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Zürich: Kreis 13 – Eine andere Stadt ist möglich

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Vernetzung statt Verdrängung Zürich: Kreis 13 – Eine andere Stadt ist möglich

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Politik

Die Stadt ist ein umkämpftes Feld: Alles wird sauberer, überwachter, teurer. Globale Player, Investor:innen und Immobilienkonzerne maximieren die Profite und der Staat bietet Hand.

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Foto: zVg

Datum 23. September 2024
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Wir haben uns selbstbestimmt die Kasernenwiese genommen, um zu zeigen: Eine andere Stadt ist möglich. Denn sie existiert bereits: An diesem Wochenende, an diesem Ort, wo wir revolutionären Herzens Ideen austauschen, uns informieren, organisieren und verbünden können. Wir bleiben und wir kämpfen – gegen kapitalistische Stadtaufwertung!

Dieses Areal und das Quartier, in dem es sich befindet, stehen exemplarisch für Gentrifizierungsprozesse. Die Verdrängung vieler Bewohner:innen aus der Stadt an ihre Ränder nimmt zu. (Rassistische) Polizeikontrollen sind überall sichtbar. Wer nicht genug Geld hat und nicht ins Bild passt, muss gehen – raus dem Quartier, raus der Stadt.

Wir lassen uns nicht verdrängen

Der gesamte soziale Charakter dieses Stadtteils verändert sich. Viele ehemalige Bewohner:innen von Aussersihl (Kreise 4 und 5) wurden bereits in Aussenquartiere wie Schwamendingen, Seebach oder Affoltern gedrängt. Mittlerweile werden auch diese Viertel zusehens aufgewertet. Mehr und mehr der heutigen Mieter:innen sind gezwungen ihre Nachbar:innenschaft zu verlassen, ihren Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verschieben. Viele von ihnen arbeiten in sogenannten systemrelevanten Berufen im Niedriglohnsektor in der Stadt, durch die Verdrängung müssen sie immer längere Arbeitswege in Kauf nehmen oder sogar ihren Job wechseln.

Auch hier auf dem Kasernenareal sind Mieter:innen betroffen. Getarnt als «Übergabe des Areals an die Stadtbevölkerung», wird wohl auch dieses zu einem weiteren Aufwertungsmotor im Quartier. Die aktuellen Mietverträge laufen voraussichtlich 2025 aus. Und obwohl sie der offiziellen Leitidee von Stadt und Kanton entsprechen würden – es sind kulturelle Nutzungen, kleinere Gewerbebetriebe und Projekte mit sozialer Ausrichtung –, sollen sie weg. Um Platz für Angebote zu schaffen, die finanzkräftigere Neuzuzügler:innen anziehen. So wird der Stadtteil weiter aufpoliert.

Es ist anzunehmen, dass sich auch hier das geplante Zukunftsprojekt nicht an den Wünschen langjähriger Anwohner:innen orientieren wird. Gut möglich, dass schon bald langweiliger, hipper und konsumorientierter Einheitsbrei einzieht. Denn solche Verdrängungsprozesse, wie sie sich in diesem Quartier, in dieser Stadt – und vielen anderen Städten weltweit – abspielen, wiederholen sich stets nach demselben Muster.

Eine kleine Quartiergeschichte

Nachdem die Arbeiter:innen Mitte des 19. Jahrhunderts trotz tobenden Widerstands aus dem Kreis 1 verdrängt wurden, wurde Aussersihl zum neuen Zürcher Arbeiter:innen-Quartier. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögen von 556 Franken lebte hier die ärmste Bevölkerung. Im Villenvorort Enge, am anderen Ende der Skala, betrug das Durchschnittsvermögen 9440 Franken.

In Aussersihl durchschnitt die Eisenbahnlinie das Quartier. Die Häuser waren in einem schlechten baulichen Zustand. Es entstand ein sich selbst verstärkender Prozess: Weitere Billigimmobilien wurden für kleine Einkommen und grösstmögliche Ausnützung gebaut, während die staatlichen Behörden nur minimal in die öffentliche Infrastruktur von Aussersihl investierten, was zur weiteren Abwertung des Stadtteils beitrug. Emmissionsreiche Anlagen wollte man den Reichen in ihren glänzenden Quartieren nicht zumuten, sondern siedelte sie dort an, wo die Stadt ohnehin schon laut und dreckig war. Im Zuge dieser Dynamik wurde dieses Areal in den 1860er-Jahren für den Bau der Militärkaserne ausgewählt.

