An diesem sonnigen Herbstnachmittag haben viele Besucher:innen des Erfolgsfests eine Geschichte zu erzählen – die meisten auf Spanisch: Von übergriffigen Vorgesetzten, fristlosen Kündigungen, schimmligen Wohnungen zu überrissenen Mieten und immer wieder von nicht bezahlten Löhnen. Aber auch davon, wie sie sich mit Kolleg:innen zusammentaten, wie sie zum Treffpunkt von Zürich Solidarisch kamen und Gleichgesinnte fanden. Wie sie böse Briefe schrieben und Klagen einreichten. Wie die Chef:innen vor dem Friedensrichter auf einmal ganz kleinlaut wurden und sich zum Opfer stilisierten. Manche Arbeiter:innen hatten bei ihren Auseinandersetzungen mehr Erfolg, andere weniger. Aber alle waren sich einig: Es lohnt sich, zu kämpfen!
Zürich Solidarisch wurde 2020 mit einem dezidiert antikapitalistischen Anspruch gegründet. Es entstand aus den linksradikalen und basisgewerkschaftlichen Zusammenhängen, die zu Beginn der Pandemie bereits das Corona-Solifon initiiert hatten. Sie konnten dabei auch auf jahrelangen Erfahrungen des SolNet (solidarisches Netzwerk, welches ebenfalls im Kafi Klick stattfand) aufbauen. Neben den zweiwöchentlichen Beratungs-Treffpunkten organisiert die Gruppe Veranstaltungen zur Wissensweitergabe und Kundgebungen, um auf Arbeitskämpfe aufmerksam zu machen.
Zu den Treffpunkten kommen Arbeiter:innen, um Unterstützung bei Konflikten an ihrem Arbeitsplatz oder mit ihrem Vermieter zu suchen. Oft werden die Forderungen vor Gericht gezogen, manchmal mobilisiert Zürich Solidarisch zu Kundgebungen vor den Verhandlungen: «Es ist uns dabei stets wichtig, eine klassenkämpferische Perspektive zu bewahren und kollektives Handeln zu ermöglichen».
Einige Erfahrungen hat Zürich Solidarisch nun in einer lesenswerten Broschüre herausgegeben. Wir publizieren daraus einen Artikel. Ada Amhang, Organizerin der IWW, erzählt darin die Geschichte von Zürich Solidarisch und verteidigt diese Praxis (auch gegen Kritik aus revolutionären Kreisen) als Form der Entwicklung proletarischer Gegenmacht.
Zürich Solidarisch – Über solidarische Beziehungen zur Revolution
«Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen aus, worin diese Individuen zueinanderstehen (…)» (MEW 42, 189)Seit Ende 2020 betreibt ein offener Zusammenschluss von Menschen in Zürich eine Mischung aus Worker Center und solidarischem Netzwerk (SolNet). Dieses Projekt nennt sich Zürich Solidarisch und ist aus dem Corona-Solifon entstanden, über das dieser Band ebenfalls einen Text enthält. Die Gruppe von Aktivist:innen und Organizer:innen rund um Zürich Solidarisch führt in den Räumlichkeiten des Kafi Klick – einer Anlaufstelle für Armutsbetroffene[1] – zweiwöchentlich Beratungen in Miet- und Arbeitsrechtsfragen durch, organisiert Vernetzungsanlässe und Workshops und begleitet Menschen in Kämpfen gegen ihre Chefs und Vermieter:innen. Im Folgenden soll Zürich Solidarisch nicht nur vorgestellt werden, sondern ich möchte vor allem auf die primäre Stellung von Praxis, die selbstkritische Evaluation dieser und die daraus resultierende Weiterentwicklung der Gruppe eingehen.
Darüber hinaus soll in diesem Beitrag aber auch eine Einordnung der Arbeit von Zürich Solidarisch und damit einhergehend von Basisarbeit allgemeiner in Bezug auf die Emanzipation der Klasse der Lohnabhängigen in einem grösseren Zusammenhang präsentiert werden. Zentral dafür ist der Aufbau und die Konservierung von solidarischen Beziehungen gerade auch zwischen verschiedenen Segmenten unserer Klasse, wenn es darum geht, starke und nachhaltige Strukturen zu errichten und als Gegenmacht von unten zu funktionieren.
Von der Hotline zum Worker Center: Zürich Solidarisch im Kafi Klick
Schon während der ersten Wochen des pandemiebedingten Lockdowns im Frühling 2020 formierte sich eine Gruppe von Leuten aus verschiedenen Städten in der Schweiz zu einem Kollektiv, das das Corona Solifon betrieb. Wie in «Sich in unserer Klasse verankern» in diesem Band zu lesen ist, wurden beim Solifon Menschen beraten und individuell oder kollektiv Forderungen gegenüber Chef:innen und Behörden durchgesetzt. Dadurch lernten wir viel über die pandemiebedingt veränderten Lebens- und Arbeitsrealitäten; darüber wie sich die Massnahmen im Lockdown auf unterschiedliche Branchen auswirkten und welche neuen Tricks von Chef:innen benutzt wurden, um beispielsweise Kurzarbeitszahlungen für Angestellte in die eigenen Taschen verschwinden zu lassen. Aber auch Wissen darüber, wie technologische Mittel angewendet wurden um Arbeitsverhältnisse weiter zu flexibilisieren und die Unsicherheit auf die Kolleg:innen abzuwälzen, konnten wir aus dieser Arbeit gewinnen.[2]Das Zusammenspiel von kapitalistischer Ausbeutung am Arbeitsplatz und das Gefühl des Verwaltetwerdens durch staatliche Bürokratie mit ihren Zwängen und Verboten, sowie die für viele direkter spürbare Repression durch die Polizei, war für die Menschen neu; und wie auch andere Gruppen – leider nicht nur aus dem linken oder emanzipatorischen Spektrum – versuchte das Kollektiv rund ums Solifon hier Anknüpfungspunkte zu schaffen, um konkrete Hilfe mit einer gesellschaftspolitischen Perspektive zu verbinden.
