Oerlikon. Von Baulärm untermalt reckt sich der Andreasturm bedrohlich hinter den Gleisen empor. Obwohl noch nicht fertig, versprüht er bereits den diskreten Charme von Anzügen und Champagnergläsern. Kein Wunder, stammt dieses Prachtexemplar neoliberaler Stadtaufwertung doch von denselben Architekt*innen, die schon den Primetower entworfen haben. Der Andreasturm ist ein Projekt der SBB-Immobilien. Die SBB-Immobilien haben den Leistungsauftrag, Profit für die eigene Kasse zu machen. Dies tun sie aber mit städtischem Boden und mit Beseitigungen baurechtlicher Hürden durch die Stadt. So bemängelt zum Beispiel auch die Architekturzeitschrift Hochparterre, dass die SBB-Immobilien in diesem – wie auch in vielen anderen Fällen – als Staatsbetrieb von der Öffentlichkeit profitieren, dieser aber nichts zurückgebe (z.B. mit Genossenschaftswohnungen). Abgesehen von 20'000 m2 Büroflächen schafft die SBB weitere Raumangebote für Verkauf und Gastronomie.
Die Beschreibung des Andreasturms liest sich wie ein neoliberaler Traum. Er sei repräsentativ in der Ausstrahlung, flexibel nutzbar und optimal zu erreichen. Anders sieht das eine Passantin mit Kinderwagen: «Was sicher ist, ist dass es viel mehr Verkehr geben wird und das Oerlikon voller wird. Wie und ob die Quartiere negativ beeinflusst werden, kann ich im Moment zwar noch nicht sagen, aber denkbar ist es. Und kinderfreundlich ist der vermutlich auch nicht.» Ob Bürotürme für die SBB-Immobilien mehr rentieren als Wohntürme, ist unklar. Dass jedoch umgerechnet bereits neun Andreastürme an Bürofläche in Zürich leer stehen, zeigen die Statistiken.
War Oerlikon noch bis Anfang dieses Jahrtausends das Ausweichgebiet für die aus der Stadt Verdrängten, werden diese nun durch die voranschreitende Entwicklung noch weiter in die Peripherie vertrieben. Doch beginnen wir früher: Oerlikon hat sich im 20. Jahrhundert rasant entwickelt, von einer kleinen Gemeinde zum Knotenpunkt Zürich-Nord innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit. Als Dorf wurde auch Oerlikon Mitte des 19. Jahrhunderts von der Industrialisierung ergriffen. Gleisanlagen und ein kleiner Bahnhof wurden errichtet, und nördlich davon entstand eine Industriezone. Begonnen hat diese mit der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), aus welcher später die Oerlikon Bührle entstand, die u. a. Waffen an Nazi-Deutschland lieferte. Diese industrielle Entwicklung zog Arbeiter*innen nach Oerlikon, und die Gemeinde auf der anderen Gleisseite verstädterte.
Oerlikon legte seither einen steilen Aufstieg an den Tag. Als die Fabriken langsam ausgelagert wurden und Industriebrachen übrig blieben, wurde für Oerlikon-Nord Ende des 20. Jahrhunderts ein neuer Plan zur Gestaltung von Neu-Oerlikon ausgearbeitet und 1995 mit dessen Umsetzung begonnen. Aus dem Nichts wurden neue Quartiere gestampft. Die neu entstandenen Quartiere hatten keine Zeit, historisch zu wachsen, so dass nun vieles leer wirkt. Heute soll Oerlikon zum eigenständigen Zentrum des Glatttals entwickelt werden. Der umgebaute und erweiterte Bahnhof, aber auch Prestigebauten wie der Andreasturm und der in Planung befindliche Franklinturm fungieren als Aushängeschild dieses Vorhabens.
Was ist an dieser kapitalistischen Stadtentwicklung dran?
Die Gestaltung des Raumes richtet sich nicht nach dem möglichen Nutzen für die Bewohner*innen. Das ist ein Merkmal der kapitalistischen Stadtentwicklung. Stattdessen ist das zentrale Kriterium der finanzielle Gewinn, welcher bei einer Umgestaltung winkt. Diese Entwicklung wird dadurch angetrieben, dass überschüssiges Kapital aus anderen Wirtschaftsbereichen verwertet werden muss und in die Bautätigkeit fliesst. Gentrifizierung ist ein häufig verwendeter Begriff, wenn es um die Kombination von Verdrängung und Stadtentwicklung geht. Er beschreibt die Veränderung der sozialen Struktur der Bevölkerung als Folge der baulichen Umgestaltung. Dabei werden Leute mit tiefem oder mittlerem Einkommen von Leuten mit hohem Einkommen ausgetauscht. Der Charakter der entsprechenden Quartiere wird somit grundlegend verändert.Dies kann man auch in Oerlikon beobachten. So ist die Schaffhauserstrasse in Alt-Oerlikon ein Beispiel dafür, wie die erste Phase der Gentrifizierung aussehen kann. In einem Artikel in der NZZ wird sie als bunt durchmischte Strasse beschrieben, ja gar als «gelebte Anti-Gentrifizierung». Grund hierfür seien die Diversität der Bewohner*innen und die Konsumstätten. Aber natürlich ist an diesen liberalen Lobgesängen etwas faul. Das Zentralorgan des Zürcher Bürgertums vollzieht hier gerade den ersten Schritt der Gentrifizierung. Die steigende Attraktivität wird bald mehr zahlungskräftige Investor*innen, Mieter*innen und Konsument*innen anziehen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt «Dreieck Edison-Franklin-Querstrasse», welches zwischen 2008 und 2012 ein privater Investor realisierte. Dieser liess Häuser abreissen, um Neubauten zu errichten. Durch den gestiegenen Mietpreis in den neuen beziehungsweise sanierten Wohnungen zogen neue Bevölkerungsgruppen ins Zentrum von Alt-Oerlikon.
