoli)

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Der Staat bewahrt ein deformiertes allgemeines Interesse, obgleich er dem Kapital verpflichtet ist.

Angesichts der desaströsen Bilanz wird mittlerweile über die mangelhaften herbstlichen Massnahmen des Schweizer Staatengewirrs diskutiert. In der Debatte wird aber kaum thematisiert, dass die staatlichen Regeln einer bestimmten Logik gehorchen: Möglichst viele Menschen sollen arbeiten gehen und auch dort weiter Profite erzeugen, wo es für die Erhaltung von Leben und Gesellschaft ganz unnötig wäre. «Die Wirtschaft hat hierzulande stets zu 70 bis 80 Prozent weitergearbeitet», freute sich Gesundheitsminister Alain Berset nach der ersten Welle und verwies auf den härter getroffenen Nachbarn im Süden.

Die staatlichen Einschränkungen folgen innerhalb dieser Logik allerdings tatsächlich den Massgaben der Pandemiebekämpfung. Als die Schweizer Regierung im Frühling einen Lockdown erliess und damit die hiesige Wirtschaft hart ausbremste, rieben sich linke Staatsfeind*innen die Augen. Wird der Staat nicht von den Kapitalist*innen beherrscht? Wie kommt es dann, dass er nun die Kapitale – umgangssprachlich: die Wirtschaft – derart einschränkt? Behalten am Ende doch jene Recht, die behaupten, der Staat sei die Verkörperung allgemeiner Vernunft in einer unvernünftig eingerichteten Gesellschaft?

Diese Staatsfeinde irren sich in einem wichtigen Punkt: Der Staat ist zwar der Staat des Kapitals, aber nicht der Staat der Kapitalist*innen. Das heisst, dass er nicht nur Einzelkapitale – besonders rücksichtslose Unternehmen – sondern auch mächtige Kapitalverbände beschränkt, falls dies erforderlich ist. Damit sichert der Staat das Weiterbestehen des gesellschaftlichen Ganzen, des Kapitalismus.

Als im Frühling der Shutdown verhängt und Läden geschlossen wurden, wurde zugleich ein beispielloses Rettungspaket gesprochen: Rund siebzig Milliarden Franken wurden in Aussicht gestellt. Das sind etwa zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz. Dieses Geld dient zur Rettung von bedrohten Firmen, damit sollen auch Arbeitsplätze erhalten und Selbständige sowie Lohnabhängige unterstützt werden.

Der bürgerliche Staat handelt als «ideeller Gesamtkapitalist», wie ihn Friedrich Engels einst nannte. Er muss dabei auch dafür sorgen, dass die Arbeiter*innen nicht zu massenhaft erkranken und arbeitsunfähig werden oder dass die Infrastruktur nicht längerfristig überlastet wird. Zudem muss er sich die zumindest stille Billigung der Lohnabhängigen und die demokratische Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten sichern.

Der Staat verkörpert so etwas wie ein deformiertes allgemeines Interesse, das die Einzelnen in ihrem egoistischen Handeln nicht verfolgen. Dabei tritt er als grosser Wohltäter auf. «Die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Waren des täglichen Gebrauchs ist sichergestellt, es sind genügend Vorräte angelegt», beruhigte der Bundesrat, nachdem im Frühling das Toilettenpapier in vielen Schweizer Läden zusammengehamstert worden war.

In einer Gesellschaft, in der die Produktion und Verteilung des Lebensnotwendigen der Initiative konkurrierender Privatprofiteur*innen und einem blind wirkenden Wertgesetz überlassen ist, ist der Staat alternativlos. Das staatliche Handeln befördert aber den Schein, er sei den Klassen und vor allem dem Kapital enthoben, ja geradezu dessen Gegenpol. Das ist er aber nicht.

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Politiker*innen tragen dem Wirtschaftsstandort Sorge, aber auch einen Geldbeutel in der Hosentasche.