Eine zentrale Erkenntnis aus dieser Arbeit war, dass die Hotline sehr stark in Anspruch genommen wurde und wir mit vielen Menschen, die sich allein vermutlich nicht zur Wehr gesetzt hätten, ihre Forderungen durchsetzen und Geld erstreiten konnten. Gerade Temporärarbeiter:innen[3] oder Leute mit Werkverträgen stellen Gruppen dar, die nicht durch vertragschliessende Systemgewerkschaften repräsentiert werden. Kommen dazu noch andere Aspekte, wie eine Migrationsbiographie oder auch genderspezifische Anliegen, fühlen sich Arbeiter:innen oft nicht wohl in Gewerkschaften, wenn nicht sogar von ihnen alleingelassen oder verarscht.
Wir befanden uns also auf einem Weg, der bei vielen auf grosses Interesse stiess und für die Menschen für die Verbesserung ihrer Situation tatsächlich nützlich war. Als weiteren wichtigen Punkt bemerkten wir schnell, dass eine längerfristige und über einzelne Kämpfe hinausreichende solidarische Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Leuten nur möglich ist, wenn ein Beziehungsaufbau stattfinden und ein Vertrauensverhältnis etabliert werden kann. Nebst der Tatsache, dass bei Problemen am Arbeitsplatz die Einsicht in Dokumente wie Lohnabrechnungen oder Arbeitsverträge notwendig ist und dies am besten bei einem Treffen stattfindet, wurde uns immer bewusster, dass das Vertrauen in unsere Struktur und zu einzelnen Personen aus der Gruppe eine Voraussetzung für funktionierende selbstorganisierte, gegenseitige Hilfe ist. Dafür brauchten wir einen Ort, der einen geschützten Rahmen für Treffen bot, aber auch nicht Wohnort einer beteiligten Person war.
Etwa zeitgleich, wie sich die Gruppe rund ums Solifon nach Orten für ungestörte Treffen ohne Konsumzwang umzusehen begann, suchte das Kafi Klick in Zürich nach Optionen für eine Zusammenarbeit mit Basisstrukturen und -gewerkschaften mit politischem Anspruch. Dazu kontaktierten sie die Ortsgruppe der IWW in Zürich und andere politisch linke, ausserparlamentarische Organisationen. Da viele Mitglieder der IWW in Zürich stark im Telefonprojekt involviert waren und auch Erfahrungen aus anderen Basisprojekten, wie dem SolNet[4] oder der Autonomen Schule Zürich (ASZ)[5] mitbrachten, entstand die Idee eines Worker Centers[6]. Die Grundidee des Worker Centers orientierte sich am Vorbild von Strukturen in den USA oder auch von Wilhelmsburg Solidarisch, einem emanzipatorischen Stadtteilprojekt in Hamburg[7].
Zürich Solidarisch wurde im Herbst 2020 gegründet und konnte in den Räumlichkeiten des Klicks direkt mit Beratungen und Treffen starten. Die vorab geführte theoretische und strategische Debatte beschränkte sich darauf, sich als antikapitalistisch zu definieren, die Selbstbestimmung und Autonomie unserer Klasse als gemeinsame Grundlage zu bestimmen und deshalb solidarisch mit allen Lohnabhängigen zu sein. Im damals verfassten Minimalkonsens, der bis heute als solcher dient, steht, dass es zu den politischen Zielen von Zürich Solidarisch gehört, einen Beitrag zum Klassenkampf zu leisten, indem «eine arbeitskämpferische Kultur mit dem Kafi Klick als Treffpunkt und Vernetzungsort» etabliert wird und weiter, dass wir unsere Klasse in «proletarischer Selbstverteidigung schulen» wollen. Zudem haben wir beschlossen bei Zürich Solidarisch (Basis-)Demokratie zu lernen und zu leben und definierten im «Wissen um alle Unterschiede und Widersprüche», die in der Klasse vorhanden sind, Solidarität, Gleichheit und Diskriminierungsfreiheit als Werte für unser Miteinander.
Direkt in die Praxis
Die erwähnten Zielformulierungen können sicher als Versuch gewertet werden, einen Bezug zwischen dem Basisprojekt mit der Emanzipation der Klasse als Ganzes herzustellen: Nicht nur der explizit erwähnte «Beitrag zum Klassenkampf» beinhaltet eine solche Absicht, sondern auch die Schulung in proletarischer Selbstverteidigung wird so verstanden, dass (politische) Bildung nötig ist, um die Fähigkeiten zu entwickeln und zu fördern, eine Übernahme der Produktionsmittel zu vereinfachen, beziehungsweise überhaupt erst zu ermöglichen.Wichtig hierbei ist, dass eine vertiefte Diskussion zur Herleitung und Begründung unserer Zielsetzungen nie geführt wurde und ich das nun folgende hauptsächlich als Mitglied der IWW schreibe. Dabei erhebe ich nicht nicht den Anspruch, die Ansicht der ganzen Gruppe zu vertreten – einfach, weil ich es nicht genau weiss und nicht für alle sprechen kann. Diese strategische Leerstelle ist jedoch bewusst gewählt und soll später genauer diskutiert werden. Nichtsdestotrotz kann gesagt werden, dass die Mitarbeit der IWW in der Gründung von Zürich Solidarisch klar bemerkbar ist. Auch wir Wobblies vertreten die Ansicht, dass die «Struktur der neuen Gesellschaft in der Schale der alten» geformt werden muss. Das heisst, dass sich die Arbeiter:innen nicht nur im Kampf gegen die Kapitalist:innen organisieren müssen, sondern auch «für die Aufrechterhaltung der Produktion, sobald der Kapitalismus überwunden sein wird.»[8]
Dazu kommt die bei Zürich Solidarisch gemeinsam getroffene Entscheidung, Demokratie zu lernen und zu leben, was wir als grundsätzlich emanzipatorisches Element unserer Praxis verstehen und worüber eine Verbindung zur Revolution bzw. der postrevolutionären Gesellschaft hergestellt werden soll: Bildungsarbeit im sozialen Miteinander zum Beispiel durch die Erfahrung von kollektiven Entscheidungsprozessen, durch das Gefühl von Selbstbestimmung und die Möglichkeit zur Partizipation sowie durch das Übernehmen von Verantwortung innerhalb einer basisdemokratischen Gruppe – speziell in einer kämpferischen Auseinandersetzung – sind unerlässlich, wenn wir auf herrschaftsfreie gesellschaftliche Verhältnisse hinarbeiten wollen.