Wo heute der Andreasturm emporwächst, standen zuvor zwar keine Wohnungen. Durch die Kundschaft, die er anziehen wird, werden sich jedoch die umliegenden Quartiere verändern. Einerseits werden nicht wenige der gutverdienenden Nutzer*innen in die Nähe ihres Arbeitsplatzes ziehen wollen und also Wohnungen nachfragen. Andererseits werden sich Geschäfte, Restaurants und andere Dienstleistungsangebote in den umliegenden Gebieten vermehrt auf dieses Klientel ausrichten. Eine ähnliche Entwicklung kann man bei der Hardbrücke beobachten. Seit der Prime Tower im ehemaligen Industriegebiet steht, ist das Quartier zu einer Hochburg der Banker*innen und Büroangestellten geworden.
Die vielen Gesichter der Aufwertung
Oerlikon ist nur ein Beispiel von vielen. Bekannter für die Gentrifizierung in Zürich sind wohl die Kreise 4 und 5 rund um die Langstrasse. Besonders markant ist die Europaallee – ebenfalls ein Projekt der SBB-Immobilien –, die nun vom Hauptbahnhof eine Schneise ins Langstrassenquartier schlägt. Die Langstrasse ist seit Jahrzenten im Wandel. Stellte sie ursprünglich den Mittelpunkt der proletarischen Kreise 4 und 5 dar, entwickelte sie sich in der jüngsten Vergangenheit zu einer ausschliesslichen Ausgehmeile. Durch die erneute Aufwertung wird die Langstrasse nun aber auch für die ersten hippen Zuzügerinnen zu teuer. Auf der anderen Seite der Gleise befindet sich die Neugasse, ein weiteres SBB-Immobilien-Projekt, wo eine neue Grossüberbauung geplant ist. Quartierbewohnerinnen fordern in einer Kampagne, dass die gesamte Wohn- und Gewerbefläche gemeinnützig vermietet wird.Doch Stadtaufwertung geschieht jedoch nicht nur, wenn Glaspaläste oder Grossüberbauungen errichtet werden. Es gibt auch dezentere Versionen. So werden einzelne Häuser im Langstrassenquartier totalsaniert oder umgebaut. Damit steigen die Mieten, was der bisher ansässigen proletarischen und migrantischen Bevölkerung den Verbleib in ihrem Quartier verunmöglicht. Zusätzlich wird das Leben im eigenen Quartier teurer, da sich nun Boutiquen und Restaurantketten verbreiten. So ziehen beispielsweise am Lochergut Restaurantketten wie das «Lillys» ein und verteuern mit ihren höheren Preisen den Konsum im Quartier. Aber nicht nur das, die Ansprüche der wohlhabenden Zuzüger*innen auf grosszügige Wohn- und Arbeitsräumlichkeiten führen auch dazu, dass nun insgesamt weniger Menschen auf dem selben oder sogar auf grösserem Raum leben. Es kann also nicht einmal von Verdichtung die Rede sein.
Vielfältiger Widerstand
Aktuell thematisiert eine Plakatkampagne diese vielfältigen Aspekte. Unter dem Titel «Aufwertung hat viele Gesichter», werden je nach Standort oder Objekt andere Gesichter der Stadtaufwertung benannt. Auf einer A4-Seite, von Ohren umrahmt, wird beschrieben, wie ein solches Gesicht aussieht. In Wiedikon etwa ist das schon ein länger anhaltender Prozess. Begonnen hat er beim Idaplatz, wo in der Erwartung, dass die Immobilienwerte mit der Verkehrsberuhigung der Weststrasse steigen wird, verstärkt investiert wurde. Zuletzt gipfelte der Prozess im Austausch der Schlange wartender Geflüchteter vor der Asylberatungsstelle durch eine Schlange von Glacéfreund*innen.«Nach dem Internationalen Kongress gegen kapitalistische Stadtentwicklung im Mai dieses Jahres fragten wir uns, wie das Thema Stadtentwicklung aufgearbeitet werden kann und welche Aktionsformen möglich sind. So versuchen wir es nun mit den Plakaten», erläutert Maurice, Mitwirkender bei der erwähnten Plakatkampagne. Doch dabei soll es nicht bleiben, auch eine Demonstration ist geplant: «Wir finden, dass die Aufwertung momentan extrem rasant voranschreitet und es deshalb auch wiedermal Zeit ist, eine dynamischere Aktionsform zu wählen. Ausserdem gab es schon lange keine Demonstration mehr zum Thema Aufwertung.»
