Wir weigern uns, zwischen diesen beiden Lagern zu wählen, wir verweigern uns dieser Logik des „kleineren Übels“, die nur zur Niederlagen der syrischen Revolution und ihrer Ziele – Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Zurückweisung des Konfessionalismus – führen wird. Unsere Unterstützung gilt dem revolutionären Volk, das für seine Befreiung und seine Emanzipation kämpft. Tatsächlich ist der Sturz des Regimes wie auch der Aufbau einer Gesellschaft der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und des Säkularismus nur durch das kämpfende Volk möglich – einer Gesellschaft, die das Recht einer/s jeden, seine/ihre Religion zu praktizieren, respektiert und garantiert und die die Gleichheit aller ohne jede (religiöse, ethnische, geschlechtsbezogene usw.) Diskriminierung sichert.
Nur die Massen, die ihr eigenes Mobilisierungspotential entwickeln, werden durch ihr gemeinsames Handeln die Veränderung bewirken können. Das ist das ABC der revolutionären Politik. Aber dieses ABC trifft heute auf eine tiefe Skepsis auf Seiten zahlreicher Milieus der westlichen Linken. Man sagt uns, dass wir unsere Wünsche für die Realität halten, dass es vielleicht vor zweieinhalb Jahren den Beginn einer Revolution gegeben habe, die Dinge sich jedoch inzwischen verändert hätten. Man sagt uns, dass der Dschihadismus in der Opposition gegen das Regime die Oberhand gewonnen habe, dass es sich nicht mehr um eine Revolution handle und dass man sein Lager wählen müsse, um einen konkreten Ausweg zu aufzuzeigen … Die gesamte Debatte auf der Linken ist durch diese „campistische“ Logik verschmutzt, die oftmals mit Verschwörungstheorien einhergeht, und in der die grundlegenden Abgrenzungen zwischen der Linken und der Rechten verwischt werden – insbesondere gegenüber der extremen Rechten.
In einem ersten Schritt werden wir uns kurz in die Geschichte Syriens zurückbegeben, weil es tatsächlich unmöglich ist, den syrischen Volksaufstand und seine Entwicklung zu verstehen, ohne sich historisch an die lange Zeit seit der Machtübernahem durch Hafez al-Assad im Jahre 1970 anzunähern. Hafez al-Assad starb im Jahr 2000, worauf sein Sohn, Baschar al-Assad, sein Nachfolger an der Spitze des Staates wurde und es bis heute ist. Dies markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Syriens. Wir werden das Regime, das in der Zeit von Hafez al Assad errichtet wurde und seine Folgen für die syrische Gesellschaft analysieren. Im Jahr 2000 stellte sich Baschar al-Assad, wie wir sehen werden, in dessen Kontinuität; er beschleunigte trotz einer kurzen Periode der demokratischen Öffnung, die man 2000 den Damaszener Frühling nannte, die Durchführung eine neoliberalen Politik. Diese „Öffnung“ wurde sehr schnell wieder geschlossen.
Wir werden dann die Ursachen und Dynamiken des Aufstands analysieren, die vor dem Hintergrund der revolutionären Prozesse in der Region, aber auch in Hinblick auf ihre eigenen Charakteristika (Situation, Akteure. Bedeutung) untersucht werden müssen. Schliesslich werden wir die Entwicklungen des Aufstands vom friedlichen Protest bis zu seiner derzeitigen bewaffneten Radikalisierung diskutieren.
Wir werden versuchen, die unterschiedlichen Verzweigungen und die Komplexität des revolutionären Prozesses in Syrien aufzuzeigen, indem wir Bezeichnungen wie die des Bürgerkriegs und/oder des Konfessionskriegs, die heute grösstenteils zur Beschreibung der Situation in Syrien benutzt werden, hinterfragen. Es wird darum gehen zu verstehen, warum diese Begriffe uns nicht erlauben, die Ereignisse zu verstehen und eine alternative Analyse vorzuschlagen, die auf den Begriff der Revolution ausgerichtet sind, den man sowohl in seinen materiellen Aspekten wie in seinen ideellen Bestandteilen analysieren muss.
Syrien nach der Unabhängigkeit
Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1946 ist Syrien durch einer Reihe von Hinterlassenschaften gekennzeichnet, die aus seiner langen Eingliederung in das Osmanische Reich stammen, in dem die Städte über einen starken politischen und ökonomischen Einfluss auf die ländlichen Gebiete ausübten. Die Städte beherrschten auf diese Weise ihr Hinterland und bildeten entscheidende Knotenpunkte des internationalen Handelssystems, das Europa mit Asien verband (Issawi 1982: 102-103), insbesondere die Städte Damaskus und Aleppo, woher alle politischen Eliten des Landes seit der Unabhängigkeit 1949 bis zum Jahr 1963 stammten.Während dieser Zeit wurde das politische Leben Syriens durch eine grosse Zahl von militärischen Staatsstreichen unterbrochen. In der Zwischenzeit wird das Land von zwei grossen politischen Gruppen regiert: der Volkspartei und dem Nationalen Block, der die Interessen der Bourgeoisien von Aleppo und Damaskus vertritt. Von 1958 bis 1961 sind Syrien und Ägypten im Rahmen der Vereinigten Arabischen Republik unter der Führung von Nasser wiedervereinigt.
Die Machtergreifung der Baath-Partei nach einem erneuten Staatsstreich 1963 markiert das Ende der politischen Vorherrschaft der städtischen Bourgeoisie, die seit Jahrzehnten – und sogar in gewisser Hinsicht seit Jahrhunderten im Rahmen des Osmanischen Reichs – in ihrer grossen Mehrheit aus der arabischen und sunnitisch-muslimischen Bevölkerung des Landes hervorgegangen war, und eröffnete eine neue Ära, in der die neue Macht von sozialen Kräften beherrscht wird, die aus den ländlichen und peripheren Gebieten und den religiösen Minderheiten, insbesondere der alawitischen, hervorgehen (Haddad 2011: XIV). Der Staatsstreich von 1963 kann somit in vielerlei Hinsicht als eine Antwort auf die soziale Krise gesehen werden, von der die ländlichen popularen Klassen seit der Unabhängigkeit betroffen waren, sowie als eine Reaktion der Dörfer auf die Herrschaft der städtischen Honoratioren.
Die Politik des radikalen Flügels der Baath-Partei hatte ab Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre erhebliche sozioökonomische Folgen, insbesondere zugunsten der am stärksten benachteiligten Sektoren und auf Kosten der bürgerlichen Kaufmannsklassen, der industriellen Klassen und der Grossgrundbesitzer. Die Politik der Agrarreform, der Verstaatlichungen und der Schaffung eines grossen öffentlichen Sektors beendete die „starrsten“ Klassenungleichheiten, die in einer monopolistischen Kontrolle der Produktionsmittel verankert waren, durch einen breiteren Zugang zu wirtschaftlichen Möglichkeiten und Eigentum (Hinnebusch 1990: 144). Teile des landwirtschaftlichen Proletariats und der kleinen Bauernschaft profitierten somit deutlich von den Agrarreformen und dem Ausbau des öffentlichen Sektors, der Armee und der Bürokratie im Allgemeinen.
Die Folgen dieses Prozesses konvergierten in einer ökonomischen und sozialen Stärkung der ländlichen Mittelschicht, während die Neuverteilung des Bodens der Herrschaft der Grossgrundbesitzer ein Ende setzte. Diesen stand eine mittlere Bauernschaft (die manchmal sogar reich war) gegenüber, die das neue Regime nicht schwächen konnte, da es zu einem grossen Teil selbst daraus hervorgegangen war. Diese Stellung erlaubte es insbesondere dieser Klasse, Vorteile aus den Subventionen der Regierung zu ziehen und grösstenteils den Produktionskontrollen zu entgehen (Richards und Waterbury 2014: 177).
Die Baath-Partei vor der Machtübernahme durch Hafez al-Assad 1970
Wie kann man das Phänomen der Baath-Partei in Syrien analysieren? Seit der Unabhängigkeit des Landes rekrutierte sie ihre Mitglieder vor allem in ländlichen Gebieten, wo die religiösen Minderheiten hauptsächlich aus historischen Gründen konzentriert sind. Es ist daher logisch, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaften in der Partei dominierten. Die Ideologie der Partei übte auf die Mitglieder dieser religiösen Minderheiten auch eine starke Anziehung aus, weil sie erwarteten, dass der behauptete „Sozialismus“, arabische Nationalismus und Säkularismus ihnen dabei helfen würde, ihrem minoritären und dadurch untergeordneten Status und dem engen sozialen Rahmen der Abhängigkeit von ihren tribalen und regionalen Bindungen zu entkommen (Van Dam 1996: 33).1963 stammten die Mitglieder der Baath-Partei also aus den ländlichen Mittelschichten, das heisst aus den unteren Schichten, was ihnen erlaubte, von der sozialen Mobilität zu profitieren, die der neue aus der Unabhängigkeit von 1946 hervorgegangene Staat ermöglichte, insbesondere durch die Institution des Militärs. Man muss hinzufügen, dass dieser auch von einem grossen Teil der städtischen Intelligenz – hauptsächlich Lehrern und Beamten – unterstützt wurde (Perthes 1995). Die neue im Vergleich zu ihren ursprünglichen Gründern daher stark radikalisierte Führung der Baath-Partei übernahm damals eine Rhetorik, die jener der radikalen Linken sehr nah war und setzte eine Reihe von Entscheidungen und politischen Massnahmen durch, die die Rückkehr der grossen städtischen Handels- und Industriebourgeoisie und der Grossgrundbesitzer an die Macht verhindern sollten: die Verstaatlichung eines grossen Teils der privaten Vermögen (1964-1965), wodurch die Politik der Agrarreform, die zur Zeit der Vereinigten Arabischen Republik (1958-1961) in die Wege geleitet worden war, vervollständigt wurde (Haddad 2009: 35).
Die grosse städtische Handels- und Industriebourgeoisie wie auch die bedeutendsten Landbesitzer hatten die Speerspitze des Staatsstreichs von 1961 gebildet, der die Erfahrung der Vereinigten Arabischen Republik beendete, einer Regierung, die mit ihrer Politik der Umverteilung des Reichtums und der Agrarreform die politische und ökonomische Macht dieser Klassen bedroht hatte.
Die Politik des arabischen Nationalismus und der damaligen Baath-Partei ist durch einen Staatskapitalismus gekennzeichnet, der auf der einen Seite auf eine feindliche Strategie gegenüber dem privaten nationalen Sektor und gegenüber dem ausländischen Kapital und auf der anderen Seite auf eine Politik mit dem Ziel einer umfangreichen Umverteilung des Reichtums in ihrer Gesellschaft abzielt.