Auch an dieser Stelle wird bemerkbar, dass bei der Gründung von Zürich Solidarisch vorwiegend Menschen involviert waren, deren Konzept einer emanzipatorischen Revolution nicht mit der Übernahme der (Staats-)Macht zusammenfällt und auch nicht primär auf die Destruktion von Gesellschaftsverhältnissen um ihretwillen ausgelegt ist, sondern stark ausgeprägte konstruktive Elemente beinhaltet. So gesehen dient unsere Praxis in ihren Grundsätzen nicht nur einem Versuch der Verankerung von linksradikalem Aktivismus und Organisierungsarbeit in der Klasse, sondern stellt über den Aufbau einer solidarischen Struktur, der Unterstützung und Initiation von möglichst kollektiven Kämpfen und der Weitergabe und Kollektivierung von Wissen einen Bezug zum emanzipatorischen Klassenkampf her.
Das mag alles einleuchtend klingen, zumal sich das Projekt von Menschen aus dem linksradikalen Milieu gegründet hat und viele auch Erfahrungen in politischer Arbeit mitbrachten. Diese anfänglichen Zielformulierungen sind aber auch nicht unbedingt der spannende Teil unserer Arbeit. Solche oder ähnliche Grundsätze finden sich bei vielen (revolutionären) Organisationen und Projekten mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch. Deren Umsetzung erreicht jedoch oft entweder nur kleine Teile unserer Klasse und vermag sich zwar in diesen Räumen zu reproduzieren; es wird jedoch kaum Verbindung zu Menschen ausserhalb einer gewissen Szenesubkultur hergestellt. Dazu kommt, dass aus unterschiedlichen Gründen solche Ziele und Grundsätze zwar theoretisch nachvollziehbar sein mögen, aber leider oft blosse Lippenbekenntnisse bleiben. Einer dieser Gründe ist sicherlich eine Frustration und vielleicht Ohnmacht, die sich in der historischen Situation der spätkapitalistischen Realität bei vielen Genoss:innen, Kompliz:innen und Menschen aus unserer Bewegung einstellt: Was wir auch machen, der unmittelbar oder direkt spürbare Erfolg ist irgendwie schon eher, hm, bescheiden.
An dieser Stelle gäbe es für mich als Autorin dieses Textes die Möglichkeit eine Analyse zu präsentieren, warum das so sein mag. Das kann spannend sein, wird aber schon von Leuten, die das sicherlich besser können als ich, immer wieder auf unterschiedlich interessante Weise gemacht. Genau solche Überlegungen waren auch in den Anfängen bei Zürich Solidarisch wichtig und prägend, denn hier unterscheiden wir uns von ähnlichen Projekten, die zusammengefasst unter dem Begriff der Neuen Klassenpolitik in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum entstanden sind und unter Stichworten wie «revolutionäre Stadtteilarbeit» oder «Kiezkommunen» ähnliche Arbeit leisten: Aufgrund vorhandener Erfahrungen in der Basisarbeit und des aktiven Entscheids, von der Praxis her zu denken, haben wir im Gegensatz zu vielen dieser Projekte direkt die tatsächliche Umsetzung dieser Praxis angestrebt. Damit ist gemeint, dass wir eben nicht vertieftere Analysen als Ausgangspunkt nehmen wollten; dass unser Minimalkonsens tatsächlich immer minimal blieb; dass wir nicht eine Politgruppe gründeten und wir uns also nicht aufgrund von theoretischen und strategischen Überlegungen von (bewegungs)politischer Arbeit der Basisarbeit zuwendeten, sondern direkt mit dieser starteten.[9]
Das soll aber nicht heissen, dass wir in einen blinden Aktionismus verfallen wollten, sondern waren uns von Beginn an einig, unsere Praxis stetig zu evaluieren und daraus Strategien für Zürich Solidarisch zu entwickeln und irgendwann tatsächlich vielleicht sogar allgemeinere Aussagen über die Verhältnisse in unserer Klasse treffen zu können. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass involvierte Organisationen und Gruppen oder auch einzelne Individuen sich nicht vorgängig theoretische Überlegungen gemacht hätten, sondern mehr, dass eine gemeinsame bewusste Bewegung in dieser Richtung bei Zürich Solidarisch fehlt und somit auch eine grössere Bandbreite an ideologischen Differenzen zulässt.
Vorhandene Netzwerke nutzen
Eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei, dass wir direkt starten konnten und auch bis heute an unserer praxiszentrierten Art zu Arbeiten festhalten können, spielt das Privileg der schon im Jahr 2020 bereits stabil vorhandenen Infrastruktur, sowie des schon bestehenden Netzwerks rund ums Kafi Klick: Ohne die sicheren und gut eingerichteten Räumlichkeiten und vor allem auch das Vertrauen, das das Klick bei vielen Menschen und Communitys geniesst, hätten wir wie andere ähnliche Projekte auf der Strasse und in Door-to-Door Aktionen über lange Zeit Kontakte aufbauen und Anliegen abholen müssen.Das sind erfahrungsgemäss sehr ermüdende und oft frustrierende Arbeiten, die zu viel früheren Zeitpunkten dazu führen, die eigene Praxis grundlegend in Frage zu stellen, zu überarbeiten und unter Umständen, sich davon abzuwenden. In langwierigen und mühsamen Prozessen, wo direkte politische Aspekte der Arbeit sehr marginal vorhanden sind, ist theoretische Arbeit oft eine wichtige Motivationsquelle. Obwohl wir Flyer erstellten und verteilten und auch – ähnlich wie bei der Arbeit mit dem Solifon – Plakate in der Stadt aufhängten, die auf unser Worker Center aufmerksam machten, war und blieb das Netzwerk ums Kafi Klick unser hauptsächlicher Kontakt zur Basis. Dort wird auf uns verwiesen, Werbung aufgehängt und zu unseren Veranstaltungen und Treffpunkten eingeladen.
Zur Umsetzung unserer Ziele definierten wir drei hauptsächliche Stossrichtungen oder Grundpfeiler für unsere Praxis an denen wir bis heute festhalten: Beratungen, Bildung beziehungsweise Wissensweitergabe, sowie (direkte) Aktion nach aussen. Offen blieben bewusst Fragen dazu, was jeweils das politische Ziel bzw. der Anspruch sein soll in einem konkreten Fall oder auch, wie genau wir unsere Prinzipien und Grundsätze kommunizieren und weitergeben wollen an Leute, die zum ersten Mal zu Zürich Solidarisch kommen.