Die Kapitalist*innen könnten den Staat gar nicht direkt führen, dazu sind sie zu zerstritten, zu sehr in Konkurrenz zueinander geworfen. In politischen Gefechten und nach erbitterten Kämpfen der Lohnabhängigen um Mitbestimmung, hat sich ein ausgeklügelter demokratischer Ausgleichsapparat entwickelt, der unter steter Wahrung des Profitprinzips gesellschaftliche Interessen vermittelt.

Die politische und die wirtschaftliche Herrschaft haben sich dabei formell aufgespalten: Besitzer*innen von Autokonzernen bestimmen nicht über Co2-Gesetze. Und auch Magdalena Martullo-Blocher, die rund vier Milliarden Franken besitzt, muss den mühseligen Umweg über Verhandlungen und politische Kampagnen gehen, wenn gleich ihre Ressourcen dafür schier unerschöpflich sind.

Die konkurrierenden Firmen und Kapitalist*innen bilden aber Zusammenschlüsse, mit denen sie auf die Politik einwirken. Und diese sind einflussreich. Der Kapitalverband Economiesuisse stellte im Frühling einen Forderungskatalog auf, der die Pandemiepolitik im Herbst weitgehend vorwegnahm. Die zentrale Losung: «Absolut prioritär ist das Verhindern eines zweiten Teil-Lockdowns.» Mittlerweile ist der Verband offiziell zurückgerudert. Zu viele Tote und erschütterte Hinterbliebene sind schlecht für die nationale Gemeinschaft und das private Geschäft zugleich.

Die Kapitalverbände und Lobbyorganisationen treffen im Bundeshaus auf Politiker*innen, die neben dem Interesse am Standort auch ein Interesse am eigenen Portemonnaie hegen. Darum müssen die Mitglieder der Bundesversammlung jährlich ihre Interessenbindungen offenlegen. Dennoch zerren Medien regelmässig besonders anrüchige Fälle von Lobbyismus oder der Barbezahlung von Politiker*innen ans Licht der Öffentlichkeit.

Man ahnt zwar, dass Geld im Kapitalismus so ziemlich alles kann und so ziemlich alles ist, aber man zeigt sich immer wieder aufs Neue empört, wenn ein Skandal auffliegt. Auf diese Empörung zielte jüngst auch Roger Köppel, als er in seinem hemdsärmeligen Weltwoche Daily in die Kamera polterte: «Frau Sommaruga hat keinen Rappen weniger auf ihrem Konto, wenn sie einen Lockdown oder Shutdown befiehlt».

Natürlich verschwieg der SVP-Chefredakteur, wieviel Geld er mittlerweile mit solchem Gerede zusammenpropagiert hat und was seine Parteikolleg*innen auf ihren Konten parkiert haben. Würde man dies systematisch durchleuchten, man würde neben allerlei ideologischem Unrat wie Neoklassik, Sozialdarwinismus und Sparzwangsstörungen auch handfeste Interessen finden, die sie dazu drängen, den Lockdown mit allen Mitteln zu verhindern.

In den Parlaments- und Regierungsgebäuden tummeln sich eben Menschen, die moralische Staatsbürger*innen und private, egoistische Individuen zugleich sind. Diese Spaltung ist eine der Gesellschaft selbst. Man kann diesen Widerspruch in den Politiker*innen skandalisieren, schliesslich sitzen in den Parlamenten und Amtsstuben tatsächlich viele Profiteur*innen des kapitalistischen Unheils. Schwerer wiegt aber die gesellschaftliche Spaltung selbst: Privat organisierte Profitmacherei auf der einen Seite, notdürftige staatliche Regulation auf der anderen. Eine Kritik am politischen Unheil muss das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis in den Blick nehmen, dessen politischer Ausdruck der Staat letztlich ist.

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Die staatliche Rationalität ist eine Kalkulation, deren Resultat das erfolgreiche Wirtschaften nicht ernsthaft beeinträchtigen darf.

Der Schweizer Staat hat in der zweiten Welle lange, zu lange keine ernsthaften Massnahmen erlassen. Das hat wiederum jene erstaunt, die glauben, der Staat würde eigentlich den Schutz der Bevölkerung organisieren. Wie konnte es sein, dass die Regierung keine tauglichen Schritte einleitete? Warum mussten erst über fünftausend Menschen sterben, bis der Widerspruch etwas hörbarer wurde?

