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Marco Camenisch: Bald ist er nur noch nachts im Gefängnis

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Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand Bald ist er nur noch nachts im Gefängnis

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Politik

Seit 1991 sitzt er hinter Gittern – länger als fast jeder andere Gefängnisinsasse. Jetzt darf Marco Camenisch in den Ausgang.

Graffiti in Zellenwand des Gefängnisses Berlin-Köpenick: Verschiedene Inschriften. Mitte oben: «Im dunklen
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Graffiti in Zellenwand des Gefängnisses Berlin-Köpenick: Verschiedene Inschriften. Mitte oben: «Im dunklen Foto: Denis Barthel (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 29. August 2016
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Der als «Öko-Terrorist» bekannt gewordene Camenisch ist trotz «guter Führung» nach zwei Dritteln der Haft nicht frei und auch seither nie aus dem Gefängnis gekommen, weil er seine politische Haltung nie geändert hat. Erst seit Mai dieses Jahres durfte er erstmals zuerst begleitet und jetzt auch unbegleitet für einige Stunden aus dem Gefängnis. Im kommenden Herbst soll Camenisch nur noch nachts im Gefängnis verbringen müssen und tagsüber einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Eine Stelle habe man ihm vermitteln können, berichtet die NZZ am 22. Juli.

Der verstorbene Publizist Kurt Brandenberger hat letztes Jahr eine Biografie über Camenisch veröffentlicht. Auf die Frage, ob sich Camenisch auf seine stufenweise Freilassung freue, antwortete Brandenberger:

«Camenisch wird 66 Jahre alt sein und mehr als die Hälfte seines Lebens auf der Flucht und im Gefängnis verbracht haben, wenn er am 8. Mai 2018 endgültig entlassen wird. Freut er sich? Die Skepsis überwiegt. «Bleibe ich gesund? Werden sie mich doch noch verwahren? Wie wird es draussen sein? Wo werde ich leben? Mit wem? Was werde ich tun?» Das sind die Fragen, die ihn umtreiben. Pläne will er keine schmieden.»

Das folgende Interview hat Infosperber am 9. April 2015 mit dem Biografie-Autor Kurt Brandenberger geführt.

Marco Camenisch schmiss das Gymnasium und jobbte als Kuhhirt auf der Alp. Er lebte in Kommunen, las anarchistische Traktate, wurde Vater – und zog in den bewaffneten Kampf für eine Welt ohne Herrschaft. Aus Protest gegen Atomkraftwerke und gegen Staudämme sprengte er Anlagen der Elektrizitätskonzerne. Er wurde drakonisch bestraft, konnte fliehen, tauchte ab. Ein Jahrzehnt später wurde in Brusio ein Grenzwächter erschossen – und Marco Camenisch in einem Indizienprozess als Täter verurteilt.

Kurt Brandenberger hat Camenisch während drei Jahren im Gefängnis besucht, seine Tochter und seine Ehefrau getroffen sowie mit Genossen und Gefährtinnen gesprochen.

Infosperber: Wie kam die Biografie zustande?

Brandenberger: Im Mai 2012 habe ich Marco Camenisch erstmals im Gefängnis besucht. Die Gespräche mit ihm, mit Komplizen, Weggefährten, Ehefrau, Tochter, Lehrern, Strafverfolgern, Gefängnisverantwortlichen etc., sowie das Studium von Gerichts- und Polizeiakten, die Einsicht in sein Tagebuch und in seine Briefe, und schliesslich das Schreiben des Textes, dauerten drei Jahre.

Wie oft warst Du bei Camenisch im Gefängnis?