Die Beratungsachse unserer Arbeit beinhaltet konkret das Betreiben einer Art Anlaufstelle, die Menschen mit ihren Anliegen, Problemen und Rechtsfragen aufsuchen können. Dabei war und ist der Grundgedanke, dass wir uns gegenseitig Hilfe anbieten und so mehr Leute die Erfahrung machen, dass es sich immer lohnt, sich auch für kleine Beträge und in vermeintlich unmöglichen Situationen zu wehren. Oft sind es individuelle Streitigkeiten gegen Bosse oder Vermieter:innen, die wir ermöglichen und unterstützen, manchmal erscheinen aber auch Gruppen von bereits organisierten Arbeiter:innen aus einem Betrieb oder Menschen begleiten Kolleg:innen zu uns, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Dann ergibt sich aus dem Erstkontakt oft eine Gruppe, bestehend aus solidarischen Leuten mit Rechtskenntnissen und oder Organisierungserfahrung und den vom Problem betroffenen Arbeiter:innen, um gemeinsam Forderungen zu formulieren und sich zu überlegen, wie diese erreicht werden können.
Auch von Anfang an erfragten wir immer, ob die Situation in der sich eine Person befand, auch auf die Kolleg:innen im Betrieb oder Nachbar:innen zutraf, um kollektive Taktiken zur Sprache zu bringen und unter Umständen auch zu verfolgen. Leider ist dieser Schritt sehr schwierig und passiert nicht so selbstverständlich. Quantitativ gesehen haben wir über diese drei Jahre vermutlich etwa 600 Personen kennengelernt und beraten und über Klagen, Beschwerden und Protest den Kapitalist:innen etwa 100'000 CHF abgerungen[10].
Gemeinsam (Widerstand) üben
Aufgrund des unterschiedlichen Wissenstands gerade in juristischen Fragen und Kenntnisse über Vorgehensweisen und Möglichkeiten, ergibt sich dabei aber oft eine ziemlich klassische Beratungssituation: Wir übernehmen die Rolle von «Expert:innen», die dabei helfen, das Problem zu lösen – und in schlechteren Fällen dies sogar für andere tun. Nebst der Tatsache, dass kollektive Arbeit seltener überhaupt von den Leuten ins Spiel gebracht wird und erwünscht ist, beobachten wir auch, dass wir damit seltener tatsächlich erfolgreich sind, bzw. unsere Forderungen durchgesetzt bekommen, als wenn wir das Problem auf individueller, meist juristischer Ebene angehen.Die Gründe dafür sehen wir darin, dass es erstens zeit- und ressourcenintensiver ist, Gespräche mit Kolleg:innen zu führen und sich zu organisieren, dass zweitens das Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Rechtssystems trotz gegenteiliger Erfahrungen bei den Leuten teilweise sehr stark ist und drittens, dass es nur wenige und oft unbekannte Kampagnen und damit Erfahrungswerte aus der jüngeren lokalen Geschichte gibt, wo Organisierung und selbstbestimmtes kollektives Handeln Erfolg hatten.
Das hat wiederum zur Folge, dass gerade am Arbeitsplatz die Selbstverständlichkeit fehlt, eine widerständische Kultur zu leben, die mehr umfasst als das blosse Schimpfen über Zustände und/oder Vorgesetzte: Wir haben nicht verinnerlicht, dass solche Wege des Widerstands tatsächlich Lösungen darstellen. Schlussendlich hängt für viele Leute, die zu Zürich Solidarisch in die Beratung kommen der Erhalt der Mietwohnung oder gar der Aufenthaltsstatus am Arbeitsverhältnis, was bedeutet, dass die Angst um den Verlust des Jobs auf verschiedenen Ebenen sehr existenziell ist. Dann wird oft erst mit einer Kündigung oder danach die Option vorstellbar, sich zu wehren, vor allem wenn die Vorgehensweise den juristischen Rahmen – beispielsweise über ein Gesuch bei Friedensgericht – verlässt.
In solchen Situationen nach der Kündigung in Betrieben Gegenmacht aufzubauen ist nicht mehr wirklich möglich und nur noch ein Agieren «von aussen» beinhaltet die Möglichkeit von kollektiver Aktion. Nichtsdestotrotz machen wir auch oft die Erfahrung, dass gerade Menschen aus migrantischen Communitys und in oft sehr prekären Situationen ein widerständischeres Selbstverständnis und mehr Mut haben, als es privilegiertere, vielleicht in der Schweiz sozialisierte Arbeiter:innen an den Tag legen und unsere Besorgnis, uns als zu radikal zu outen auch oft nicht gerechtfertigt ist.
Der Problempunkt der Einseitigkeit in der Beratungssituation jedoch, sowie auch teilweise das sich einstellende Gefühl nach einer Beratungsschicht einfach eine Dienstleistung gratis anzubieten, löste und löst oft Frust aus. Die Gefahr, dem eigenen politischen Anspruch nicht zu genügen, ist in diesem ersten Hauptstandbein von Zürich Solidarisch am krassesten spürbar. So haben wir in diesem Bereich auch immer wieder Anpassungen vorgenommen, um die Treffen weniger als reine Dienstleistungsangebote, sondern tatsächlich mehr als ein gemeinsames und auch mutuales solidarisches Problemlösen zu erleben. Während der ersten beiden Jahre fand unsere Beratung immer am späteren Nachmittag in einer für uns reservierten Ecke im Kafi Klick statt.
Wir stellten fest, dass sehr schwierig ist, uns während der normalen Öffnungszeiten des Klicks von ihrer Arbeit, die tatsächlich oft Beratungen und Dienstleistungen sind, abzugrenzen und unserer politischen Motivation Ausdruck zu verleihen. Ausserdem war es oft zu laut, um in Gruppen Gespräche zu führen und es gab keinen Platz um ausserhalb der eigentlichen Beratungssituation miteinander in Kontakt zu kommen und sich kennenzulernen. Aus diesem Grund haben wir die abendlichen Beratungen abgeschafft und führen nun jeden zweiten Samstag von 11-13 Uhr den «Treffpunkt» durch.