Der genaue Verlauf des Desasters mag durch föderalistisches Kompetenzgerangel, harte Interessenspolitik und Sparideologie bestimmt worden sein, aber das Problem wurzelt tiefer. Die staatliche Rationalität muss den kapitalistischen Zwängen Rechnung tragen. Würde die Politik diese in Frage stellen, würde sie zumindest längerfristig die Grundlagen des Staates selbst zerstören: Profite, Arbeitsplätze, Steuereinnahmen, Stabilität.

Der Staat stösst dabei auf zwei absolute Schranken. Auf der einen Seite wird er von der Akkumulationsfähigkeit des Kapitals begrenzt, also von jener Grenzlinie, ab der die heimische Wirtschaft nachhaltig einbricht und im internationalen Konkurrenzkampf unterliegt. Auf der anderen Seite setzen dem Staat die nachhaltige Zerstörung von Menschen und Natur Grenzen, die die stoffliche Grundlage des kapitalistischen Geschäfts bilden. Die Annäherung an die erste Schranke macht sich in vermehrten Konkursen, steigender Arbeitslosigkeit und abschmelzendem Steuersubstrat in relativ kurzer Frist bemerkbar. Die zweite Begrenzung – Mensch und Natur – ist dehnbarer, weil sie das System in der Regel nur langfristig gefährdet.

Das war in der Pandemie für einmal anders. Darum bietet diese auch besonders farbenreiches Anschauungsmaterial für Schranken und beiläufige Grausamkeiten des Staates.

Da nie genau bekannt ist, ab welchen Beschränkungen und Einschnitten der Wirtschaftsstandort nachhaltig leidet, gehorcht die Politik einem Abwägen, Berechnen, Kalkulieren. Die verschiedenen politischen Richtungen vertreten dabei verschiedene Perspektiven der Akkumulation, der Anhäufung von Profiten: Mehr Sozialstaat würde zu mehr Nachfrage und damit zu mehr Produktion führen und darum allen nutzen, sagen die einen. Weniger Lohnnebenkosten würde die Profite vergrössern und die ganze Wirtschaft wachsen lassen, was wiederum allen nütze, argumentieren die anderen. Sie haben neben ihrer Klientel dabei auch tastsächlich das Gesamte im Blick: Den nationalen Standort, der die Grundlage des Geschäfts bildet.

Überhaupt hat es sich im modernen demokratischen Staatswesen eingebürgert, dass man partikulare Interessen als allgemeine ausgibt: So wird die Spaltung der Gesellschaft in Klassen verschleiert, auch wenn diese nach wie vor existenzielle Fragen dominiert: Es spielt bei praktisch allen wirtschaftspolitischen Verhandlungen eine Rolle, ob man von einem Lohn abhängig ist oder vom Gewinn einer Firma profitiert.

Die beiden Pole des politischen Spektrums haben jeweils ihre eigene Wirtschaftsdoktrin, zwischen denen sich alles bewegt. Sie lauten in Kürze: Staatsausgaben sind ein Heilmittel vs. Staatschulden sind schlimm. Nun setzte sich nach dem Frühlingswunder des Lockdowns und des grossen Rettungspakets im stabilen Geflecht demokratischer Vermittlung eine Gegenbewegung in Gang. Finanzminister Ueli Maurers «Wir können uns keinen zweiten Lockdown leisten» dürfte die politische Agenda über die nächsten Jahre bestimmen.

In den letzten Wochen konnte man im Zeitraffer verfolgen, was Marxist*innen über die lange Frist sagen: Der Staat vermittelt die Anforderungen des nationalen Gesamtkapitals – dem berühmten Wirtschaftsstandort – mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. In den warmen Worten des Gesundheitsministers Alain Berset klang das im Sommer so: «Der Bundesrat hat stets versucht, eine Balance zu finden zwischen dem Gesundheitsschutz und den Anliegen der Wirtschaft, zwischen Freiheit und Kontrolle».