Wir werden sehen, dass die Machtübernahme durch Hafez al-Assad die radikale Sozialpolitik der sechziger Jahre beendet, um sich auf den Weg der Versöhnung mit den bürgerlichen Klassen der Gesellschaft zu begeben. Dies hängt auch mit dem Popularitätsverlust des arabischen Nationalismus nach der Niederlage vom Juni 1967 und dem Tod Nassers 1970 zusammen.
Die Machtübernahme durch Hafez al-Assad im Jahr 1970 und die Errichtung eines diktatorischen und bürgerlichen Regimes
Die Machtübernahme durch Hafez al-Assad im Jahr 1970 markiert für das Land eine neue Wende, die für Jahrzehnte entscheidend sein sollte. Der neue starke Mann Syriens kam aus dem sogenannten „pragmatischen“ Teil der Baath-Partei, der gegen eine radikale Sozialpolitik und gegen eine Politik der Konfrontation gegenüber den konservativen Ländern der Region wie den Golfmonarchien war. Das neue Regime wurde von den grossen Bourgeoisien in Aleppo und Damaskus mit grosser Freude gepriesen und begrüsst. Die grossen städtischen Bourgeoisien, die zwischen 1963 und 1970 sehr aktiv gegen den linken Flügel der Baath-Partei gewesen waren, demonstrierten in den Strassen der grossen Städte mit Banderolen, auf denen zum Beispiel zu lesen war: „Wir haben die Hilfe Gottes erfleht – Al Madad. Er sandte uns Hafez al-Assad.“ (Batatu 1998: 175) Seit dieser Zeit hat die Regierung über verschiedene – insbesondere ökonomische – Verbindungen ein Netzwerk von Loyalitäten mit Personen der unterschiedlichen religiösen, ethnischen und tribalen Gemeinschaften geschaffen.Der Beginn der „korrigierenden Bewegung“, die von al-Assad ins Leben gerufen wurde, sollte auch die radikale Politik der 1960er Jahre beenden, die den Besitz und die politische Macht der Grossbourgeoise infrage gestellt hatte. Assads Ziel war es letztlich, die Stabilität seines Regimes und die Kapitalakkumulation zu sichern, indem er die mächtigsten Sektoren der Wirtschaft beruhigte – die grossen Händler, eine kleine Gruppe von Grossindustriellen grösstenteils aus Damaskus und Aleppo sowie die Grossgrundbesitzer -, deren Einfluss in der Regierung immer grösser wurde, aber auch, indem er sich zunehmend mit den rasch aufsteigenden neuen bürgerlichen Akteuren verband, die aus dem Staatsapparat selbst hervorgegangen waren.
Das Regime von Hafez al-Assad ist ein autoritäres Regime, das jede legale Existenz von politischen und gesellschaftlichen Organisationen verbietet, die seine ausschliessliche Herrschaft nicht akzeptieren oder die sich gegen seine Politik oder Praxis des Klientelismus stellen – jene massive, im Wesentlichen zu Sicherung von Loyalität benutzte Korruption der – politischen und militärischen – herrschenden Klasse.
In dieser Zeit, seit 1970, baut das neue Regime auch eine Armee auf, die völlig der persönlichen Macht des Diktators und seiner Leibgarde unterworfen ist. Der Krieg von 1973, der vom syrischen Regime als Sieg dargestellt wurde, sollte die Kontrolle Hafez al-Assads über die Armee ebenfalls stärken. Im Übrigens ist seit diesem Zeitpunkt von syrischem Territorium aus kein Schuss mehr gegen den Staat Israel abgefeuert worden, wobei die Golanhöhen bis heute besetzt sind. Die Struktur des Oberkommandos und der Eliteeinheiten basiert also auf Klientelismus und Konfessionalismus. Die höheren Offiziere werden aus mit der Assad-Familie verbunden alawitischen Stämmen rekrutiert, um ihre fast völlige Loyalität mit der Spitze des Staates zu garantieren.
Dank dieser engen Verzahnung der öffentlichen Interessen mit privaten Interessen ist der Staat zu einer wirklichen Maschine zur Akkumulation von beträchtlichen Ressourcen geworden, ein wahrhafter Segen für die Nomenklatura, insbesondere für die Kreise, die dem obersten Führer, seiner Familie und seinen treuesten Stellvertretern nahe stehen. Die informellen Netzwerke und die Vetternwirtschaft, die die unterschiedlichen Sektoren des Staates mit der Wirtschaft verbinden, haben sich vervielfacht und eine „neue Klasse“ von bürgerlichen Rentiers hervorgebracht: Die Auswirkungen dieser Veränderungen haben die regressiven Entwicklungen der syrischen Gesellschaft stark beeinflusst, und dass bis zum Vorabend der Revolution, die 2011 begann. Eine fehlgeleitete Ressourcenallokation und die Vermehrung nichtproduktiver Aktivitäten des kommerziellen Sektors, die zwar wenige Arbeitskräfte benötigten, aber lukrativ waren, waren die wesentlichen Folgen dieser politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen.
Ab 1986 verabschiedet das Regime die ersten Deregulierungsmassnahmen seiner zentralisierten „Kommandowirtschaft“, Folgen grosser wirtschaftlicher Rückschläge und allgemeiner Probleme der Entwicklung, die allein durch die Hilfe – einen Teil der Öleinnahmen – der Golfmonarchien überwunden werden können. Im selben Jahr ist die Krise der nationalen Währung ein Zeichen für die beschleunigte Konsolidierung der ökonomischen Patronagenetzwerke, die vom Regime, wenngleich auf informeller Ebene, geschaffen worden waren. Seit 1991 gelingt es ihnen, weithin jene ökonomischen Bereiche zu beherrschen, die fälschlicherweise als Teil des „privaten Sektors“ dargestellt wurden, die unter dem Dach der Regierungsreformen des sogenannten „wirtschaftlichen Pluralismus“ (al –ta'addudiyya al iqtisadiyya) entwickelt worden waren (Haddad 2011: 7).
Diese „neue Klasse“, die organisch mit dem Staat verbunden ist, wollte ihren Reichtum nun in die verschiedenen Sektoren der Ökonomie investieren. Das Dekret Nr 10 (1991) stellte daher das Sprungbrett dar, mit dem es ihr gelang, die angehäuften Gelder „weisszuwaschen“ (Haddad 2011: XIV). Dieses Gesetz sah die Förderung und Unterstützung von ausländischen und einheimischen Privatinvestitionen in Bereiche vor, die bis dahin dem Monopol des öffentlichen Sektors unterlagen, wie die pharmazeutische Industrie, die Landwirtschaft, die Nahrungsmittelproduktion, das Hotelwesen und die Transportwirtschaft. Es sollte Investitionen im privaten Sektor erleichtern und mit Hilfe von Steuersenkungen und anderen fiskalischen Fördermassnahmen Möglichkeiten des Im- und Exports eröffnen, die natürlich unter der Kontrolle des Staates standen und auf dieses Weise immer noch dessen am besten platzierte Mitglieder bereicherten und das System er allgemeinen Korruption vertieften. Der Übergang von einer Kommandowirtschaft zu einem „Kapitalismus unter Freunden“ hat sich daher mit dem zunehmenden Verzicht auf eine zentral gesteuerte Wirtschaftsverwaltung im Laufe der 1980er Jahre beschleunigt.
Die 1990er Jahre erlebten daher eine „neue Klasse“ – von Neureichen oder einer hybridisierten Bourgeoisie -, die aus einer Fusion der Staatsbürokratie und den Überlebenden der alten „privaten“ Bourgeoisie hervorging, deren Stellung sich nicht der Macht der Baath-Partei verdankte, da sie nicht aus einem Zusammenspiel mit ihr entstanden war. Wir werden analysieren, wie diese neue Klasse sich entwickelt hat, insbesondere in einer ersten Phase, in der sie ihre Beziehungen zum Staat ausspielte und ihn als Einnahmequelle und Förderer einer neuen Wirtschaftspolitik mittels der fortschreitenden Umsetzung einer neoliberalen Politik (der Deregulierung) benutzte. Im Gegenzug hat sie die Strategie des Regimes bei der Konsolidierung seiner Macht, speziell gegenüber Fraktionen der alten privaten Bourgeoisie, in vollem Umfang unterstützt.
Die Priorität der Unterdrückung und ihre Funktionalität
Die Machtübernahme durch Hafez al-Assad bedeutete für Syrien auch eine neue Ära in Bezug auf politische, soziale und ökonomische Unterdrückung, was in der Ausrufung des Ausnahmenzustands im Jahr 1963 zum Ausdruck kam. Dies zeigte sich vor allem in einer subtilen Politik der Verstärkung gesellschaftlicher Spaltungen zwischen Ethnien, Gemeinschaften und sogar Stämmen, die an gewisse Praktiken der französischen Mandatszeit erinnerte. Dazu gehört die Aufteilung des Landes in fünf oder sechs regionale Departements, vor allem auf der Grundlage kommunitärer Kriterien, mit drusischen und alawitischen Untereinheiten. Die unabhängigen Volksorganisationen – Gewerkschaften, Berufsorganisationen (wie jene der Ärzte, der Rechtsanwälte, der Ingenieure oder der Apotheker), zivilgesellschaftliche Organisationen usw. – wurden zunächst überwacht, dann unterdrückt und im Jahr 1980 schliesslich aufgelöst.Bis dahin waren sie die Avantgarde der Kämpfe für eine Rückkehr zu demokratischen Freiheiten und die Aufhebung des Ausnahmezustands gewesen. Ab 1980 wurden diese Organisationen durch Strukturen ersetzt, die der direkten Kontrolle des Staates unterstanden (Hinnebush 2001: 83). Das Symbol der blutigsten Unterdrückung durch dieses Regime bleibt jedoch der Massenmord in Hama im Jahr 1982, der von den Sicherheitskräften und dem Militär verübt wurde, und der 10.000 bis 40.000 Menschen das Leben kostete. Diese Morde markieren in vieler Hinsicht das vorläufige Ende des blutigen Konflikts zwischen den Anhängern des Regimes und den Mitgliedern der Muslimbruderschaft, die seit Ende der 1970er Jahre zu den Waffen gegriffen hatten.
Die Repression traf auch all die politischen Parteien, die sich weigerten, sich dem Diktat von Hafez al-Assad zu unterwerfen und sich an der Nationalen Progressiven Front (FNP), einer Koalition der regimetreuen Kräfte, zu beteiligen. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden mehrere laizistische Parteien, insbesondere auf der Linken, zu Zielen des Regimes, darunter die Bewegung des 23. Februar (die radikale Tendenz der Baath-Partei, die dem früheren Präsidenten Salah Dschadid nahestand), die Liga für Kommunistische Aktion (Rabita al amal al shuyu'i), bei der ein Teil der Mitglieder aus der alawitischen Gemeinschaft stammte, und in geringerem Masse die Syrische Kommunistische Partei-Politbüro (PCBP) von Riad al-Turk. Die Nationale Sammlung, die verschiedene linke Parteien umfasste, wurde Anfang der achtziger Jahre ebenfalls massiv unterdrückt (Seurat 2012: 21). Während dieses Jahrzehnts war auch die Organisation der Muslimbrüder stark von der Repression betroffen.