Zu dieser Zeit sind wir ganz allein in den Räumlichkeiten des Klicks, stellen Getränke und Snacks zur Verfügung und unterteilen den Raum in zwei Bereiche: Im einen werden die eigentlichen Beratungen durchgeführt, im anderen gehen wir Probleme gemeinsam mit allen Anwesenden an und es wird ein breiterer Austausch angeregt. Leute, die ein Anliegen haben und am Treffpunkt teilnehmen wollen, sollten nun tatsächlich um 11 Uhr erscheinen, damit mit einem gemeinsamen Moment in das Treffen gestartet werden kann und nicht erst zum Zeitpunkt an dem die persönliche Beratung beginnt.
Beim gemeinsamen Start erklären wir kurz, wer wir sind und warum wir (unentgeltlich) tun, was wir tun und laden jede einzelne Person ein, sich kurz vorzustellen und allen zu sagen, warum sie heute hier ist. Unsere Begrüssung und Vorstellung haben wir ebenso in einem Merkblatt verschriftlicht, wie wir seither dann auch die eigentlichen Beratungsgespräche einheitlich und einem festen Ablauf folgend starten. Wir haben nämlich festgestellt, dass es stark variieren kann, wie den Leuten unsere Arbeit und unser Anspruch erklärt wird, je nachdem wer gerade Beratungsschicht macht.
Im gemeinsamen Moment zu Beginn jedes Treffpunkts wird nun auch explizit unsere linke Gesinnung, die sich gegen den Kapitalismus richtet, erwähnt. Wir sprechen schon dann über unsere Absicht, Aktionen und kollektive Handlungen durchführen zu wollen, laden die Leute ein wiederzukommen und holen von den Leuten das Einverständnis ein, sie erneut zu kontaktieren, wenn wir etwas veranstalten oder Aktionen und solidarische Begleitungen organisieren.
Das Team, das jeweils einen Treffpunkt organisiert und durchführt besteht nun nicht mehr bloss aus den beratenden Personen, sondern zusätzlich aus zwei Leuten, die dafür sorgen, dass nach der gemeinsamen Begrüssung, wenn sich die ersten zur Beratung zurückziehen, gewisse Probleme schon gemeinsam mit Allen angeschaut werden können, ein informeller Erfahrungsaustausch und eine niederschwellige Vernetzung stattfindet oder dass unsere Veranstaltungen beworben werden. Dabei ist auch eine wichtige Aufgabe der Beziehungsaufbau, sowie das Besprechen von gesellschaftspolitischen Themen, die vielleicht aufkommen. Im ersten Jahr unserer Arbeit behandelten wir allerlei Anliegen, mussten aber schnell einsehen, dass wir uns auf Miet- und Arbeitsrechtliches beschränken wollten, da es andere professionelle(re) Anlaufstellen für Fragen zu Sozialversicherungen oder Migrationsrecht gab, an die wir weiterverweisen konnten – nicht zuletzt auch das Kafi Klick selber. Solche einfacheren Sachen direkt zu klären oder entsprechende Stellen zu empfehlen gehört ebenfalls zur Arbeit der Leute, die keine eigentlichen Beratungen durchführen. Sehr erfreulich ist, wenn während dem Treffpunkt Transpis und Schilder gemalt oder sonstige Arbeiten verrichtet werden zur Vorbereitung von Aktionen oder Demos, an denen sich alle Anwesenden beteiligen können.
Schlussendlich haben wir nebst der Verschriftlichung von Abläufen, dem Anlegen einer Sammlung von Vorlagen – und damit der Kollektivierung von Wissen zu rechtlichen Fragestellungen und Vorgehensweisen – auch angefangen, nach dem Treffpunkt nochmals kurz zusammenzukommen, ein protokolliertes Debriefing durchzuführen und so sicherzustellen, dass die anstehende Arbeit gut verteilt wird und nichts vergessen geht. Es scheint offensichtlich, dass ein Vertrauensverhältnis stark auf Zuverlässigkeit und Absprachefähigkeit beruht, es jedoch nicht immer einfach ist, alles auf dem Schirm zu behalten und die Leute gut zu begleiten. Dazu gehört auch, dass wir ausserhalb des Treffpunkts über unsere Emailadresse erreichbar sind, eine Kommunikation zu Fragen und Hilfestellungen in der Gruppe über Chats pflegen und so auch schneller reagieren können.
Das breite und teils sehr fundierte Wissen, das einige Aufgrund ihrer Ausbildung mitbringen, die meisten sich aber über die Arbeit am Solifon und im SolNet sowie jetzt bei Zürich Solidarisch erarbeitet haben, versuchen wir über einen Support Chat möglichst gut weiterzugeben. So können auch Unerfahrenere, die neuer zum aktiven Kern dazukommen, aber bereits Menschen beraten und begleiten möchten, Fälle übernehmen und wenn sie nicht weiterwissen, die Schwarmintelligenz der Gruppe nutzen, indem sie die Fragen im Chat stellen und diese dann auch sehr zuverlässig diskutiert und beantwortet werden. In den dreiwöchentlich stattfindenden Sitzungen des aktiven Kerns bei Zürich Solidarisch, die auch die Treffpunkte betreuen, nimmt deshalb auch immer der Bericht und die Diskussion von Fällen einen Teil der Zeit in Anspruch.
Obwohl wir viel Arbeit in das Ausarbeiten von Merkblättern und Leitfäden gesteckt haben, der Support bei Rechtsfragen gut funktioniert sowie auch diverse Anpassungen in unserer Beratungspraxis zu dokumentieren versuchen, merken wir immer wieder, dass es nicht ganz einfach ist für neue Leute dazuzukommen. Auch wird die Kritik immer wieder geäussert, dass wir uns qualitativ nicht genug entwickeln. Es scheint, dass wir manchmal zu wenig gut begründen, warum wir Dinge tun, wie wir sie tun und gerade Leute, die aus politik-aktivistischen Kontexten zu uns dazustossen gewisse Fragen aufgrund unserer offenen Struktur, sowie der starken Praxiszentrierung nicht beantwortet finden. Das führt dann dazu, dass Diskussionen vermeintlich immer wieder geführt werden müssen. Wir haben deshalb an der letzten Retraite[11] beschlossen, vermehrt noch auf die Auswertung von Kämpfen zu setzen, zu fragen: Was hat funktioniert und was nicht? Kommen die Leute wieder? Was sind Learnings? Dies soll in einer vereinheitlichten Form dokumentiert und abgelegt werden.