Über zwanzigmal. Meist dauerten die Gespräche drei Stunden. Bei den ersten beiden Besuchen haben wir uns kurz «beschnuppert»: Hier der Journalist, der in jungen Jahren wegen Militärdienstverweigerung ein halbes Jahr im

Knast sass und der empfänglich war für die Lehren von Marx und Engels, es sich dann aber im bürgerlichen Leben gut eingerichtet und sich in den Rahmen der geltenden Rechtsordnung eingepasst hat. Dort der Gewalttäter und Anarchist, der mit Sprengstoff und mit der Waffe in der Hand den Staat zu Fall bringen will und der seit 23 Jahren ununterbrochen hinter Gittern sitzt.

Wie verliefen die Gespräche? Wie war die Konfrontation mit einem Menschen, für den der bewaffnete Kampf erklärtermassen das Wichtigste ist im Leben?

Oft haben wir uns gut verstanden. Die Gespräche waren aber manchmal auch zäh und quälend. Wir haben auch gestritten. Und im November, nachdem ich ihm das Manuskript des Buches zum Gegenlesen überlassen hatte, wollte er mich nicht mehr sehen, hat mir weitere Besuche untersagt und mir geschrieben, aufgrund «unüberbrückbarer Widersprüche» müsse das Projekt «Biografie» abgebrochen werden, eine Publikation komme nicht in Frage. Es brauchte sehr viel Überzeugungskraft seines Anwaltes Bernard Rambert, damit Marco auf seinen Entscheid zurückkam und wir die Arbeit fortsetzen konnten.

Welche Inhalte hat Camenisch zensuriert?

Einige Passagen aus Briefen, weil ihm diese zu persönlich waren. Auch ein paar Einzelheiten über die Jahre auf der Flucht und im Untergrund, sowie Aussagen zu Attentaten in Italien hat er gestrichen, mit der Begründung, durch diese Informationen könnten Strafverfahren wieder aufgenommen und Komplizen gefährdet werden.

Gab es ein Thema, das Tabu war, über das er nicht sprechen wollte mir Dir?

Reden konnte ich mit ihm über alles, nachdem sein anfänglich starkes Misstrauen mir als «scheissbürgerlichem Journalisten» gegenüber kleiner geworden ist. Eine Ausnahme gibt es: Der Mord am Grenzwächter in Brusio. Dieses Tötungsdelikt, für das er in einem Indizienprozess 2004 schuldig gesprochen wurde, hat Camenisch von Anfang an als Gesprächsstoff ausgeschlossen, mit der Begründung: «Ich bin nicht der Täter». Auch bei andern Themen, insbesondere wenn es um Gewalt ging, haben wir uns manchmal kurz gefasst, weil wir gespürt haben, dass unsere Positionen zu weit auseinander liegen. Bei allen meinen Gesprächen mit Marco habe ich mich von einem Satz leiten lassen, den der persische Dichter Rumi im 13. Jahrhundert geschrieben hat: «Weit weg von unseren Vorstellungen über richtig und falsch ist ein Feld, ich treffe dich dort.» Auf einem solchen Feld bin ich Camenisch begegnet.

Warum hat Camenisch mitgemacht und ist an der Veröffentlichung des Buches interessiert?

Als das Bundesgericht Anfang 2012 die bedingte Entlassung nach zwei Dritteln der Strafzeit abgelehnt hatte, d.h. als klar wurde, dass er mindestens weitere vier Jahre eingesperrt bleibt und damit wahrscheinlich der am längsten einsitzende Sträfling in der Schweiz sein wird, wollten zahlreiche Medien mit ihm sprechen. Doch Camenisch blieb bei seiner Haltung: «Kein Gespräch mit Journalisten». Es ist seinem Anwalt Rambert dann gelungen, seinen Mandanten für eine Biografie zu gewinnen. Camenisch hat von Anfang an keinen Nutzen gesehen in der Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte. Aber weil sein Anwalt und einige Genossen ihm immer wieder zugeredet haben, und er in mir – seinem Biografen – nicht nur den «scheissbürgerlichen Schreiberling» sah, habe er – wie er mir erklärte – «diese Pflichtübung» auf sich genommen, ohne einen Vorteil zu erkennen für sich persönlich oder für die Sache des bewaffneten Kampfes.