Das Regime übte auf diese Weise seine totale Herrschaft über die wesentlichen Teile der Gesellschaft wie die Universität und die Armee aus. Es untersagte jede unabhängige politische Aktivität, ausser natürlich jene der Baath-Partei, die vom Campus bis zu den Kasernen als einzige Versammlungen und öffentliche Demonstrationen organisieren oder auch eine Zeitung herausgeben und vertreiben durfte. Selbst die mit ihr in der Nationalen Progressiven Front verbündeten Parteien hatten nicht das Recht, sich zu organisieren, Propaganda zu machen oder eine kleine offizielle Präsenz im öffentlichen Raum zu haben. Anschliessend analysieren wir die spezifische Rolle der Baath-Partei, insbesondere nach der Machtübernahme durch Hafez al-Assad. Hier genügt es anzumerken, dass sie eine Vielzahl von korporatistischen, sogenannten Volksorganisationen kontrollierte, die Bauern, Jugendliche, Frauen usw versammelten, wodurch viele Bereiche der Gesellschaft der Aufsicht der Staatsmacht unterstellt wurden.
Die Rolle der Baath-Partei, die auf diese Weise in ein Instrument der Kontrolle der Gesellschaft umgewandelt und damit jeder ideologischen Dynamik beraubt wurde, hat sich also seit der Machtübernahme durch Hafez al-Assad grundlegend geändert. Die Parteiorganisation wurde umgestaltet, indem die internen Wahlen abgeschafft und durch ein System der Ernennung von oben und der Kooptierung ersetzt wurden. Hierüber entschieden die Staatsmacht und die Sicherheitsdienste, während die Elemente, die in Opposition zur Politik des Regimes standen, unterdrückt wurden. Rifaat al-Assad, der Bruder von Hafez, hat seine Konzeption der Partei auf dem 7. Regionalkongress gut zusammengefasst, indem er sich auf das folgende Modell bezog: „Der Führer entscheidet, die Partei stimmt zu, und das Volk applaudiert. So funktioniert der Sozialismus in der Sowjetunion. Wer nicht applaudiert, geht nach Sibirien.“ (Seurat 2012: 59) Die Parteieliten der Jahre nach 1970 hatten daher die Tendenz, sich in fügsame Bürokraten zu verwandeln, während ihre GenosseInnen der 1950er und 1960er Jahre oftmals aufopferungsvolle Parteimitglieder und begeisterte AktivistInnen gewesen waren (Batatu 1998: 245).
Wir werden auch sehen, wie die Ideale der Einheit, der Freiheit und des Sozialismus, die am Ursprung der Baath-Partei standen, aus der realen Politik des Assad-Regimes verschwinden, um nur noch als rhetorische Parolen angerufen zu werden. Wir werden auch analysieren, wie das Regime auch auf andere Mittel zurückgreifen wird – abgesehen von der Repression -, um seine Macht zu behaupten, einschliesslich der Korruption, der Instrumentalisierung der Religion, um die syrische Bevölkerung in Ethnien, Gemeinschaften usw. zu spalten. Die Waffe des Konfessionalismus wurde in Verbindung mit der Unterdrückung der laizistischen linken und liberalen Opposition, der zivilgesellschaftlichen Organisationen und der politischen Parteien entwickelt, während die „primären“ d.h. archaischen, insbesondere tribalen Identitäten gefördert wurden.
Der Übergang der Macht von Hafez Al-Assad an seinen Sohn Baschar (2000) und die beschleunigte Anpassung der neuen Regierung an die neoliberale Globalisierung
Der Tod des Diktators Hafez al-Assad nach dreissigjähriger Herrschaft brachte einen Hauch von Hoffnung für grosse Teile der Gesellschaft, die eine politische Öffnung erwarteten, und insbesondere für die politische Opposition, die sich einen demokratischen Übergangsprozess durch Reformen wünschte. Baschar al-Assad, der Sohn von Hafez, wurde im Jahr 2000 Präsident, und es folgten einige Monate mit vielversprechenden öffentlichen Auftritten nach einer Rede des neuen Präsidenten vor dem Parlament, in der er an ein „kreatives Nachdenken“ appelliert und den „dringenden Bedarf“ an konstruktiver Kritik und an Reformen mit dem Ziel der Modernisierung anerkannt hatte (Damascus online 2000). Gleichzeitig wurde das berüchtigte Mezze-Gefängnis für politische Gefangene in Damaskus geschlossen, das ein Symbol der brutalen politischen Unterdrückung durch die Staatsmacht war, während eine grosse Anzahl von politischen Gefangenen freigelassen wurde. Auch Menschenrechtsorganisationen und Diskussionsforen begannen sich zu Beginn der neuen Herrschaft zu vermehren.
Die syrische Zivilgesellschaft und die politischen Organisationen begannen seit dem Beginn des Jahres 2001 ebenfalls mobil zu machen, um Reformen und eine Demokratisierung des Staates zu fordern. Das ist die Bedeutung der „Erklärung der 99“ oder des „Komitees zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft“ (das in einer Mitteilung mit dem Namen „Erklärung der 1.000“ verkündet wurde), das Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und sogar Vertreter bestimmter politischer Parteien versammelte. Zur gleichen Zeit kündigte die Riad Seif, ein Parlamentarier und Kritiker des Regimes, die Bildung der Sozialen Bewegung für den Frieden an. Das Regime reagierte angesichts dieser Entwicklungen schnell mit Unterdrückung und einem brutalen Gegenangriff, auf rhetorische Weise durch die Presse oder auch physisch durch Verhaftungen von AktivstInnen. Am Ende des Sommers 2001 waren acht der bedeutendsten Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft inhaftiert, und mit einer einzigen Ausnahme waren alle Diskussionsforen geschlossen (Landis und Pace 2009: 121).
Zwischen 2004 und 2006 kam es zu einer Welle von Sit-ins. InitiatorInnen waren politische AktivistInnen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Dabei ging es um demokratische Rechte in ihren unterschiedlichen Aspekten wie etwa die freie Meinungsäusserung und/oder die Versammlungsfreiheit. Das war ein neues Phänomen in Syrien. Die Erhebung der KurdInnen im Jahr 2004, die in der Stadt Qamischli begann und auf überwiegend von Kurden bewohnte Gebiete des ganzen Landes – wie Dschazira oder Afrin – übergriff, aber auch vor Aleppo und Damaskus nicht Halt machte, wurde von den Sicherheitskräften massiv unterdrückt, wobei das Regime auch auf die Kollaboration arabischer Stämme im Nordosten zurückgriff. Zahlreiche AktivistInnen – über 2.000 – wurden verhaftet, während sich andere gezwungen sahen, das Land zu verlassen (Lowe 2006).
Am Vorabend des syrischen Aufstands vom März 2011 waren also elementarste demokratische Rechte immer noch nicht gegeben, während die angekündigten Reformen weiterhin auf sich warten liessen.
Die beschleunigte Einführung einer neoliberalen Politik und die Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit
Seit dem Machtantritt Baschar al-Assads hat das syrische Regime zunehmend auf eine zügig einzuführende neoliberale Wirtschaftspolitik gesetzt. Diese kam besonders einer gewissen Klein-Oligarchie zugute, die bereits in der Ära des Vaters Assad förmlich zu wuchern begonnen hatte, wobei sie sich Netzwerke wirtschaftlicher Patronage zunutze zu machen wusste. Doch auch eine dem Regime gegenüber loyale lokale Klientel profitierte von dessen neoliberaler Politik. Der Cousin von Baschar al-Assad, Rami Makhlouf, verkörperte dieses mafiöse Phänomen der vom Regime zugunsten der Seinen vorgenommenen Privatisierungen, wie wir noch genauer sehen werden, geradezu perfekt. Er schuf neue Monopole im Besitz der Familie von Baschar al-Assad, während zugleich die Qualität der Güter und Dienstleistungen insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung, wo private Institutionen in grosser Zahl entstanden, einen Niedergang erlebte.Seit 2004 entwickelte sich zugleich der Finanzsektor mit dem Aufschwung der ersten Privatbanken mit syrischem Kapital und dem der Erdöl-Monarchien am Golf, sowie von Versicherungsgesellschaften, der Börse von Damaskus und Wechselstuben. Seit dem Machtantritt Baschar al-Assads ist jedoch der Kreis derer, die vom „Beutegut“ des Regimes profitierten, enger geworden; unter seinem Vater war es breiter verteilt worden. Damals konnten verschiedene Gruppen mit dem Staat Geschäfte machen und sich seiner Gunst erfreuen.
Herr Makhlouf, Sohn eines früheren Kommandanten der Syrischen Republikanischen Garde und Cousin ersten Grades des neuen Diktators, kontrollierte auf diese Weise dank eines komplexen Netzes von Holdings am Vorabend des Aufstands von 2001 annähernd 60% der Wirtschaft des Landes (Barout 2012). Sein Wirtschaftsimperium reicht von der Telekommunikation über Öl und Benzin bis zur Baubranche, den Banken, Fluggesellschaften und dem Einzelhandel. Ihm gehören sogar neben der einzigen Duty Free-Kette mehrere Privatschulen, an denen die Kinder der führenden Familien des Regimes und der syrischen Bourgeoisie unterrichtet werden. Das persönliche Vermögen von Rami Makhlouf wird auf annähernd 6 Milliarden $ geschätzt (Leverrier 2011). Übrigens hatte ihn die britische Zeitschrift World Finance zu Beginn des Jahres 2011 stolz als Visionär gepriesen, der die syrische Wirtschaft enorm gefördert habe und es daher verdiene, als Symbol des positiven Wandels bezeichnet zu werden, der sich im Lande vollziehe. Der chilenische Fall bietet ein gutes Beispiel für diese Art Verbindung zwischen neoliberaler Politik und politischer Diktatur in Ländern der „Peripherie“.
Die neoliberale Politik des Regimes ist verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren entgegengekommen: den oberen Schichten der neuen Bourgeoisie, die sich während der vorausgegangenen Jahrzehnte gebildet hatten; den alten bürgerlichen Eliten der Privatwirtschaft, die erneut begonnnen hatten, im Land zu investieren; und ausländischen Investoren, insbesondere aus der Golfregion. Sie alle profitierten von der Öffnung der syrischen Wirtschaft für ihre Operationen, was auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit ging, die unterdessen durch die fortdauernde Inflation schwer getroffen wurde. Auf diese Weise hat die in den letzten zehn Jahren umgesetzte neoliberale Politik zur Aushöhlung des öffentlichen Sektors geführt und dafür gesorgt, dass nunmehr der private mit inzwischen einem Anteil von fast 70% die Wirtschaft dominiert (Haddad 2011: 20).
