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Anarchismus: Anmerkungen zum libertären Freiheitsbegriff

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»Anarchie ist Freiheit in Solidarität« Anarchismus: Anmerkungen zum libertären Freiheitsbegriff

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Politik

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen bemühte Friedrich Engels uralte, bis auf Platon zurückgehende Topoi der Herrschaftslegitimation, um die sogenannten Antiautoritären der Narretei zu überführen.

Der italienische Anarcho-Kommunist Errico Malatesta.
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Der italienische Anarcho-Kommunist Errico Malatesta. Foto: Der italienische Anarcho-Kommunist Errico Malatesta. (PD)

Datum 24. August 2016
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Es sei jedem verständigen Wesen einsichtig, dass keine Fabrik, kein Zug, kein Schiff ohne unbedingte Autorität zu führen sei, da diese »unabhängig von aller sozialen Organisation« sich den Menschen aufzwinge. Engels Polemik war wirkmächtig. Neben dem Bild der AnarchistInnen als bombenlegende TerroristInnen, das zur Hochphase spektakulärer europaweiter Attentate gegen Ende des 19. Jahrhunderts entworfen wurde, ist es der schlechte Ruf hoffnungslos naiver Phantasterei, der dem anarchistischen Freiheitsbegriff vorauseilt.

Der Anarchismus ist seit jeher nicht nur MarxistInnen/LeninistInnen und HerrschaftsapologetInnen aller Couleur eine gedankenlose Kinderei, sondern selbst ein so libertärer, durchaus marxismuskritischer Denker wie Adorno bläst in dasselbe Horn: Die »Wiederkehr« des Anarchismus sei »die eines Gespensts«.So wie der Anarchist als Bombenleger verdeckt, dass es gerade im Anarchismus stets eine lebendige Gewaltdiskussion gab, lässt der Klischee-Anarchismus jedoch vergessen, dass Teile der anarchistischen Tradition sehr viel mehr Reflexionspotential zu bieten haben, als es das Gerücht weismachen will.

An zwei historischen Beispielen – Errico Malatesta und Isaak Steinberg – wird im Folgenden gezeigt, dass der libertäre Freiheitsbegriff weder per se naiv noch »der ins Äusserste getriebene Liberalismus« ist.

Diese Behauptungen treffen fraglos bestimmte Spielarten des bekanntlich alles andere als einheitlichen Anarchismus. In seinen reflektierten Formen bietet der (kommunistische) Anarchismus allerdings einen Freiheitsbegriff, der weder unterkomplex-organisationsfeindlich noch pseudo-liberal ist.

Malatesta: »Anarchie ist Freiheit in Solidarität«

Wollte man sich auf ideengeschichtliche Spurensuche begeben, so liesse sich für grosse Teile des Anarchismus eine gewisse geistige Nähe zu Kant und eine Abneigung gegenüber Hegel konstatieren. Ähnlich wie in der Kritischen Theorie geht dies auf eine Kritik an der Hegelschen Geschichtsphilosophie zurück, der gegenüber bei aller Kritik an abstrakter oder bürgerlich-verlogener Moral dieselbe als Einspruchsinstanz des Subjekts gegen den Weltenlauf verteidigt wird; die Priorität liegt jeweils auf dem Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen und seinem vermeintlichen Fortschritt. Dennoch lässt sich bei dem italienischen Anarcho-Kommunisten Errico Malatesta (1853-1932) ein Freiheitsbegriff finden, der (vermittelt über Bakunin) durch die Schule Hegels gegangen ist.

Der deutsche Idealist bezeichnet das Resultat seiner immanenten Kritik am liberalen Freiheitsbegriff und an der (kantschen) Moralphilosophie als »konkrete Freiheit«. Es ist dies ein Begriff sozialer Freiheit des Individuums, der im Anderen und in den gesellschaftlichen Institutionen nicht per se eine Schranke und Begrenzung, sondern die »notwendige Lebensbedingung« der eigenen Freiheit erblickt. Die Autonomie des Einzelnen ist demnach vermittelt durch die vernünftige institutionelle Organisation des gesellschaftlichen Ganzen, die Hegel im Staat, Malatesta hingegen in der staatenlosen Anarchie verwirklicht sieht.