In diesem Aushandlungsprozess fallen dabei in der Regel die Toten nicht unmittelbar an: Die Kürzung von Sozialhilfe und die Drangsalierung Sozialstaats-Abhängiger befördern deren Elend, dieses findet aber grösstenteils fernab von Fernsehkameras statt. Tot durch Elend wird in keiner Statistik erfasst, in der Pandemie zeigt sich hingegen die Klassendimension der Entscheide in ihrer ganzen Brutalität.

Nicht nur die Härte, sondern auch die Art der Massnahmen treffen die Menschen höchst unterschiedlich. Es droht uns keine «Zweiklassen-Medizin», wie einige monieren, in einer Klassengesellschaft ist Gesundheit schon immer sozial geprägt. «Ich bin (…) mit vielen Beobachterinnen der festen Überzeugung, dass es vorwiegend die Armen sind, die sterben», sagte kürzlich Tanja Krones, eine Ärztin, die an der Ausarbeitung der Triagerichtlinien der Schweiz beteiligt war, zur Republik. Sie verwies dabei nicht nur auf die besonders exponierten Arbeiter*innen, die politisch auch noch miserabel behandelt werden, sondern auch auf den Gesundheitszustand armutsbetroffener Menschen.

Die politischen Entscheide – die «Güterabwägung», die schon in normalen Zeiten für die Betroffenen höchst brutal ist – münzen sich derzeit direkt in Todesopfer um. Wenn einige Lohnabhängige diese Einsicht gewinnen, ist wenigstens etwas gewonnen in einer Zeit, in der vieles verloren geht.

Wenn der nationalen Wirtschaft Schaden zugeführt und damit Arbeitsplätze zerstört werden, rächt sich dies in der Regel bei den nächsten Wahlen. Das geschieht aber über grosse Zeiträume. Welche Reaktionen nun folgen, wo Menschen direkt der Wirtschaft und dem Staatshaushalt geopfert werden, steht noch aus. Angesichts der besonderen Umstände könnte man in den nächsten Wahlen eine Überraschung erleben. Man sollte allerdings Humanismus und Gedächtnis der Schweizer Stimmbevölkerung nicht überschätzen.

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Die staatlichen Massnahmen sind nicht einfach zu lasch (oder zu hart), sie klammern vor allem Wesentliches aus: Die Arbeitsplätze.

Der Staat verkörpert so etwas wie ein allgemeines Interesse also nur innerhalb eng gezogener Grenzen, wobei er auch gewisse Bereiche ausklammern muss. Laut einer Liste des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) folgt der Arbeitsplatz bei den Orten mit den meisten Infektionen nach der Familie und einem vagen Bereich «anderer Kontakt» an dritter Stelle. Bis heute gibt es bloss Empfehlungen für Homeoffice.

Im Herbst kam es in einer Schweizer Grossbäckerei zu einer Massenübertragung des neuen Corona-Virus. Einige Zeitungen fragten daraufhin zaghaft, ob wohl die Hygiene-Massnahmen ungenügend eingehalten worden seien. Ganz anders klang es im Sommer, als ein 29-Jähriger «Superspreader» im Zürcher Club Flamingo das Virus verbreitete. Allein der Blick berichtete sechs Mal über den angeblichen Übeltäter, die Clubs waren längst als Hort von Exzess, Unzucht und Virenübertragung ausgemacht.

Mediale Einblicke in Lagerhallen, Fleischereien und Grossraumbüros gibt es kaum, gelten sie doch als Privatsache. Sie sind nur äusserst selten Gegenstand der moralischen Staatsbürger*in – der Politiker*in – stattdessen werden sie dem privaten Zweck der Bereicherung überlassen. Die «verborgenen Stätten der Produktion», wie Karl Marx sie nannte, tauchen in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt kaum auf. Man kennt sie bloss aus den Hochglanzmagazinen der PR-Abteilungen, fremde Kameras sind nur unter strenger Führung zugelassen: «Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten».