Um besser zu verdeutlichen, welche Auswirkungen diese Wirtschaftspolitik hatte und ihre Rolle bei der Auslösung des Aufstands der Bevölkerung zu verstehen, dürfen auch weitere Sektoren nicht ausser Acht gelassen werden, denen diese Politik zugute kam: den führenden Kräften innerhalb der Geheimdienste und der Armee sowie der Staatsbürokratie; den an der kapitalistischen Vetternwirtschaft Beteiligten, die durch diverse Sektoren des öffentlichen Dienstes protegiert werden und sich im Rahmen des privatwirtschaftlichen Sektors entwickelt und zunehmend bereichert haben, was insbesondere in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit dem 1991 erlassenen Investitions-Gesetz Nr. 10 der Fall war; und der Bourgeoisie von Aleppo und Damaskus, die ganz besonders von der 2005 eingeführten „Sozialen Marktwirtschaft“ profitierte.
Das reale Wachstum des BSP und das Realeinkommen pro Einwohner sind seit Beginn der 1990er Jahre zurückgegangen. Der wirtschaftliche Liberalisierungsprozess hat zu einer ständig zunehmenden Ungleichheit im Lande geführt. Die Ärmsten schaffen es kaum, ihre Situation im Rahmen dieser neuen Wirtschaftsordnung zu verbessern, da mit ihr auch ein zunehmender Mangel an Arbeitsplätzen einhergeht. Das trifft besonders die jungen Leute mit Hochschulabschluss und die Bewohner der abgelegeneren Regionen sowie die „Mittelschicht“ und dort vor allem die im öffentlichen Dienst Beschäftigten und diejenigen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Sie nähern sich rasch der Verarmung, weil ihre Einkünfte nicht ausreichen, um die Inflation auszugleichen, die 2008 offiziell 17% betrug (IRIN 2008).
Am Vorabend des Aufstandes vom März 2011 stieg der Arbeitslosenanteil auf 14,9%, so die offiziellen Angaben – 20-25% laut anderen Quellen; bei den 20-24-Jährigen und den 15-19-Jährigen belief er sich sogar auf 33,7 bzw. 39,3% (Central Bureau of Statistics 2013). Im Jahr 2007 betrug der Anteil der SyrerInnen, die unter der Armutsgrenze lebten, 33% oder ungefähr sieben Millionen Menschen, während 30% knapp über dieser Marke lagen (United Nations Development Group 2010). Der Anteil der Armen ist in ländlichen Gebieten höher (62%) als in den Städten (38%). Die Armut ist im Nordwesten und im Nordosten (in den Provinzen Idlib, Aleppo, Raqqa, Deir ez-Zor und Hassakeh) weiter verbreitet und tiefer verankert und ausgeprägt (58%). Dort leben 54% der gesamten Bevölkerung (FIDA 2009).
Darüber hinaus machte sich das syrische Regime in seiner neoliberalen Ausprägung daran, sein Subventionssystem zu reformieren und die kleinen Leute und die Ärmsten noch schwerer zu belasten, während die Privatisierungen weiter zunahmen. Gleichzeitig verschlechterte und verringerte sich das Angebot der öffentlichen Gesundheitsversorgung und zwang die Bevölkerung, auf die kostspieligeren privaten Angebote zurückzugreifen, um sich die Grundversorgung zu sichern. Im Untersuchungsbericht, den der IWF 2010 erstellte, begrüsst er die vielfältigen Massnahmen des syrischen Regimes: „Der einheitliche Wechselkurs und die Restriktionen beim Zugang zu Devisen bei den laufenden Geschäften scheinen grundsätzlich abgeschafft worden zu sein. Die Privatbanken sorgen für das Wachstum des Privatsektors, und kürzlich hat die Börse von Damaskus nach vierzig Jahren wieder eröffnet. Das Steuersystem ist vereinfacht und der Handel weitgehend liberalisiert worden.“ (IMF 2010)
Der Entwicklungsplan des syrischen Regimes von 2006 bis 2010 sah ausdrücklich Folgendes vor: „die weitere Deregulierung des Marktes und die vertiefte Einbettung in den Weltmarkt, um private Investoren anzuziehen, sowie tiefgreifende strukturelle Reformen, um eine gute wirtschaftliche Governance und ein ausgeglichenes Wachstum sicherzustellen.“ (Shakour 2009)
Das syrische Wirtschaftswachstum, das in den Jahren vor dem Aufstand bei durchschnittlich 5% lag, hat der breiten Bevölkerung nicht genutzt; tatsächlich sind die Ungleichheiten bezüglich des Wohlstands unaufhörlich grösser geworden. So ist der Gini-Koeffizient zwischen 1997 und 2004 von 0,33 auf 0,37 angestiegen. In den Jahren 2003-04 kamen auf die 20% der Ärmsten im Lande nur 7% der gesamten Ausgaben, während die Reichsten für 45% verantwortlich waren (UNDP 2005). Diese Tendenz hat sich bis zum Ausbruch der Revolution ständig verstärkt.
Auch die Privatisierung von Land, die wegen der Dürre seit 2008 auf Kosten von mehreren Hunderttausend Bauern im Nordosten durchgeführt wurde, sollte nicht einfach als Konsequenz aus einer Naturkatastrophe angesehen werden. Tatsächlich förderte die Vergrösserung der Flächen und die Intensivierung der Ausbeutung von Böden durch grosse Unternehmen des Agrobusiness und der Bau selektiver Wasserleitungen im Sinne der Anforderungen der neuen Grosseigentümer die Korruption der Verwaltung vor Ort, die mit der Krise der Landwirtschaft einhergeht. Im Jahr 2008 bearbeiteten 28% der Landwirte 75% der bewässerten Böden, während 49% nur über 10% des nutzbaren Landes verfügten – ein Beleg für das Fortschreiten der Ungleichheit im Bereich der Landwirtschaft (FIDA 2009).
Ebenso hat das Regime der Gewerkschaftsbürokratie seine Vorherrschaft aufgezwungen, was insbesondere seit 2000, den Kampf gegen die neoliberale und autoritäre Politik stark gehemmt hat. Seither hat sich der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung ständig verschlechtert, während zugleich die politische Repression anhielt. So haben im Mai 2006 Hunderte Arbeiter des staatlichen Bauunternehmens in Damaskus protestiert, wobei es zu Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften kam. Damals streikten auch die Taxi-Fahrer von Aleppo, um gegen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu protestieren.
Die neoliberalen Reformen des Regimes haben eine Politik gefördert, die im Wesentlichen darauf hinauslief, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Diese stiegen denn auch von $120 Millionen im Jahr 2002 auf $3,5 Milliarden 2010 (Yazigi 2010). Sie betrafen vor allem den Export, die Dienstleistungen und besonders den Tourismus. Dieser ist zu einem blühenden Sektor geworden: Er steht aktuell für 12% des BSP, bringt rund $ 6,5 Milliarden ein und beschäftigt 11% der arbeitsfähigen Bevölkerung (FIDA 2009). Dieser Wirtschaftszweig ist allerdings durch die Ereignisse, die im März 2011 begannen, inzwischen völlig am Boden.
Das Fehlen demokratischer Rechte und die zunehmende Verarmung breiter Teile der syrischen Gesellschaft in einem Klima von Korruption und wachsender sozialer Ungleichheit waren die Grundlage für die Erhebung, die nur noch eines Funkens bedurfte, um sich zu entzünden. Der Diktator Baschar al-Assad verkündete Ende Januar 2011 in einem Interview mit dem Wall Street Journal: „Trotz der Bedingungen, die in Syrien schwieriger sind als in den meisten arabischen Ländern, ist dieses Land stabil. Warum? Weil man sehr eng mit dem Volk und seinen tiefsten Überzeugungen verbunden sein muss.“ (WSJ 2011) Da irrte der syrische Führer, wie er allmählich selbst feststellen musste.
Ist das Regime der Assads ein laizistischer Staat?
Das Regime Baschar al-Assad hat die Kooperation mit den religiösen Vereinigungen und den konservativen Kräften in der Gesellschaft verstärkt, während es zugleich verschärfte neo-liberale Politiken umsetzte.Vor allem aus dem Gesundheitsbereich hat sich das Regime weitgehend zurückgezogen und karikativen, insbesondere religiösen Einrichtungen das Feld überlassen. Im Jahr 2004 wandten etwa 300 solcher Vereinigungen insgesamt 842 Millionen syrische Pfund für die Unterstützung von mehr als 72 000 Familien auf. Die neoliberale Politik hat dafür gesorgt, den Einfluss der religiösen Vereinigungen, islamischer wie christlicher, in Syrien zu verstärken, somit auch ihr Verteilungsnetz und ihre Rolle, womit ein Rückgang derjenigen des Staates einherging.
Annähernd 10.000 Moscheen und Hunderte religiöser Schulen wurden gebaut, und über 200 von religiösen Vertretern organisierte Konferenzen fanden allein im Jahr 2007 in den Kulturzentren der bedeutenden Städte statt. Zugleich wurden die Führungspersönlichkeiten des religiösen Klerus aller Religionsgemeinschaften durch das Regime als Akteure der „syrischen Zivilgesellschaft“ präsentiert, wobei es auch darum ging, offiziellen Besucher-Delegationen aus dem Ausland das Bild eines modernen und von einem allgemeinen Konsens getragenen Landes zu präsentieren.
Baschar al-Assad hat keineswegs gezögert, den berühmten islamistischen Prediger Yusuf al-Qaradawi zu empfangen, der heute die Revolution gegen das Regime unterstützt und 2009 an der Spitze der weltweiten Vereinigung der Ulemas in Damaskus weilte.
Ausserdem führte das Regime die Entspannungspolitik gegenüber den Islamisten fort, die zu Beginn der neunziger Jahre mit der Entlassung tausender politischer Gefangener (1992) eingeläutet worden war. In diesem Zusammenhang ist auch die Toleranz gegenüber islamistischen Publikationen und gewissen Bewegungen zu sehen, soweit sie sich aus der Politik heraushielten. So durfte 2001 beispielsweise Scheich Abu al-Fath al-Bayanuni, der Bruder des ehemaligen Führers der Muslimbrüder nach dreissig Jahren im Exil zurückkehren, und sein Sohn, ein reicher Geschäftsmann, war 2010 an der Errichtung des ersten grossen Einkaufszentrums beteiligt, in dem Geschlechtertrennung galt.
Diese Massnahmen des Regimes gingen Hand in Hand mit der Zensur literarischer und künstlerischer Werke, wobei zugleich religiöse Literatur gefördert wurde, die alsbald die Regale in den Bibliotheken füllte und für eine Islamisierung im Bildungsbereich sorgte. Das trifft besonders auf die Sozial- und Geisteswissenschaften zu. Im Jahr 2007 entzog die Regierung ausserdem zwei feministischen Organisationen die Genehmigung für ihre Betätigung (eine soziale Initiative und eine mit der dem Regime nahestehenden kommunistischen Partei verbundene Organisation).