Voneinander lernen und Kontinuität über die Weitergabe von Wissen schaffen
Um dem Anspruch des Aufbaus von Gegenmacht und der Selbstorganisation von Arbeiter:innen möglichst gerecht zu werden, merken wir auch immer wieder, wie wichtig die Verknüpfung des Treffpunkts mit Gefäβen aus dem zweiten Grundpfeiler unserer Praxis ist, nämlich jenem der Weitergabe von Wissen in Form von Workshops und das Community Building bzw. die Vernetzung. Das Wissen, das die unterschiedlichen Leute haben und an verschiedenen Stellen in unserer Klasse vorhanden ist, soll weitergegeben und kollektiviert werden. Das kann ziemlich Unterschiedliches umfassen. So haben wir schon Gesamtarbeitsverträge[12] (GAV) genau angeschaut und vertragliche Situationen beispielsweise bei Temporärarbeit[13] gemeinsam analysiert.Es gab einen Arbeitslosentreff und eine Veranstaltung, zu der wir Leute eingeladen haben, die in der Reinigung arbeiten und bei der jemand aus der Reinigungsbranche über einen langwierigen und erfolgreichen Arbeitskampf erzählt hat. Dort war auch eine Gruppe von Reinigungsarbeiter:innen anwesend, die selbstorganisiert ihren Betrieb führen und darüber berichten konnten. Für den Frühling 2024 sind Schulungen dazu angedacht, wie Lohnabrechnungen kontrolliert werden können oder wie in Zürich die Quellensteuer funktioniert. Es ist uns wichtig, dass die Inhalte der Workshops die Anliegen, Interessen und Probleme von Arbeiter:innen abbilden und wir auch tatsächlich dort ansetzen, wo Bedarf besteht. Dazu kommt in diesem Teil unserer Arbeit der Aspekt des solidarischen Miteinanders beispielsweise in Erfahrungstauschformaten, in denen Vernetzung stattfindet und Wissen zu konkreten Arbeitskampfsituationen geteilt wird.
Wir haben aber auch einfach schon Filmabende durchgeführt zu Themen, die eine globale oder lokale Aktualität haben und die uns alle beschäftigen, wie beispielsweise zu Gentrifizierung und der Wohnungsnot. Durch diesen Teil unserer Praxis wollen wir einerseits das Netzwerk, das über den Treffpunkt einen sehr losen Zusammenhalt hat, stärken und konkrete Situationen oder Problematiken miteinander in einen Bezug setzen. Ausserdem bietet sich hier viel mehr als bei der Arbeit im Treffpunkt die Möglichkeit das wir-sie-Gefälle aufzubrechen und ein Miteinander zu gestalten.
Obwohl wir keine Kriterien dafür haben, wer bei uns mitmachen darf, so sind dennoch die meisten auch aus dem aktiven Kern – jene also, die die Beratungen durchführen und viele organisatorische Aufgaben übernehmen – ebenfalls Lohnabhängige und Mieter:innen. Ohne hier Unterschiede in Diskriminierungserfahrungen aufgrund verschiedener Positionen im Klassengefüge relativieren zu wollen, so gibt es über Lohnabhängigkeit und Miete doch wichtige Gemeinsamkeiten, die wir alle teilen und wo das voneinander Lernen in alle Richtungen funktioniert. In einem emanzipatorischen Prozess müssen wir alle Verbindungslinien zueinander erkennen und die eigene Erfahrung mit jener von anderen Lohnabhängigen, seien sie noch so unterschiedlich, in einen Zusammenhang setzen und vor der Realität der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse betrachten.
Wenn wir davon ausgehen – auch hier: das ist nicht eine diskutierte und beschlossene Gruppenmeinung, sondern die Einschätzung von involvierten Wobblies – dass es in allen Beschäftigungsverhältnissen aufgrund der kapitalistischen Organisation der Lohnarbeit Probleme und Anknüpfungspunkte für Widerstand gibt, dann ist das Zusammenkommen von Arbeiter:innen aus unterschiedlich privilegierten Segmenten der Klasse extrem wichtig, um voneinander lernen zu können. Denn Herrschaftstechniken werden zuerst in den am schlechtesten geschützten und meist unsichtbar gemachten Bereichen eingesetzt, die Menschen aus den am wenigsten privilegierten Segmenten haben weniger Zugang zu Ressourcen von bürgerlichen Staaten, sind mehr Repression ausgesetzt; ungelernte Arbeit ist einfacher ersetzbar und der Leidensdruck aber auch der Widerstand ist oft grösser.
Als reale Räume können wir so teilweise die sozialen Orte bieten, in denen explizit über die Situation bei der Arbeit oder als Mieter:innen gesprochen wird und die es so in vielen Zusammenhängen nicht mehr gibt. Je nach eigenem Beruf (und teilweise der allgemeineren Gestaltung des Lebens) sind die Beziehungen untereinander offensichtlicher – die Arbeiten sind direkter miteinander verbunden und haben unmittelbarer einen Einfluss aufeinander – oder weniger klar erkennbar. In der Veranstaltungs- und Vernetzungsgefässen erleben wir oft ein ehrliches Interesse aneinander und können solidarische Beziehungen kultivieren.
Wir stellen dabei nicht nur fest, wie Probleme mit dem Chef, der Vermieterin oder Behörden und Polizei Teile des proletarischen Alltags sind, sondern auch wie unfassbar divers die Arbeiter:innenklasse selbst ist und wie in ihrem Reichtum an Lebens- und auch Kampferfahrungen aber immer wieder die gemeinsam erlebte Ausbeutung durch die Klasse der Kapitalist:innen erkennbar ist. Durch unsere grosse Verbindlichkeit und die unzähligen Leute, die wir beraten, begleitet und teils in ihrer Organisierung unterstützt haben, kann schon gesagt werden, dass wir Kämpfe nicht nur zusammendenken, sondern sie tatsächlich auch als Gruppe zusammen kämpfen.