Nach dem 2. Weltkrieg sollte dann das ganze Gebiet rund um die Langstrasse platt gemacht und neu gebaut werden: Entlang der neuen Verkehrsplanung («Projekt Ypsilon») sahen die Baupläne ein Geschäftszentrum mit Hochhäusern und mächtigen Baublöcken vor, die Überbauung sollte weit über Aussersihl hinaus reichen. Doch im Zuge der Wirtschaftskrise in den 1970er-Jahren wurde die Umsetzung des «Projekt Ypsilon» gestoppt. Der Verkehr quälte sich über Provisorien weiterhin durch die Strassen. Die Quartierentwicklung wurde auf Eis gelegt, der Baubestand vernachlässigt.

Nach dem Auszug des Militärs Mitte der 1980er-Jahre wurde die Kaserne von der Kantonspolizei genutzt. Diese erbaute auf der einen Hälfte der Exerzierwiese 1994 das Propog – das provisorische Polizeigefängnis. Vordergründig gebaut, um Drogendealer:innen zu inhaftieren, wurden darin zusehends Menschen in Ausschaffungshaft weggesperrt. Denn die neu eingeführten «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» erforderten auch höhere Haftkapazitäten. Und: Provisorisch war an diesem Gitterhaus gar nichts. Es blieb in Betrieb, bis die Kantonspolizei 2022 ins riesige Polizei- und Justizzentrum (PJZ) umzog.

Noch Anfang der 2000er-Jahre war Aussersihl der ärmste der zwölf Stadtkreise, ein multikulturelles, geschäftiges Quartier. Über mehr als hundert Jahre hinweg war es ein Ort der Selbstorganisation der Arbeiter:innenbewegung. In Ansätzen ist es das auch heute noch. So dient der «Helvetiaplatz» (heute Ni-Una-Menos-Platz) weiterhin als wichtiger Besammlungspunkt für Demonstrationen und Kundgebungen. Diverse politische Vereine und Organisationen haben bis heute ihre Lokale im Quartier. Die Sexarbeit, der Drogenhandel und -konsum sind noch nicht ganz aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Das Nachtleben, das bis Mitte der 2000er-Jahre tendenziell zur Aufwertung beitrug, bremst diese heute wegen des Lärms ein Stück weit aus. Trotzdem, die Verdrängung nimmt zu.

Wer hat, zieht ein

Zunehmend richten sich Vielverdienende in überteuerten Wohnungen in der Nähe der Langstrasse ein. Sie wollen am Puls des urbanen Lebens sein und stören sich gleichzeitig daran. Vierzig Prozent der Quartierbewohner:innen verdienen immer noch weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens in der Stadt. Sie können die absurd hohen Mieten nicht bezahlen. Der Ausländer:innenanteil reduzierte sich in den letzen dreissig Jahren um zehn Prozent, und die kleinen Handwerks- und Gewerbebetriebe in den Erdgeschossen werden immer weniger.

Auf der anderen Seite kaufen Konzerne, die sich die hohen Boden- und Quadratmeterpreise leisten können, gleich mehrere Liegenschaften gleichzeitig auf, spekulieren mit ihnen, schlagen Profit daraus. Der Quadratmeterpreis hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre verdreifacht. Internationale Unternehmen wie Google, die sich zunächst an der Europaallee niedergelassen haben, mieten mittlerweile auch Büros mitten im Quartier. Die Luxus-Sanierungen und der Ersatzneubau von einst günstigen Wohnungen gehen weiter. An die Stelle von vergleichsweise bezahlbarem Wohnraum treten AirBnB's für 1200.- Franken pro Nacht oder möblierte 2-Zimmer-Wohnungen für bis zu 5200.- Franken im Monat.