Die Akteure der Volksbewegung
Wir müssen jetzt unsere Gründe dafür darlegen, warum wir die Mobilisierung des syrischen Volkes und seine wesentlichen öffentlichen Erscheinungsformen als „Volksbewegung“ charakterisieren. Tatsächlich kommen die AkteurInnen dieser Bewegung aus mehreren unterschiedlichen Bereichen. Zuallererst finden sich dort Aktive der Kämpfe gegen das Regime vor der Erhebung von 2011, insbesondere seit dem „Damaszener Frühling“ (2001), die aus den Mittelschichten kommen, oft junge Leute mit Hochschulabschluss, die in sozialen Netzwerken agieren. Ihre Tätigkeit zielte vor allem auf die Respektierung der demokratischen Rechte in Syrien ab; einige von ihnen waren schon gegen den Krieg im Irak und für die palästinensische Sache engagiert gewesen. In ihrer grossen Mehrzahl sind sie demokratisch und laizistisch eingestellt und in allen Bevölkerungsgruppen zu finden, auch bei den alawitischen, christlichen und drusischen usw. Minderheiten.Zu erwähnen sind auch verschiedene Gruppen von AktivistInnen aus den verschiedenen Regionen des Landes, wie die Jugendlichen aus Daraya, einem Vorort von Damaskus, die seit fast zehn Jahren in sozialen Netzwerken agieren. Sie hatten eine Kampagne gegen die Korruption lanciert und im April 2003 eine Demonstration nach dem Fall von Bagdad organisiert, in deren Verlauf sie unter dem Vorwand, „eine nicht registrierte politische Gruppe zu bilden und den Konfessionalismus zu verbreiten“, verhaftet worden waren. Die Jugendlichen von Daraya glaubten an ihr gesellschaftliches Engagement und liessen sich von historischen Beispielen gewaltfreier Bewegungungen inspirieren. Sie bauten eine Wanderbibliothek und verteilten Bücher an die Bevölkerung ihrer Stadtteile. Sie haben Strassen gereinigt und Filme über Gandhi in einer Moschee gezeigt.
Alle diese Aktiven waren von Anfang an bei der Erhebung am 26. März 2011 dabei. Sie spielen bis heute in den Komitees vor Ort und für die Organisierung gewaltfreier Aktionen gegen das Regime eine wichtige Rolle. Die Generalkommission der Syrischen Revolution, ein Zusammenschluss der örtlichen Komitees, wird u.a. von Suhair Atassi geführt, die seit langem eine Oppositionelle ist und aus einer politisch angesehenen Familie kommt. Sie spricht auch für das Atassi-Forum, das vom Regime in den 2000er Jahren verboten worden war. Sie selbst wurde nach der Demonstration am 16. März für zehn Tage unter der Beschuldigung inhaftiert, eine der Organisatorinnen der Demonstration zu sein. Nach einigen Monaten im Untergrund lebt sie heute im Exil. Die Koordination der Lokalen Komitees, eine weitere wichtige Organisation, wird von der Rechtsanwältin Razan Zeitouneh geführt.
Das Regime zielt vor allem auf diese Art von AktivistInnen ab, die Demonstrationen, Akte zivilen Ungehorsams und Kampagnen für Streiks initiieren, wegen ihrer organisatorischen Fähigkeiten und wegen ihrer demokratischen und säkularen Positionen, die die Propaganda des Regimes widerlegen, dass alles ein Komplott bewaffneter islamistischer und extremistischer Gruppen sei. Ein Teil von ihnen wurde inhaftiert, umgebracht oder ins Exil getrieben, auch wenn sie trotz der grausamen Repression immer noch präsent sind. Sie spielen im laufenden revolutionären Prozess eine wichtige Rolle, indem sie versuchen, die verschiedenen Widerstandsformen gegen das Regime in der Bevölkerung miteinander in Beziehung zu bringen.
Die zweite und wahrscheinlich wichtigste Komponente der syrischen revolutionären Bewegung ist die der ländlichen ArbeiterInnen, aber auch der ökonomisch marginalisierten städtischen Lohnabhängigen und kleinen Selbständigen, die unmittelbar und einschneidend Opfer der neoliberalen Politik wurden, die insbesondere seit dem Machtantritt von Baschar al-Assad umgesetzt worden war. Die Geographie der Revolten in Idlib und Daraa, wie auch in anderen ländlichen Gebieten, in allen historischen Bastionen der Baath-Partei, die am Aufstand vom Anfang der 80er Jahre im Gegensatz zu heute nicht in nennenswertem Ausmass teilgenommen hatten, auch in den Vororten von Damaskus und Aleppo, zeigt die Bedeutung der Opfer des Neoliberalismus in dieser Revolution. Aus diesem Bestandteil der aktuellen Proteste kommt ein Teil derjenigen, die sich den bewaffneten Gruppen der Freien Syrischen Armee (FSA) angeschlossen haben, zuerst, um die gewaltfreien Demonstrationen zu verteidigen und später mit offensiveren Vorstellungen.
Weiterhin kann man das Auftauchen von protestierenden Gruppen feststellen, die sich um Scheichs in bestimmten Vierteln gruppieren, die sich gegen das Regime stellen. Viele von ihnen sind deshalb verhaftet worden, während andere aus dem Land fliehen konnten. Und schliesslich nehmen auch „traditionellere“ Bestandteile an der Volksbewegung teil, darunter bestimmte kurdische Parteien, linke Gruppen, Nationalisten, Liberale und Islamisten.
Die Bestandteile der politischen Opposition
Die beiden bekanntesten und auf der politischen Ebene wichtigsten Formationen der Opposition sind der Syrische Nationalrat (SNC/CNS) und das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (CNCD), Der SNC besteht aus Gruppen der Opposition gegen das Regime im Exil; er wird dominiert von der Bewegung der Moslembrüder und von liberalen Persönlichkeiten; er ist sehr stark mit den westlichen Regierungen und mit den Golfmonarchien verbunden, vor allem mit dem Emirat von Katar. Das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel umfasst Nationalisten, linke Elemente und kurdische Organisationen; es hat mehr diplomatische Verbindungen mit Regierungen, die dem syrischen Regime nahe stehen, wie mit dem Iran, Russland und China. Im Übrigen gibt es im Lande selbst viele andere politische Gruppierungen, die noch nicht in den beiden genannten grossen Zusammenschlüssen der Opposition repräsentiert sind. Der Versuch, die Opposition zu vereinigen, ist Ende Dezember 2011 gescheitert, nachdem der SNC sich von einem einige Tage vorher unterschriebenen Abkommen mit dem Nationalen Koordinationskomitee losgesagt hatte. Dieses Abkommen behandelte ein gemeinsames politisches Programm, das sich gegen eine westliche Intervention in Syrien aussprach. Es ist genau dieser Punkt der Ablehnung einer Intervention von aussen, aus dem sich die mit den westlichen Mächten verbundenen Kräfte im SNC wie die Liberalen und die Muslimbrüder entschieden haben, auf die gemeinsame Front zu verzichten.Hinzuzufügen ist, dass die beiden oben genannten politischen Koalitionen von einem Teil der öffentlichen Meinung sowohl im Lande selbst wie von ausserhalb mehr und mehr kritisiert worden sind, weil sie nicht aufhören, sich gegenseitig anzugreifen und sich mehr daran interessiert zeigen, die Macht für sich selber zu sichern, als konkret für die Unterstützung der Volksbewegung zu handeln. Beide Bündnisse sind auch aus anderen Gründen problematisch. Der SNC ist ein Block, der vor allem Oppositionelle im Exil umfasst. Er wird von politischen Parteien und Persönlichkeiten dominiert, die in verschiedenen Abstufungen mit den westlichen Ländern und den Golfstaaten verbunden sind, insbesondere von den Muslimbrüdern und von Liberalen, wie auch von der Partei des Volkes, die zuvor unter dem Namen Syrische Kommunistische Partei-Politbüro von Riad al-Turk (PCBP) bekannt war. Sie haben mehrfach zu einer ausländischen Militärintervention in Syrien aufgerufen, aber ohne Erfolg. Was das Nationale Koordinationskomitee betrifft, so sind in ihm linksnationalistische und kurdische Kräfte zusammengeschlossen, die innerhalb Syriens aktiv sind.
Es lehnt jedwede ausländische Militärintervention ab, die die Ergebnisse einer Erhebung verfälschen könnte, die sie als Revolution verstehen. Sie wollen nicht, dass Syrien „Opfer eines Stellvertreterkriegs wird“ und beziehen sich dabei auf die Rivalität zwischen den arabischen Staaten und dem Iran in dieser Weltregion. Doch seine Popularität hat abgenommen, weil es bis vor Kurzem nicht den Sturz des Regimes forderte, trotz dessen brutaler Unterdrückungspolitik, und weil es den Dialog mit den angeblich „gemässigten“ Teilen des Regimes, „an deren Händen kein Blut klebt“, nicht verweigerte, vor allem nicht mit Faruk al Shareh, dem Vizepräsidenten und Angehörigen der Baath-Partei. Es plädierte eher für einen graduellen und kontrollierten Übergang zu neuen Machtverhältnissen.
Festzuhalten ist auch der Zusammenschluss einer gewissen Anzahl kurdischer Parteien zum Kurdischen Nationalrat, der stark von der irakisch-kurdischen Führungspersönlichkeit Massud Barzani beeinflusst wird. Ein anderer wichtiger Akteur der kurdischen Szene ist die Partei der Demokratischen Union (unter dem Namen PYD bekannt), die den syrischen Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) darstellt.
Die Linke und die syrische Revolution
Verschiedene Kräfte der Linken waren von Anfang Teil des revolutionären Prozesses in Syrien. Es gibt viele kleine linke Gruppen und Jugendliche, die sich am revolutionären Prozess beteiligen, in Volkskomitees vor Ort, bei der Organisierung von Demonstrationen und von Diensttleistungen für die Bevölkerung. Die Linke hat sich vor allem in der zivilgesellschaftlichen Arbeit engagiert, im Gegensatz zur bewaffneten Arbeit.Die Watan-Koalition, die im Februar 2012 aus 17 linken Organisationen hervorgegangen war, ist wegen der Repression gegen ihre Mitglieder allmählich verschwunden. In ihrer Charta hiess es: „Das unumgängliche Ziel unserer Revolution ist der Sturz des Regimes und der Aufbau eines zivilen demokratischen Staats – eines Rechtsstaats der Gerechtigkeit und der Staatsbürgerschaft für alle. Ein Staat für alle Bürger, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit, von ihrem Geschlecht und von ihrer Religion oder Konfession.“ (Coalition Watan 2012) Dennoch hat es seither andere Anläufe linker Organisationen gegeben, die bislang noch im Stadium der vorbereitenden Gespräche geblieben sind.