Gemeinsam auf die Strasse gehen
In diese Richtung zielt dann auch die dritte Hauptachse unserer Praxis: Auf das Durchführen von Aktionen und die gemeinsame Teilnahme an Demos oder Kundgebungen. Wir haben gemerkt, dass auch hier eine Verankerung in der Arbeit der ersten zwei Standbeine sehr wichtig ist und wir zwar mehrmals eine Unterteilung dieser verschiedenen Arten von Praxis in beispielsweise unterschiedliche Arbeitsgruppen diskutiert haben.Jedes Mal haben wir uns jedoch gegen diese Unterteilung entschieden, weil wir die Legitimation für Aktionen eigentlich in der Basisarbeit sehen und dies nicht unabhängig voneinander geplant und gemacht werden kann. Konkret bedeutet das, dass wir bei Beratungen und in der gruppeninternen Diskussion von Fällen, Aktionen immer auf dem Schirm haben, dass wir evaluieren, mit welchen Anliegen Menschen gerade oft zu uns kommen und dann auch, dass wir vorgängig zu Aktionen oder der Teilnahme an Demos Veranstaltungen zu einer gewissen Thematik durchführen und so unser Netzwerk mobilisieren.
Manchmal kommt es auch vor, dass sich Leute oder Gruppen eine Begleitung beispielsweise zum Gerichtstermin oder zu einem Hausbesuch bei der:m Chef:in wünschen. Auch die Zusammenarbeit mit Medien, seien das Zeitungen oder auch unsere social media Kanäle, fällt in diese Art von Arbeit. Hier zeigt unser Worker Center auch klar Merkmale eines solidarischen Netzwerks (SolNet). Ein SolNet versteht unabhängig von Wohn- oder Arbeitsort alle Arbeiter:innen als potentielle Mitkämpfende gegen Bosse, Hausbesitzende und Kapitalist:innen[14] und vermag das Netzwerk einzelner Personen oder Gruppen für Aktionen und Kämpfe rund um spezifische Anliegen zu mobilisieren.
Widersprüche in der Klasse anerkennen, aushalten und zur eigenen Weiterentwicklung nutzen
Was wir bislang nicht wirklich schaffen, ist, dass Leute, die wir über einen Erstkontakt beim Treffpunkt in einer Beratung kennenlernen und die vielleicht auch zu Veranstaltungen kommen oder beim ersten Mai mit uns zusammen in der Demo laufen, in die Kerngruppe von Aktiven integrieren können. Das mag einerseits daran liegen, dass dies die Teilnahme an Sitzungen und doch einiges an Organisatorischem beinhaltet andererseits daran, dass die zeitlichen Ressourcen knapp sind oder auch daran, dass wir noch keine klare Sprache gefunden haben um den Leuten zu vermitteln, dass wir uns dies wünschen würden. Dazu kommen Hindernisse wie die Sprache – unsere Sitzungen und auch die Dokumentation sind bislang ausschliesslich auf Deutsch, ein Grossteil der Leute, die zum Treffpunkt kommen sprechen aber andere Sprachen – und vielleicht doch auch eine Art Szenehabitus der für Leute ausschliessend wirken kann, gerade bei Sitzungen. Was wir aber sehr gut abdecken können ist die Mehrsprachigkeit beim Treffpunkt und die Übersetzung bei Veranstaltungen, um zumindest dort Hindernisse abzubauen.In unserer Basisarbeit – sei das im Format des Treffpunkts und den Beratungen oder bei gemeinsamen Veranstaltungen und Workshops – wird deshalb jedoch manchmal auch etwas schmerzlich klar, wie schwierig es sein kann, sich immer wieder mit Widersprüchen in der eigenen Klasse auseinanderzusetzen und diese aushalten zu lernen. Wir treffen uns in unserer täglichen Arbeit immer wieder in Situationen an, in denen Machtverhältnisse innerhalb der Klasse auf verschiedene Arten zum Ausdruck kommen. Zu Unterschieden in materiellen Bedingungen und dem Zugang zu Ressourcen kommen ideologische und politische Differenzen, diskriminierende Vorurteile gegeneinander, Gewalterfahrungen und Unterdrückung aufgrund von persönlichen Merkmalen ausgehend von anderen Teilen der Klasse.
Die Gleichzeitigkeit des Anspruchs stets die Selbstbestimmung der Betroffenen ins Zentrum zu stellen und uns mit allen Arbeiter:innen zu solidarisieren und gewissen Haltungen und Grundsätzen, die man selber vertritt treu zu bleiben, ist nicht immer ganz einfach. Wenn sich in einer Begegnung jemand nicht wohl fühlt, versuchen wir es zunächst so zu handhaben, dass eine andere Person, die vielleicht besser mit dem Widerspruch umgehen kann, die weitere Zusammenarbeit übernimmt – ausser es betrifft konkrete Vorfälle, die in den Räumlichkeiten des Klicks oder gegen Personen unserer Gruppe gerichtet passiert sind und grundsätzlich unsere Werte wie die Diskriminierungsfreiheit verletzen. Dieser Fall ist aber noch nie eingetreten. So gab es beispielsweise einen Fall, wo eine Person von einer Kündigung bedroht war, weil sie sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollte.
Einige Leute aus der Kerngruppe fanden dies sehr unsolidarisch und auch die Argumentationsweise der Person problematisch. In diesem Fall konnten wir das Problem lösen, indem jemand, der darüber eher hinwegsehen konnte, die weitere Betreuung dieser Person übernahm und uns auf den gemeinsamen Nenner der Selbstbestimmung gegenüber dem Chef stellten. Eine weitere Person war zur gleichen Zeit, in der sie bei uns öfter vorbeikam und aktiv einen Fall vorantrieb mit Vorwürfen von Gewalt gegen die Ehefrau konfrontiert, die zum jetzigen Zeitpunkt vor Gericht verhandelt werden. Als Feminist:innen fällt die weitere Zusammenarbeit mit dieser Person schwer und wir müssen uns zu gegebener Zeit damit auseinandersetzen, ob wir die Einbindung der Person und ihrer Erfahrung in diesem Kampf als höher gewichten oder es als unsolidarisch erachten, weiterhin eine Zusammenarbeit mit ihr zu suchen und sie beispielsweise aktiv zu einem Workshop einzuladen.