Hier würde die Klassendimension der Pandemie nochmals deutlich: Wer muss unter welchen Umständen arbeiten? Wer ist davon befreit und kann über die Bedingungen bestimmen, unter denen gearbeitet wird? Ganz anders stellt sich dies in der Öffentlichkeit, in den Clubs, auf dem Markt dar: Man findet dort keine Lohnabhängigen und Chef*innen, sondern gleichberechtigte Käufer*innen und Konsument*innen. In dieser Sphäre soll Verzicht geübt werden, nicht nur zum Wohle der Gesundheit, sondern auch der Wirtschaft.

Folgerichtig werden die Supermärkte um sieben Uhr geschlossen, damit alle nach der Arbeit reindrängeln müssen, während es bis heute lediglich Empfehlungen gibt von zu Hause aus zu arbeiten. Die soziale Dimension bleibt auch verdunkelt, weil wichtige Bereiche des Infektionsgeschehens einer Blackbox gleichen.

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Linke Opposition muss in ihre Kritik die Gefahr des Virus und die staatlichen Beschränkungen gleichermassen einbeziehen.

Ernsthafte Opposition gegen den Regierungs-Slalom ist in der Schweiz kaum wahrzunehmen. Die Gründe sind vielseitig. Sie reichen von der Selbstüberschätzung der Schweizer*innen in ihrer nationalen Blase über die Ideologie der Wirtschaft als naturwüchsigem Prozess bis hin zur allgemeinen Konformität, die im Beet der Konkordanz gezüchtet wurde. Solange Waschplan und Vernehmlassungsverfahren strikt eingehalten werden, kann die Welt in Scherben fallen, die Wohnzimmer der Schweizer*innen bleiben in deren Imagination verschont.

Statt auf Opposition stösst man auf Ansammlungen höchst sonderbarer Figuren in Bomberjacken und Batiktüchern, in deren Köpfen sich Angst und Denkfähigkeit ganz ungünstig zueinander verhalten. Sie wollen ihre Willkür partout als Freiheit verstanden wissen, weil sie selbst nichts verstehen wollen. Es ist aber keine Freiheit, andere ins Grab zu husten, sondern die Zerstörung der Grundlagen der Freiheit: Mitmenschen, Gesundheitssystem, Solidarität. Man wird es ihnen leider nicht beibringen können, sind sie doch bloss ein besonders schillernder Ausdruck der weit verbreiteten Irrationalität, die diese Gesellschaft systematisch erzeugt.

Diese Quermeinenden machen es einer vernünftigen Kritik am staatlichen Handeln nicht besonders leicht. Gesellschaftliche Opposition hat die Todesdrohung bitterernst zu nehmen, die vom Virus ausgeht. Weil ein beachtlicher Teil der Menschen zwischen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit oszilliert, sind die staatlichen Verordnungen alternativlos.

Das heisst aber nicht, dass man die etwas elegantere Kritik am staatlichen Handeln den liberalen Irrläufern überlassen sollte. Diese möchten, wie kürzlich NZZ-Feuilleton-Major René Scheu, auf selektiver empirischer Grundlage halbe Altersheime im Plauderton opfern. Solche Leute kritisieren den gesellschaftlichen Inhalt nie, der den Staat überhaupt erst erzwingt.

Der Wirtschaftsprozess, der als naturwüchsig ausgegeben wird, soll möglichst nicht staatlich korrigiert werden. So will es die liberale Ideologie, die in der Schweiz noch immer ein erschütternd hohes Ansehen geniesst. Damit landen die liberalen Vordenker*innen derzeit mit schlafwandlerischer Sicherheit bei der Legitimation der grössten Grausamkeiten. Und das im Namen der Freiheit, die selbstverständlich die Freiheit des Kapitals zur Akkumulation, der Liberalen zum Profitmachen, meint.

Der richtige Ansatzpunkt wäre nicht nur die Härte oder Schwäche der Massnahmen. Vor allem wäre zu fragen, welche Bereiche in welcher Weise in den Fokus genommen werden. Wie etwa Lohnabhängige in beengenden Wohnverhältnissen um Privatvergnügen und Kompensation betrogen werden, während man sie am Arbeitsplatz weiter immensen Gefahren aussetzt. Zu fragen wäre auch, wofür Gelder gesprochen werden, während anderswo geknausert wird. Mittlerweile müssen sich im Parlament insbesondere die Sozialdemokrat*innen für kleine und mittlere Unternehmen ins Zeug werfen.