Verschiedene Kräfte der Linken waren von Beginn an am syrischen revolutionären Prozess beteiligt. Es gibt die Partei des Volkes (angeführt von Riad al-Turk und George Sabra, die im SNC vertreten sind). Die vom syrisch-palästinensischen Intellektuellen Salameh Kaileh angeführte Allianz der Linken, das Kommunistische Komitee Syriens und einige andere Parteien gehören zum Nationalen Komitee für demokratischen Wandel.
Wir können viele andere kleine linke Gruppen und Jugendliche in Syrien sehen, die sich am revolutionären Prozess in Volkskomitees vor Ort beteiligen, Demonstrationen und Dienstleistungen für die Bevölkerung organisieren. Die Linke war vor allem zivilgesellschaftlich organisiert im Gegensatz zum militärischen Engagement, auch wenn es Angehörige linker Parteien und links orientierte Aktive in den Bataillonen der Freien Syrischen Armee (FSA) gibt.
Trotz unserer bescheidenen Mittel haben wir vom Courant de la Gauche Révolutionnaire en Syrie (CGRS, Strömung der Revolutionären Linken in Syrien) niemals inne gehalten in unserem Engagement für die Revolution, in der wir zur Demokratie und zum Sozialismus aufrufen. Wir haben auf der Seite der Bevölkerung und aller demokratischen Kräfte für den Sieg dieser grossen Volksrevolution gekämpft, wie wir uns auch für den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei einsetzen. Nach unserer Einschätzung geht die Dynamik der Revolution hin zum Aufbau einer Demokratie von unten (vgl. das Programm der Strömung der revolutionären Linken in Syrien, Revolutionary Left Current 2011).
Die internationalen imperialistischen Zielsetzungen
Seit Anfang der Erhebung haben die Vereinigten Staaten und die Europäische Union versucht, auf das syrische Regime Druck auszuüben, damit es Reformen zu Gunsten eines friedlichen Übergangs zu neuen Machtverhältnissen einleitet, die dem Land und den benachbarten Staaten eine gewisse Stabilität garantieren könnten. Alle Initiativen der „Weltgemeinschaft“ und der UNO haben in der Tat auf einen friedlichen Übergang der Machtverhältnisse gesetzt, wie es auch der letzte Friedensplan des Sonderbeauftragten der UNO, Lakhdar Ibrahimi, von Ende Dezember 2012 zeigt, Dieser Plan, der von der gesamten „Weltgemeinschaft“ einschliesslich Russlands und der USA unterstützt wurde, schlug die Bildung einer nationalen Übergangsregierung vor, die unter dem Schirm der UNO die Exekutivgewalt bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2014 ausüben sollte. In dieser Zeitspanne sollte der Diktator Baschar al-Assad als Präsident an der Spitze des Staats bleiben.Die internationalen Kräfte scheinen also in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite wollen die Westmächte für die syrische Krise eine „jemenitische Lösung“ durchsetzen – einen „demokratischen“ Übergang, der die Eliten und die Machtstrukturen unangetastet lässt, wobei sie vom Iran und von Russland, diesen treuen Freunden des Assad-Regimes, unterstützt werden. Auf der anderen Seite stehen Kräfte mit Saudi-Arabien und Katar an der Spitze, die die Erhebung in einen sektiererischen Krieg verwandeln wollen, aus Furcht davor, dass die Aufrufe zur Revolution auch ihre Länder erreichen und faktisch ihre Macht und ihre Interessen gefährden könnten.
Diese Regimes sind der Mittelpunkt der Konterrevolution in der gesamten Region, also wenden sie sich gegen die Massenbewegungen und unterstützen in den Ländern, in denen es Veränderungen an der Spitze der Macht gab, bestimmte Parteien: Sie versuchen in der Tat eine radikale Änderung der politischen und ökonomischen Bedingungen zu verhindern. In Syrien unterstützen sie islamistische Gruppen wie die Organisation der Jabhat al-Nusra. Diese haben eine konfessionalistische Ideologie und entwickeln eine aggressive Rhetorik gegen die sunnitischen Muslime, die mit ihrer konservativen Interpretation des Islam nicht einverstanden sind, und auch gegen Minderheiten, wie vor allem gegen den alawitsischen Bevölkerungsteil, den sie als häretisch brandmarken. Ihr Diskurs steht im Gegensatz zum Geist der Revolution, der die Einheit des syrischen Volks gegen jede konfessionelle Spaltung hochhält und für Freiheit und Würde kämpft. Aus diesem Grund versuchen sie auch, die Rolle der Volkskomitees zurückzudrängen, manchmal mit Gewalt. Die Position der Vereinigten Staaten wendet sich nicht gegen diese Orientierung, weshalb sie sich weigern, den mit der FSA verbundenen Gruppen geeignetes Material zu liefern, aber nicht gegen Waffenlieferungen der Golfmonarchien an die mit der FSA nicht verbundenen islamistischen Gruppen sind. Es sei darauf hingewiesen, dass mit der realen Umsetzung der rhetorischen Positionen gewisser europäischer Staaten wie Frankreich und England in Bezug auf die im März 2013 angekündigten Waffenlieferungen an die Aufständischen bisher noch nicht begonnen wurde.
Zur Haltung der bisher genannten Kräfte muss man natürlich auch diejenige Israels benennen. In erster Linie ist sicher, dass keine westliche Macht und noch weniger die israelischen Autoritäten irgendeine Instabilität an den Grenzen des jüdischen Staats wünschen, wobei ja das syrische Regime der Assad sich seit der Errichtung einer entmilitarisierten Zone im Jahr 1974 als fähig erwiesen hat, die südwestlichen Grenzen zu garantieren, indem es jeden bewaffneten oder gewaltfreien Widerstand auf den seit 1967 besetzten Golan-Höhen und auch in den anderen Landesteilen unterbunden hat.
Das syrische Regime hat auch, im Einverständnis mit den Westmächten und Israel, 1976 militärisch im Libanon interveniert, um den palästinensischen Widerstand und die libanesische Linke zu zerschlagen. Die syrische Präsenz im Libanon deckte insbesondere die Belagerung des palästinensischen Flüchtlingslager Tel al-Zaatar und das dort von christlichen Phalangisten angerichtete Massaker, dem über 2000 PalästinenserInnen zum Opfer fielen. Eine neue politische Macht aus diesen beiden Akteuren wäre eine ernsthafte Bedrohung für das syrische Regime gewesen, dass sich als Vorkämpfer der arabischen Sache und des Sozialismus ausgegeben hat, aber in Wirklichkeit immer nur auf den Erhalt seiner eigenen Macht mit allen Mitteln bedacht war.
Die palästinensichen Flüchtlinge täuschen sich darüber nicht, und darum nimmt eine wachsende Zahl von ihnen seit Beginn der Revolution auf der Seite ihrer syrischen Brüder und Schwestern an der Revolution teil. Sie haben ebenfalls unter der Repression gelitten, unter Verhaftungen und Hinrichtungen, wobei mehrere Lager Zielscheibe der Angriffe des syrischen Regimes waren, darunter das von Yarmuk in Damaskus, das unter einer wochenlangen Belagerung durch die Armee gelitten hat.
Syrien hat über fast vier Jahrzehnte hinweg jede offene Konfrontation mit Israel vermieden, obwohl es palästinensische und libanesische Widerstandsgruppen in Massen unterstützt hat. Mit Ausnahme einiger Scharmützel ihrer Luftwaffen im Jahr 1982, hatten Israel und Syrien seit 1973 keinen militärischen Konflikt. Syrien hat die direkten Angriffe auf sein Territorium, die weithin Israel zugeschrieben werden, unbeantwortet gelassen (Luftangriff auf einen vermuteten Atomreaktor 2007; Ermordung des führenden libanesischen Widerstandskämpfers Imad Mughniyya 2008). Während des Kriegs im Libanon im Jahr 2006 ist kein Schuss von syrischem Territorium ausgegangen. Syrien war an einer Vielzahl von Friedensgesprächen beteiligt. Auch wenn diese Verhandlungen nicht zu einer Vereinbarung geführt haben, hat ihr Scheitern nur ein „eisiges“ Klima zwischen den beiden Ländern aufrechterhalten. Nach Einschätzung der israelischen Experten könnte die Destabilisierung des syrischen Regimes oder seine Beseitigung diesen lange anhaltenden Zustand verändern. Syrische Offizielle haben mehrfach erklärt, dass sie bereit sind, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen, sobald die Besetzung der Golan-Höhen beendet wird. Dabei haben sie zur umfassenderen Frage nach dem Status der PalästinenserInnen nichts verlauten lassen. Rami Makhlouf, ein Cousin von Baschar al-Assad, erklärte im Juni 2011, dass es ohne Stabilität in Syrien keine Stabilität in Israel geben werde. Er hat fügte hinzu, niemand könne wissen, was geschieht, wenn dem syrischen Regime etwas passiert.
Dieses Regime hat also eindeutig zur Stabilisierung der Grenzen Israels beigetragen und ausserdem mehrmals nachhaltig mit den Westmächten paktiert, zuerst im ersten Golfkrieg gegen den Irak im Jahr 1991, dann durch einen systematischen Informationsaustausch im „Krieg gegen den Terrorismus“, der vom ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush geführt wurde. Aus diesem Grund wurde Diktator Baschar al-Assad zu Anfang des revolutionären Prozesses im März 2011 von Hillary Clinton, einer Vertreterin der amerikanischen Politik, als „Reformer“ bezeichnet, eine Position, die sie während der ersten sechs Monate der Revolution aufrechterhielt, während Assad noch im Dezember 2011 vom damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Élysée-Palast zum Mittagessen eingeladen worden wurde.
Die syrische Opposition innerhalb des Landes hat die Manöver ausserhalb des Landes abgelehnt, die darauf abzielen, die Struktur des Regimes zu erhalten: Darum haben sich zahlreiche grosse Demonstrationen und zahlreiche Erklärungen gegen den Vorschlag des Vorsitzenden des SNC Moaz al-Khatib gewendet, einen Dialog mit dem Regime von Baschar al-Assad zu führen. Bei den Demonstrationen am 8. Februar gab es Transparente, auf denen zu lesen war: „Wir werden nur über die Abdankung des Regimes verhandeln“. (Syria Freedom Forever 2013). Die Massenbewegung hat sich mehrfach dieser Art von „politischer Lösung“ widersetzt, die ihren Interessen zuwiderläuft. Die Aufrechterhaltung des Regimes wäre in der Tat die schlimmste der Lösungen.