Das Wissen um die Widersprüche und die damit einhergehenden Schwierigkeiten bestärken aber nicht den Wunsch nach Abkehr von Basisarbeit. Denn einerseits ist die Erfahrung der Bereicherung im Kontakt mit unterschiedlichen Menschen einiges stärker als der Frust, der sich manchmal einstellt. Zudem haben wir viele Ideen, wie wir uns verbessern, Gespräche klarer führen und Menschen besser einbeziehen können. Dazu gehören sicher: bessere Planung und Dokumentation; der (noch) stärkere Fokus auf Vernetzungsarbeit und Beziehungsaufbau; der Ausbau des «sozialen Angebots» während des Treffpunkts und auch ausserhalb; gewisse digitale Kanäle besser nutzen zu lernen; die Auseinandersetzung mit Organizingkonzepten und Gesprächstechniken und das Etablieren eines Buddy-Systems für Leute, die sich für verbindliche Mitarbeit interessieren, um den Wissensverlust kleiner zu halten. Wir haben festgestellt, dass Basisarbeit, die nicht primär einen karitativen, sondern einen politischen Charakter hat, stark über den Aufbau von solidarischen Beziehungen funktioniert.
Im Kontakt mit ganz fremden Menschen braucht es mehr als etwas Rechtskenntnisse und gut gemeinte Ratschläge von aussen, damit die Leute wirklich den Mut aufbringen und motiviert sind, sich zusammenzuschliessen und zu kämpfen und damit sie nebst ihren alltäglichen Verpflichtungen noch die Zeit aufbringen wollen, immer wieder vorbeizukommen und auch über einen (individuellen) Kampf hinaus dabeizubleiben. Wenn dazu noch der Aspekt kommt, dass es in vielen Fällen augenscheinliche biographische Unterschiede gibt zwischen den Leuten, die Beratungen durchführen und jenen, die diese in Anspruch nehmen, sind neben Kontinuität und Verlässlichkeit, die Möglichkeit sich zu treffen, zusammen Zeit zu verbringen, sich kennenzulernen und Gespräche zu führen für eine ehrlich gemeinte Begegnung auf Augenhöhe sehr wichtig. Dies ebenfalls immer wieder zu evaluieren und auch in Momenten von Ungeduld nicht über Bord zu werfen, stellt immer wieder eine grosse Herausforderung dar.
Ein anderer Punkt, den wir vermehrt verfolgen wollen, ist unsere aktivere Mitarbeit in einem überregionalen Bündnis von revolutionären Basis- und Stadtteilprojekten, wo wir zwar schon seit dessen Gründung dabei sind, jedoch erst seit kürzerer Zeit die Kapazität finden, solche Treffen auch aktiv mitzugestalten. Wir können sehr viel von anderen lernen und merken in diesem Austausch auch immer wieder, wie weit wir schon gekommen sind, wie viel wir zum besseren überarbeitet haben und wie viel vergleichsweise doch ganz gut funktioniert bei uns. Zudem ist über solche Treffen auch eine Ausweitung unseres Netzwerks möglich und somit unsere Stärke eher spürbar. So haben wir schon mehrmals Leute an uns verwiesen bekommen, die aus einer anderen Region umgezogen sind oder einfach ein Projekt in einer anderen Stadt kannten, für die aber unser Treffpunkt viel näher liegt. Wir konnten Leute einladen, um ihre Arbeitskampferfahrungen mit uns zu teilen oder wir konnten Netzwerke bei Aktionen in ihren Städten solidarisch unterstützen.
Sich vernetzen
Wir sehen in unserer Praxis beziehungsweise der zentralen Stellung dieser im ganzen Projekt und in unserer Vorgehensweise zwar oft die viele mühselige Arbeit, stellen jedoch immer wieder fest, dass es aktive Versuche sind den im Minimalkonsens formulierten Ziele eine Realität zu geben. Dazu kommt, dass wir nach heute, nach über dreijährigem Bestehen, sagen können, dass in unserem Ansatz an sich ein emanzipatorisches Moment liegt, insofern, als dass in der anfänglich bewusst offengelassenen Leerstelle in vielen strategischen und theoretischen Punkten – also der Entscheidung, nicht zuerst Konzepte zu erarbeiten und zu definieren, wie wir was warum tun müssen – eine grundsätzliche Offenheit liegt, die sich der emanzipatorische Klassenkampf in den aktuellen Gesellschaftsverhältnissen unbedingt bewahren muss.Denn allerlei Bestrebungen diesen voranzutreiben müssen beinhalten, dass wir unsere Strategien, Taktiken und Bedingungen immer wieder neu untersuchen und herauszuarbeiten versuchen, was funktioniert und was nicht. Wir sehen unsere Arbeit unter dem Aspekt dieses Grundgedankens des Ausprobierens als einen wichtigen Beitrag zu einer von vielen verschiedenen Akteur:innen gemachten Suchbewegung.
Sicherlich sind Erkenntnisse, die wir hier in Zürich treffen nicht überall und unter allen möglichen denkbaren Umständen gültig. Uns ist bewusst, dass der Aufbau von nachhaltigen Strukturen und von Gegenmacht nicht als statische Konzepte zu verstehen sind, die mit einem universellen Anspruch auf unterschiedliche Segmente unserer Klasse nur schon hier, geschweige denn darüber hinaus, angewendet werden können. Der Fokus auf unsere Praxis und damit auch auf den Aufbau von solidarischen Beziehungen zwingt uns dynamisch zu bleiben.
Die Auseinandersetzungen mit dem frustrierenden Kleinen in der alltäglichen Arbeit, ohne dabei das grosse Ganze aus den Augen verlieren zu dürfen, ist vermutlich anstrengender als klassische bewegungspolitische Szenearbeit. Es ist sicher auch einiges weniger sexy als sich mit Gleich- oder zumindest Ähnlichgesinnten zwar schöne, aber oft etwas unpraktische Szenarien der Revolution auszumalen und diese teils auf eine Weise zu beschwören, die keinerlei Anknüpfungspunkte zur gelebten Realität der meisten Menschen hat.
Die so erzeugte Offenheit aushalten zu können ohne uneindeutig zu werden und sich mit Menschen, von denen zunächst nicht mal ganz klar ist, ob sie unsere Ziele überhaupt gutheissen, in Suchbewegungen hineinzubegeben ist mühsam und erfordert einen langen Atem, ist unserer Meinung nach aber absolut notwendig. Denn nichts führt an der Auseinandersetzung mit möglichst vielen Teilen unserer Klasse und dem Aufbau von tatsächlich solidarischen Beziehungen vorbei, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.[15]