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In der Pandemie werden gesellschaftliche Konflikte ins Licht gezerrt, die Fronten aber national zugekleistert.

Es ist wichtig, sich einzuprägen, was sich heute im Zeitraffer und im grellen Licht der Fernsehkameras abspielt. Dieselben Interessen, Schranken und Widersprüche wirken auch in den Verhandlungen über Arbeitsschutz, Sozialstaat und Mindestlohn. Dieselben Figuren, die heute alte und kranke Menschen auf dem Altar ihres Wirtschaftsgottes opfern wollen, werden künftig wieder mit einem imaginären Allgemeininteresse dagegen argumentieren, dass Profite beschnitten werden. Wenigstens diese Einsicht sollte man in die düsteren Jahre mitnehmen, die auf uns zukommen.

Zu dieser Lektion gehört auch: Wir sitzen nicht alle im selben Boot. Die Konflikte werden sich in den kommenden Monaten zuspitzen. Die Frage ist bloss, entlang welcher Frontverläufe sie eskalieren und wem die Hauptlast für die jetzigen Kosten aufgebürdet wird.

Die SVP-Fraktion im Nationalrat hat eine Menge virologisch verbrämter Zuwanderungs-Paranoia verbreitet, aber auch bereits einen Vorstoss eingereicht, der nach innen zielt: Die Höhe der Arbeitslosenbeiträge soll an die Nationalität angepasst werden. Es ist ein durchsichtiges Manöver. Wir stecken in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wird zwangsläufig zu Angriffen auf das Lebensniveau der Lohnabhängigen kommen, um die Profite der Unternehmen zu schützen und den nationalen Standort wettbewerbsfähig zu halten. Die Spaltung der Lohnabhängigen in Schweizer*innen und Ausländer*innen zu vertiefen und erstere nationalistisch zum mobilisieren, ist die übliche Begleitmusik dazu.

Nationalismus ist kein Exklusivanrecht der SVP. Kaum je waren derart eindringliche Appelle an die nationale Gemeinschaft zu vernehmen. Die Sozialdemokratin Simonetta Sommaruga liess kürzlich von der bundesrätlichen Presse-Kanzel verlauten: «Unser Land ist stark, wenn wir solidarisch sind, wenn sich alle einbringen, wenn wir gemeinsam handeln. Es braucht jetzt die ganze Schweiz». Der Korporal und Bundesrat Guy Parmelin brachte es in seiner Ansprache zum neuen Jahr schliesslich auf die klassenpolitische Pointe: «Es ist mir wirklich wichtig, dass wir eine geeinte Schweiz sind, geeint in unserer Vielfalt: Stadt und Land, Alt und Jung, Wohlhabende und weniger Wohlhabende».

Arm und reich als Teil der Diversität. Zuhause bleiben als Solidarität. Klatschen als Beitrag zum Volkswohl. Dem gilt es mit Solidarität als praktischer wechselseitiger Unterstützung und gemeinsamen Kämpfen zu begegnen, die an den nationalen Grenzen nicht halt machen. Gerade weil sich die internationalen Konflikte derzeit zuspitzen und die nationalistische Rhetorik ruppiger wird.

Die Pandemie zeigt den Klassencharakter der Gesellschaft deutlich. Es gibt wenig Anlass zum Optimismus, aber allen Grund für die Annahme, dass sich vieles verändern wird. «In Krisensituation mag der soziale Konflikt als einer von Klassen sich aktualisieren; ob abermals in den Formen der verwalteten Welt, bleibt abzuwarten», schrieb der wenig optimistische Professor Theodor W. Adorno im Jahr 1968. Abzuwarten ist nun vielleicht eher das Ende der akuten Pandemie, man sollte sich ins Handgemenge stürzen. Wir haben zwar mehr zu verlieren als blosse Ketten, aber wir haben auch eine Welt zu gewinnen.

Klaus Klamm
ajourmag.ch