Eine entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung spielen die Stadt Zürich selbst und der Bundesbetrieb SBB. 2001 initiierte die Stadt das Projekt «Langstrasse plus». Ihr Ziel: Die Langstrasse lebenswerter, sauberer und sicherer zu machen – mit der Bekämpfung von Drogenhandel, Drogenkonsum, Sexarbeit und Graffiti. Dazu wurde unter anderem die Polizeipräsenz massiv erhöht und die Umgebung als Geschäftsstandort etabliert. Einige Anwohner:innen befürworteten die Massnahmen zunächst; doch nun führt das Ausmass der Aufwertung zunehmend zu ihrer Verdrängung. Die Stadt verbuchte derweil zehn Jahre später «Langstrasse plus» als Erfolg und beendete das Projekt.

Hinzu kommt: Nach einem seit den sechziger Jahren andauernden politischen Tauziehen, konnten die SBB in den 2010er-Jahren mit der Vergoldung ihres Grundstücks zwischen HB und Langstrasse beginnen – die Europaallee entstand. Nach und nach wurden die verschiedenen Bauprojekte realisiert und bezogen. Neben der «fancy» Einkaufspassage fanden auch mehrere Bürokomplexe für die UBS, Credit Suisse und Swisscanto, sowie 400 hochpreisige Eigentums- und Mietwohnungen Platz. Die grösste Mieterin ist seit Anfang 2015 Google. Ohne die Pendler:innen des Hauptbahnhofs nicht lebensfähig, verbindet diese Betonschlucht seitdem den Kreis 1 mit Aussersihl und trägt damit enorm zur Gentrifizierung der angrenzenden Nachbar:innenschaft bei.

Wir tragen eure Krise nicht!

Alles wird sauberer, überwachter, teurer. Globale Player, Investor:innen und Immobilienkonzerne maximieren die Profite und der Staat bietet Hand. Durch kapitalistische Stadtaufwertung werden die herrschenden Machtverhältnisse aufrecht erhalten – patriarchale und koloniale Strukturen in der Gesellschaft reproduziert und gefestigt. Das sind direkte Angriffe auf die sozialen Verhältnisse der lohnabhängigen Stadtbevölkerung, direkte Angriffe auf die ohnehin schon unsicheren Lebensbedingungen vieler Menschen in dieser Stadt.

Doch so alt wie die Geschichte von Gentrifizierung und Verdrängung, so alt ist auch die Geschichte der Kämpfe dagegen. Widerstand heisst von «unten» nach «oben» zu treten – er trat und tritt in vielen Formen: Von den Sprengstoffanschlägen in den achtziger Jahren bis zu Haus- und Platzbesetzungen; von Demonstrationen über parlamentarische Vorstösse bis hin zu Mietkämpfen; vom «Reclaim the Streets»-Umzug, der 2014 als Scherbendemo durch die Europaallee zog, bis heute, wo in den letzten Monaten und Jahren immer wieder tausende Menschen gegen Wohnungsnot und Mietenwahnsinn auf die Strasse gingen. Diese Krise, wie wir sie im Moment erleben, muss nicht sein!

Weil die Ursachen der Wohnkrise lokalisierbar sind, können wir – auf allen möglichen Ebenen – etwas dagegen tun. Wir können solidarische Strukturen aufbauen. Uns damit beschäftigen, wie Verdrängung Care-Netzwerke aushöhlt – und uns fragen, wie sich stattdessen Fürsorge und Verantwortung gerecht verteilen lassen. Gegen Gentrifizierung zu kämpfen, das heisst auch, uns gegen die zunehmende Überwachung und die (rassistischen) Polizeikontrollen in unseren Quartieren zu wehren. Eine Politik gegen den Mietenwahnsinn bedeutet auch, dafür einzustehen, dass wir Wohnraum und Nachbar:innenschaft so organisieren, dass ein schönes Zuhause und ein gutes Leben für alle möglich ist.

Es ist Zeit für ein neues Kapitel. Deshalb sind wir heute hier, im Zentrum dieser Stadt.
  • Kein Tag länger Kapitalismus!
  • Kein Profit mit Boden und Miete – Immobilienkonzerne enteignen!
  • Wohnraum für alle – die Häuser denen, die sie bewohnen!
  • Für eine selbstbestimmte und kollektive Stadtentwicklung!
  • Für ein selbstorganisiertes Zürich, ohne Überwachung, Polizei und Gefängnisse!
  • Abrisswahn stoppen, Co2-Emissionen senken – für ein klimaverträgliches Bauen und Wohnen!
  • Für ein sicheres Zuhause und ein gutes Leben für alle!

pm