Auch ausserhalb Zürichs gingen in diesem Herbst Menschen gegen Aufwertung, Vertreibung und für selbstbestimmte Freiräume auf die Strassen. So fand Anfang Oktober in Genf eine grosse Demonstration mit 3000 Teilnehmer*innen statt. Sie legte ihren Fokus auf das Wohnprojekt «Malagnou», welches durch Räumungsandrohung und Privatisierungsbestrebungen gefährdet ist. Eine ebenfalls prominente Stellung hatten die Forderungen der CUAE, der studentischen Gewerkschaft der Universität Genf, welche bessere Wohnbedingungen für junge Menschen forderte. Ende Oktober fand in Bern anlässlich des 30-jährigen Bestehens des autonomen Kulturzentrums «Reitschule» die Demonstration „30 Jahre sind nicht genug“ in Bern statt. Die Reitschule ist ein ein praktisches Beispiel dafür, was es heisst, sich den städtischen Raum anzueignen und ihn nach den eigenen Ideen und Vorstellungen einer lebenswerten Gesellschaft zu gestalten.
Solche Räume müssen aber immer wieder von neuem erkämpft werden. Dies zeigte sich kürzlich etwa in der wiederholten Besetzung und schnellen Räumung eines Hauses in Zürich Schwammendingen. Das Ziel hierbei war es, sich leer stehende Gebäude anzueignen, um einen selbstbestimmten Raum zu schaffen. Doch das sei schwieriger geworden, erklärt ein Mitbesetzer: «Seit etwa einem Jahr nutzt die Polizei neue Möglichkeiten, verstärkt Personenkontrollen durchzuführen». Dies ist für Zürich eine neue Entwicklung, nachdem in den 1970er- und 1980er-Jahren erkämpft wurde, dass unbenutzte Häuser nur geräumt werden, wenn eine Abbruch- oder Baubewilligung vorliegt.
Personalisierung wird der Thematik nicht gerecht
Gentrifizierung ist ein breit diskutiertes Thema in Zürich, und verschiedene Kräfte setzen sich damit auseinander – oder werden durch äussere Umstände zwangsläufig dazu genötigt. So schreiben bürgerliche Medien wie der Tages-Anzeiger oder die NZZ regelmässig dazu, auch wenn letztere diese meist zu widerlegen versucht. Sogar in der Gratiszeitung «20 Minuten» erschien ein immerhin nicht gänzlich abwertender Artikel zur kommenden Demonstration. Doch so vielfältig wie die Vertreibung durch Aufwertung sind auch die Widerstände dagegen. Nun sollten wir die verschiedenen Kämpfe und Formen zusammendenken und verbinden. Dazu gehört aber, nicht nur unter uns die Schuldigen am Aufwertungsprozess einzeln zu benennen und anzuprangern. Anzuprangern und zu bekämpfen gilt es die Strukturen, welche es wenigen ermöglichen, Profit auf Kosten von vielen zu machen. Denn Aufwertung ist Klassenkampf von oben, der dementsprechend mit Kämpfen von unten beantwortet werden muss. Hierfür braucht es anschlussfähige Projekte, die eine breite und widerständische Praxis etablieren können.Die Anknüpfungspunkte bestehen ja schon. Über den Kampf für günstigen bzw. gemeinnützigen Wohnraum lässt sich die soziale Frage thematisieren. Erwähnte Grossprojekte wie die Neugasse oder das Dreieck Edison-Franklin-Querstrasse und grosse Akteure wie die SBB bieten genug Angriffsfläche für konkrete Kämpfe. Einerseits, weil diese ihrer Dimension wegen bereits politisch diskutiert werden. Andererseits weil der Einfluss solcher Projekte sich nie nur auf ihre eigenen Kubikmeter beschränkt. Wie wir in Oerlikon sehen, verändern sich immer auch die angrenzenden Quartiere bis hin zu den Ausweichgebieten in der weiteren Peripherie. Deshalb müssen solche Kämpfe in den Quartieren stattfinden und eine Vernetzung und Selbstorganisierung der Bevölkerung zum Ziel haben. Selbst wenn Projekte nicht immer vollständig verhindert werden können, entstehen so widerständige Strukturen.