Kennen die Verantwortlichen des Gefängnisses und die Strafvollzugsbehörden den Inhalt des Buches?

Nein. Aber die Gefängnisdirektion von Lenzburg stand von Anfang an hinter dem Projekt. Vielleicht sahen sie in den Gesprächen zwischen Camenisch und mir einen kleinen Beitrag zur «Delikt- und Vergangenheitsbewältigung» für einen Sträfling, der sich als Anarchist jedem Gespräch mit Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern oder andern Amtspersonen kategorisch verweigert.

Welches waren Deine Motive, dieses Buch zu schreiben?

Ich war als junger Journalist bei der linksliberalen Basler Nationalzeitung Korrespondent für den Kanton Solothurn und hatte in dieser Funktion über die Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk Gösgen zu berichten. Es gelang mir als Journalist weitgehend, meine Sympathie für die AKW-Gegner zu verbergen, auch für den militanten Flügel des Widerstandes, deren Aktivisten zahlreiche Sabotagen verübten und nie erwischt wurden – anders als im Bündnerland, wo Marco Camenisch und sein Komplize René Moser als Sprengstoffattentäter von Anlagen der Elektrizitätswirtschaft überführt und vor Gericht gestellt wurden.

Seit dieser Zeit, Ende der 70er-Jahre, habe ich den Weg des sogenannten Ökoterroristen Camenisch verfolgt: Das drakonische Urteil von 10 Jahren Zuchthaus, seine spektakuläre Flucht aus Regensdorf, bei dem ein Aufseher getötet wurde, die Ermordung des Grenzwächters in Brusio, die erneute Flucht, die Verhaftung nach einer Schiesserei mit Carabinieri in der Toskana und schliesslich der Geschworenenprozess in Zürich, wo Camenisch zu 27 Jahren verurteilt wurde, ein buchstäblich «irres», in der Schweizerischen Rechtssprechung beispielloses Strafmass.

Für wen ist das Buch besonders interessant?

Für alle, die gerne Schweizer Krimis lesen, die am Leben, den Taten und den Irrtümern eines politischen Aussenseiters interessiert sind, die eine Leidenschaft haben für tragische Liebesgeschichten, die Schilderungen schicksalhafter Fügungen und widersprüchlicher Menschen mögen, die wissen wollen, wie es ist, jahrein und jahraus in einer engen Gefängniszelle eingesperrt zu sein.

Interessant ist die Biografie auch für jene, die glauben, in der Schweiz gebe es keine politischen Gefangenen. Die Lebensgeschichte Marco Camenischs ist aber auch eine Chronologie der 70er- und der 80er-Jahre, mit ihren Anti-AKW-Kämpfen, den Autonomen Jugendzentren, den Krawallen und Kulturhappenings der Jugendbewegung, den Häuserbesetzungen, dem Trend, sich auf der Alp in Kommunen eine selbstverwaltete Existenz aufzubauen, der Verfilzung von Staat, Wirtschaft und Justiz und dem Widerstand gegen den Schnüffelstaat, gegen Isolationshaft, gegen Berufsverbote und gegen Umweltzerstörung.

Freut sich Camenisch auf seine Freilassung? Hat er Pläne?

Camenisch wird 66 Jahre alt sein und mehr als die Hälfte seines Lebens auf der Flucht und im Gefängnis verbracht haben, wenn er am 8. Mai 2018 entlassen wird. Freut er sich? Die Skepsis überwiegt. «Bleibe ich gesund? Werden sie mich doch noch verwahren? Wie wird es draussen sein? Wo werde ich leben? Mit wem? Was werde ich tun?» Das sind die Fragen, die ihn umtreiben. Pläne will er keine schmieden.

Red. / Infosperber

Kurt Brandenberger: Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand. Echtzeit-Verlag, April 2015. 208 Seiten. 29 CHF, ISBN 978-3-90580-092-0