Auf den grossen Freitagsdemonstrationen haben die Lokalen Koordinationskomitees (LKK) am 20. September 2013 ein Communiqué mit der Überschrift „Nur die Syrer können Syrien befreien“ veröffentlicht, in dem insbesondere erklärt wird, dass trotz der Brutalität des syrischen Regimes und der Schwäche der internationalen Gemeinschaft der Wille des syrischen Volkes immer weiter wachse, sich der Revolution aktiv anzuschliessen, und dass der Wille des syrischen Volkes die mächtigste Waffe gegen die Tyrannei bleiben werde. Die Genfer Konferenz II, die Mitte November stattfinden sollte, und die von den Verbündeten des syrischen Regimes (Iran, Russland und der Hizbollah) auf der einen Seite und von den westlichen Ländern mit den USA an der Spitze auf der anderen Seite unterstützt wird, ist nur eine weitere Widerholung der wesentlichen Initiativen der Vergangenheit, um eine Art jemenitischer Lösung auf den Weg zu bringen.
Breite Teile der Massenbewegung drücken weiter ihre Ablehnung jeglicher Verhandlungslösung mit dem Regime aus – so konnte man während der zahlreichen Demonstrationen im Oktober 2013 viele Plakate und Mitteilungen lesen, auf denen es hiess : „Nicht in Genf, sondern in Den Haag“ entscheide sich die Zukunft, womit der Wille zum Ausdruck kommt, die Repräsentanten des Regimes vor ein Gericht zu stellen. Die Bevölkerung der belagerten Gebiete hat auf Demonstrationen sogar gerufen, es sei « besser zu sterben als zu kapitulieren“. Die Massenbewegung drückt also weiterhin aus, dass sie das Regime stürzen will, um ein neues, demokratisches Syrien aufzubauen. Innerhalb der politischen Opposition gibt es Meinungsverschiedenheiten zur Beteiligung an Genf. Ein Teil der Führung unter Michel Kilo ist für Verhandlungen, das Nationale Koordinationskomitee auch. Der SNC, einer der wichtigsten Bestandteile der Opposition, hat angekündigt, er werde sich weigern teilzunehmen, wenn nicht als Vorbedingung die Abdankung Baschar al Assads und seines Regimes vereinbart wird. Die Freie Syrische Armee, die nicht nur mit den Kräften des Regimes, sondern auch mit den dschihadistischen Gruppen in Konfrontation steht, ist ebenfalls gegen jede Verhandlung, wenn es Garantie dafür gibt, dass der syrische Diktatur und sein Regime verschwinden.
Die Massenbewegung und die Selbstorganisation
Von Beginn der Revolution an waren die wichtigsten Organisationsformen die Basiskomitees in den Dörfern, Stadtvierteln, Städten und Regionen. Diese Volkskomitees waren die wahre Speerspitze der Bewegung, indem sie die Massen zu den Demonstrationen mobilisiert haben. Später haben sie in den vom Zugriff des Regimes befreiten Zonen Formen der Selbstverwaltung auf Grundlage der Organisierung der Massen entwickelt. Dort sind von der Bevölkerung gewählte Räte entstanden, um die befreiten Regionen zu verwalten, was bewiesen hat, dass das Regime die Anarchie verursacht, und nicht das Volk.In bestimmten befreiten Gebieten, die die bewaffneten Kräfte des Regimes verlassen mussten, wurden zivile Veraltungsstrukturen geschaffen, um auf die Abwesenheit des Staats zu reagieren und seine Verantwortlichkeiten in einer Reihe von Bereichen zu übernehmen, so für die Schulen, die Krankenhäuser, die Strassen, die Versorgung mit Wasser, Elektriszität und Kommunikationsmitteln. Diese zivilen Verwaltungen werden durch Wahlen und (oder?) durch Konsens der Bevölkerung eingerichtet und haben als Hauptaufgabe die Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienste, der öffentlichen Sicherheit und des friedlichen Miteinanders der BürgerInnen.
In bestimmten Regionen, Stadtvierteln und Dörfern waren freie örtliche Wahlen in den „befreiten“ Gebieten die ersten seit vierzig Jahren. So zum Beispiel in der Stadt Deir ez-Zor Ende Februar 2013, wo Ahmad Mohammad, einer der Wähler, erklärte: „Wir wollen einen demokratischen Staat, nicht einen islamischen Staat, wir wollen einen säkularen Staat, der von Zivilpersonen verwaltet wird, und nicht von Mullahs.“ Diese örtlichen Räte spiegeln den Verantwortungssinn und die Fähigkeit der BürgerInnen wider, die Initiative zu ergreifen, um ihre Angelegenheiten zu regeln, indem sie sich auf ihre Fachleute, ihre Erfahrung und ihre eigenen Energien stützen. Es gibt sie in verschiedenen Formen, sowohl in Zonen, die noch vom Regime beherrscht werden, wie auch in solchen, die sich von ihm befreit haben.
Ein weiteres konkretes Beispiel für diese Dynamik der Selbstorganisation ist die Gründungsversammlung der Koalition der revolutionären Jugend in Syrien, die Anfang Juni in Aleppo stattgefunden hat. In dieser Versammlung trafen sich zahlreiche AktivistInnen und Koordinierungskomitees, die seit Beginn der Revolution in Syrien an der Basis eine wichtige Rolle gespielt haben, aus verschiedenen Regionen des Landes kamen und weite Bereiche der syrischen Gesellschaft repräsentierten. Die Konferenz wurde als Schlüsselereignis dargestellt, um die revolutionäre Jugend in allen Gemeinschaften zu repräsentieren. Das alles bedeutet nicht, dass es bei diesen Volksräten keine Mängel gäbe, die tatsächlich vorkommen, wie in Sachen Repräsentation der Frauen oder bestimmter Minderheiten. Es handelt sich nicht darum, die Realität zu verschönern, sondern sie wahrheitsgemäss richtigzustellen.
Ein anderes, für die populare Dynamik der Revolution ebenso wichtiges Moment ist die schlagartige Entstehung unabhängiger Zeitungen, die von Organen der Volksmacht herausgegeben werden. Die Zahl der Zeitungen hat tatsächlich von drei in der Hand des Regimes vor der Revolution auf ungefähr 60 zugenommen, die von Gruppen aus der Massenbewegung produziert werden.
Das Beispiel von Raqqa
Ein ausgeprägtes Beispiel für die Selbstorganisation der Massen ist Raqqa, die einzige befreite Provinzhauptstadt (seit März 2013). Obgleich immer noch von der Luftwaffe des Regimes bombardiert, ist Raqqa völlig autonom, und es ist die örtliche Bevölkerung, die die gemeinschaftlichen Dienste verwaltet.In Raqqa werden die Volksorganisationen meistenteils von Jugendlichen geleitet. Sie wurden immer mehr, bis zu dem Punkt, dass Ende Mai mehr als 42 soziale Bewegungen offiziell registriert waren. Die Volkskomitees haben verschiedene Kampagnen organisiert. Ein Beispiel dafür ist die Kampagne „Die Fahne der syrischen Revolution repräsentiert mich“: Sie besteht darin, die Revolutionsfahne in den Vierteln und Strassenzügen auf Mauern zu malen, um sich der Kampagne der Islamisten zu widersetzen, die die schwarze Fahne des Islam durchsetzen wollten. Auf kultureller Ebene ist in der Stadtmitte ein Theaterstück aufgeführt worden, das sich über das Assad-Regime lustig macht, und Anfang Juni haben Volksorganisationen eine Ausstellung mit örtlichen künstlerischen und kunsthandwerklichen Produkten organisiert. Zentren sind eingerichtet worden, in denen sich Jugendliche sinnvoll betätigen können und in denen die von den Kriegserfahrungen verursachten psychischen Störungen behandelt werden. Die Prüfungen für das syrische Abitur am Jahresende, im Juni und Juli, sind insgesamt von Freiwilligen durchgeführt worden.
Diese Art von Erfahrungen der Selbstorganisation findet sich in zahlreichen befreiten Gebieten wieder. Festzuhalten ist, dass die Frauen in diesen Bewegungen und auch bei den Demonstrationen im Allgemeinen eine grosse Rolle spielen. So fand zum Beispiel am 18. Juni 2013 in Raqqa vor dem Hauptquartier der islamischen Gruppe Jabat al-Nusra eine sehr grosse Demonstration statt, die von Frauen angeführt wurdet, bei der die Demonstrantinnen die Befreiung der eingekerkerten Gefangenen forderten. Die Demonstranten riefen Parolen gegen Jabat al-Nusra gerufen und verurteilten deren Handlungsweise. Sie gingen so weit, den ersten Slogan von Damaskus vom Februar 2011 zu skandieren: „Das syrische Volk weigert sich, sich demütigen zu lassen.“ Die Gruppe „Haquna“ („Unser Recht“), in der viele Frauen organisiert sind, hat ebenfalls viele Versammlungen gegen die islamistischen Gruppen in Raqqa durchgeführt, auf denen sie zum Beispiel riefen: „Raqqa ist frei, Jabat al-Nusra raus.“
Neuerdings haben auch zahlreiche Demonstrationen gegen den Islamischen Staat von Irak und Syrien (ISIS) stattgefunden.
Im Juni wurde in der Stadt Deir ez-Zor eine Kampagne örtlicher AktivistInnen mit dem Ziel gestartet worden, die BürgerInnen dazu zu ermutigen, an den Aktivitäten der Beaufsichtigung und Dokumentierung der Tätigkeit der örtlichen Räte teilzunehmen und auch ihre Rechte einzufordern und eine Kultur der Respektierung der Menschenrechte in der Gesellschaft zu fördern. Besonderer Nachdruck wurde in dieser Kampagne auf die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit für alle gelegt.
Gegen die Islamisten
Dieselben Volksorganisationen haben sich oft den bewaffneten islamistischen Gruppen widersetzt, die nämlich mit Gewalt die Kontrolle der befreiten Gebiete übernehmen wollen, obwohl sie keine Wurzeln in der Volksbewegung haben und nicht aus der Revolution hervorgegangen sind.In Raqqa zum Beispiel hat es einen kontinuierlichen und unerschütterlichen Widerstand gegen die islamistischen Gruppen gegeben. Seitdem die Stadt von den Truppen des Regimes im März 2013 befreit worden war, wurden zahlreiche Demonstrationen gegen die autoritären Ideologien und Praktiken der islamistischen Gruppen organisiert. Es hat Solidaritätskundgebungen mit entführten AktivistInnen gegeben, um ihre Freilassung aus den Fängen der Islamisten zu verlangen. Eine solche Demonstration hat die Freilassung von AktivistInnen ermöglicht, aber andere sind bis heute inhaftiert, wie etzwa der bekannte Pater Paolo undFiras al-Haj Saleh, den Bruder des Intellektuelllen-Aktivisten Yassin Haj Saleh.
Ähnliche Demonstrationen der Volksmassen gegen die autoritären und reaktionären Praktiken der Islamisten haben in Aleppo, Mayadin, al-Kusair und in anderen Städten wie Kanfranbel stattgefunden. Diese Kämpfe gehen heute weiter.
Im Stadtviertel Bustan al-Qasr in Aleppo hat die örtliche Bevölkerung immer wieder gegen die Handlungen des Scharia-Rats von Aleppo demonstriert, in dem sich mehrere islamistische Gruppen zusammengetan haben. Am 23. August zum Beipiel haben die Demonstranten in Bustan al-Qasr in gleicher Weise das mittels Chemiewaffen vom Regime an der Bevölkerung von Ghouta verübte Massaker verurteilt und die Freilassung des bekannten Aktivisten Abu Maryam gefordert, der wieder einmal vom Schartia-Rat von Aleppo gefangen genommen worden war. Vorher, gegen Ende Juni 2013, hatten Demonstranten wegen der fortgesetzten repressiven und autoritären Politik dieses Rats in diesem selben Stadtviertel gerufen: „Verpiss dich, islamischer Rat“.
Auch das von ausländischen Dschihadisten der Gruppe ISIS verübte Attentat auf einen 14jährigen Jungen wegen eines angeblich blasphemische Witzes, in dem auf den Propheten Mohammed angespielt wurde, führte zu einem Ausbruch des Volkszorns. Damals wurde vom Volkskomitee von Bustan al-Qasr eine Demonstration gegen den Islamischen Rat und die islamistischen Gruppen organisiert, auf der die Parole gerufen wurde: „Welch eine Schande, welche eine Schande, die Revolutionäre sind shabbiha“, oder es wurden mit Bezug auf den Islamischen Rat die Sicherheitskräfte des Assad-Regimes genannt, als klare Anspielung auf die autoritären Praktiken des Rats.
Es gibt wöchentliche Demonstrationen, die jeden Freitag stattfinden. Bei der Freitagsdemonstration vom 2. August 2013 haben die örtlichen Koordinationskomitees (LKK), die in der Revolution eine wichtige Rolle bei der Information, aber auch bei Hilfsleistungen, Vorratsbeschaffung und Dienstleistungen für die Bevölkerung und für die Flüchtlinge spielen, in ihrem Communiqué Folgendes erklärt: „In einer einheitlichen Botschaft der Revolution an die ganze Welt erklären wir, dass die Entführung von AktivistInnen und wichtigen Akteuren der Revolution nicht nur im Interesse der Tyrannei ist, sondern auch der Freiheit und Würde der Revolution schaden.“. Diese Botschaft war direkt an die reaktionären islamistischen Gruppen gerichtet.
Im selben Geist haben die LKK am 28. Juli 2013 eine Botschaft mit dem Titel: „Es ist dieselbe Tyrannei, die im Namen der Religion oder im Namen des Säkularismus ausgeübt wird“, womit Islamisten und Regime in einen Sack gesteckt wurden. Die LKK haben am 20. September 2013 eine weitere Botschaft herausgebracht, deren Überschrift folgenden Wortlaut hat: „Nur die Syrer werden Syrien befreien“, womit die aufs Neue ihre Ablehnung der Ersetzung der einen Tyrannei durch eine andere ausgerückt haben. Damit stellten sie die dschihadistische ISIS-Gruppe an den Pranger, deren Praxis „sich in Hinblick auf die Repression und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit nicht von den Praktiken des Assad-Regimes“ unterscheide.
Araber und Kurden vereint
Im Nordosten Syriens, wo eine überwiegend kurdische Bevölkerung lebt, haben die jüngsten Kämpfe zwischen islamistischen Milizen und kurdischen Milizen der (mit der PKK verbundenen) PYD Initiativen der Bevölkerung und von AktivistInnen veranlasst. Diese Volksinitiativen zielten darauf ab, die brüderliche Verbundenheit der Kurden und Araber in dieser Region zu zeigen und erneut zu bestätigen, dass die syrische Volksrevolution für alle ist und Rassismus und Sektierertum ausschliesst. Zum Zeitpunkt dieser Kämpfe in der Provinz von Raqqa, wurde in der Stadt Tall Abyad das Bataillon „Chirko Ayoubi“ gegründet, das sich am 22. Juli 2013 der Kurdischen Front angeschlossen hat.Dieses Bataillon besteht seitdem aus Arabern und Kurden. Sie haben eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie die Übergriffe der islamistischen Gruppen und die Versuche anprangern, das syrische Volk auf ethnischer oder kommunitaristischer Grundlage zu spalten. Die verschiedenen Bestandteile der FSA sind gleichwohl in dieser Frage nicht einig. Gewisse dieser Kräfte kämpfen auf Seiten der Islamisten, während andere sich den kurdischen Milizen angeschlossen und die von den islamistischen Gruppen begangenen Übergriffe verurteilt haben.
In Aleppo, im Stadtviertel von Achrafieh – wo hauptsächlich Kurden leben – gab es am 1. August 2013 eine Demonstration von mehreren hundert Personen für die Brüderlichkeit von Arabern und Kurden, auf der die von den extremistischen islamistischen Gruppen gegen die kurdische Bevölkerung begangenen Handlungen verurteilt wurden.
In der Stadt Tell Abyad, die Schauplatz intensiver Kämpfe gewesen ist, haben AktivistInnen verschiedene Initiativen ergriffen mit dem Ziel, den militärischen Konflikt zwischen den beiden Gruppen zu beenden, die Flucht und Vertreibung der Zivilbevölkerung zu stoppen, ein Volkskomitee ins Leben zu rufen, das das Alltagsleben der Stadt regiert und verwaltet und gemeinsame Initiativen und Aktivitäten der arabischen und der kurdischen Bevölkerung zu befördern, um mit friedlichen Mitteln zu einem Konsens zu gelangen. Diese Anstrengungen halten trotz der fortgesetzten Kämpfe zwischen islamistischen und kurdischen Milizen bis heute an.
In der Stadt Amuda haben sich am 5. August 2013 in etwa dreissig AktivistInnen mit kurdischen Fahnen und syrischen Revolutionsfahnen hinter einem Plakat versammelt, auf dem „Ich liebe dich, Homs“ stand, um ihre Solidarität mit dieser von der Armee des Regimes belagerten Stadt zu zeigen.
In jüngster Zeit noch haben örtliche AktivistInnen in der Stadt Qamischli, wo arabische (muslimische und christliche), kurdische und assyrische Bevölkerungsteile leben, zahlreiche Projekte in Gang gebracht, um die Koexistenz und die Verwaltung bestimmter Stadtteile durch gemeinsame Komitees sicherzustellen. In derselben Stadt hat der örtliche Zweig der Vereinigung freier kurdischen Studierender eine kleine Internet-Kampagne lanciert, mit der zu Freiheit, Frieden und Brüderlichkeit, Toleranz und Gleichheit für Syriens Zukunft aufgerufen wird.
Die traditionelle Opposition, von den Islamisten über die Nationalisten bis hin zu den Liberalen, befürwortet die kulturellen Rechte der Kurden, aber nicht ihre Autonomie. Die Bewegung der Revolutionären Linken in Syrien hat ihrerseits ihre Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes bekräftigt. Diese Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes hindert uns nicht daran, das kurdische Volk als gleichberechtigten Partner im Kampf gegen das verbrecherische Assad-Regime und für den Aufbau einer demokratischen, sozialistischen und säkularen Zukunft Syriens sehen zu wollen.
Ebenso haben wir die Machenschaften der Islamisten und anderer reaktionärer Kräfte und deren Versuche, das syrische Volk zu spalten, verurteilt. Auch ist es unakzeptabel, dass bestimmte Teile der syrischen Opposition, darunter der SNC, die Anerkennung der Rechte des kurdischen Volkes in Syrien verweigert, womit sie sich in dieser Hinsicht nicht von der nationalistischen Politik des Assad-Regimes unterscheiden.
Die Massenbewegung des syrischen Volkes hat in ihrer grossen Mehrheit nie aufgehört, ihre Ablehnung des Konfessionalismus zu bekräftigen, trotz der Versuche des Regimes und der islamistischen Gruppen, dieses gefährliche Feuer zu entzünden. Auf den Demonstrationen werden Parolen wie „Wir sind alle Syrer, wir sind alle vereint“ und „Nein zum Konfessionalismus“ bis heute ständig gerufen.
Es ist wichtig, die Schlüsselrolle zu verstehen, die die Volkskomitees und Selbstorganisationsformen für den Fortgang des revolutionären Prozesses spielen, denn das sind die wesentlichen Akteure, die der Massenbewegung ermöglichen zu widerstehen. Es handelt sich nicht darum, die Rolle des bewaffneten Widerstands herunterzuspielen, aber dieser hängt von der Massenbewegung ab, um den Kampf fortsetzen zu können.
Es ist nicht leicht, das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen, sehr stark in dieser Volksrevolution verwurzelten Volkskomitees und den reaktionären dschihadistischen und islamistischen Gruppen einzuschätzen, die nach wie vor von den Golfmonarchien finanziert werden; es ist aber gewiss, dass die Massenbewegung niemals die Ziele der Revolution aufgeben wird: Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Ablehnung des Konfessionalismus, trotz der ständigen Bedrohungen durch diese Gruppen und durch das Assad-Regime.
Schlussfolgerung
Die syrische Revolution ist immer noch lebendig, sie geht weiter und wird nicht aufhören. Trotz des gnadenlosen Kriegs des Regimes gegen die Massenbewegung und der wiederholten Massaker an der Zivilbevölkerung und trotz der Bedrohung durch die reaktionären islamistischen Gruppen im Innern. Obwohl diese Gruppen eine Minderheit darstellen, sind sie doch gefährlich; sie sind wegen ihrer Gegnerschaft zu den Zielen der Erhebung für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, wegen ihrer konfessionalistischen Ideologie und ihrer autoritären Praktiken ebenfalls Feinde der Revolution.Die Verlassenheit dieser Revolution, die weder von regionalen noch von internationalen Kräften nennenswerte Unterstützung erhält, entmutigt gleichwohl die Syrerinnen und Syrer nicht, die ihren Kampf für Freiheit und Würde in Permanenz fortsetzen, und das angesichts einer furchtbaren Repression. Der Sieg der syrischen Revolution wird die Entstehung revolutionärer Situationen in den Nachbarländern begünstigen und den revolutionären Prozess in anderen Ländern vertiefen. Der Widerstand und der Mut des syrischen Volkes inspirieren jeden Revolutionär, der für eine gerechtere Welt kämpft und benötigt daher die Solidarität der kämpfenden Völker auf Weltebene. Unsere Kämpfe sind miteinander verbunden, und jeder Sieg eines Volkes im Kampf für seine Befreiung hat nicht nur regionale, sondern auch internationale Auswirkungen. In dieser Dynamik liegt der ganze Sinn des Konzepts der Permanenten Revolution.
Das syrische Volk singt weiter, wie vor zwei Jahren schon „Das syrische Volk wird sich nicht unterwerfen“ und „Das syrische Volk wird nicht gedemütigt werden“ und „Lieber den Tod als die Demütigung“. Die Massenbewegung wird ihren Kampf bis zur Durchsetzung der Ziele der Revolution fortsetzen.
Lang leben die Volksrevolutionen!
Macht und Reichtum für das Volk!