Malatesta pocht in vielen Schriften auf die unabdingbaren sozialen und materiellen Voraussetzungen von Freiheit: »Nun scheint es uns offensichtlich, dass die Organisation, das heisst die Vereinigung zu einem bestimmten Zweck, eine notwendige Sache für das gesellschaftliche Leben ist. Der isolierte Mensch kann noch nicht einmal schlicht vegetieren«.

Gegenüber dem Individual-Anarchismus betont Malatesta wiederholt, »dass die konkrete Freiheit, die reale Freiheit von Solidarität, Brüderlichkeit und freiwilliger Kooperation abhängt«, da der Mensch, frei von aller gesellschaftlichen Verbindung, allenfalls ein »Sklave seiner Arbeit« wäre, die als isolierter Kampf mit den Naturmächten kaum »seinen Hunger stillen« würde: »Freiheit ist kein abstraktes Recht [des vereinzelten Einzelnen; HW], sondern die Möglichkeit, etwas zu tun«, was die »Zusammenarbeit mit anderen Menschen« voraussetze. Die durch gesellschaftliche Entwicklung und praktische Kooperation generierten »Errungenschaften der Zivilisation« werden folgerichtig nicht maschinenstürmerisch preisgegeben, auch wenn diese in sich die Gewalt der Herrschaft tragen, mit der sie jedoch nicht identisch sind.

Die Alternative wäre die »Zerstörung jeder Gesellschaft«, was nicht nur »dem Tod der Menschheit gleichkäme«, sondern auch auf der falschen verschwörungstheoretischen Annahme basiere, dass die gesamte Gesellschaft und ihre zivilisatorische Entwicklung auf »Wunsch einer herrschenden Klasse geschaffen wurde«; in Wirklichkeit sei sie das Resultat von »tausend menschlichen und natürlichen Faktoren, die unparteiisch und ohne Zielvorstellung wirkten«.Sicher ist der Anarchismus vielfach stark vom negativen Freiheitsbegriff des Liberalismus geprägt, dem, wie es in einem seiner bedeutendsten Schriftstücke heisst, die »Gesellschaft selbst der Tyrann ist«.

Freiheit ist demzufolge Freiheit vom gesellschaftlichen Zwang, was man dann mit diversen anarchistischen Antis durchbuchstabieren und bis zur narzisstischen »Furie des Verschwindens« (Hegel) radikalisieren kann. Am Ende steht das vermittlungs- und beziehungslose abstrakte Ich, das die ganze Welt vernichten muss, um triumphieren zu können. Malatesta geht dem Liberalismus allerdings nicht auf den Leim und radikalisiert ihn auch nicht, sondern erkennt in ihm eine spezifische Form bürgerlicher Herrschaft, deren Kern das mit Staatsgewalt sanktionierte Recht auf Privateigentum (also Ausbeutung) ist, das die Menschheit in Klassen spalte und »die erste Ursache sämtlicher Übel der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung« darstelle.

Die Freiheit des Liberalismus ist den AnarchistInnen die der EigentümerInnen, die ihren Reichtum und soziale Macht gegenüber potentiellen Übergriffen des (Sozial-)Staats schützen wollen und allein in dieser Hinsicht den autoritär oder demokratisch regierten Leviathan kritisch beäugen: »Aber das wahre Wesen des Staates […] kann der Liberalismus nicht angreifen, denn die Besitzenden können ohne Polizei und Gendarmerie nicht bestehen. Und diese unterdrückende Macht der Regierung muss sogar umso stärker werden, je stärker in Folge der freien Konkurrenz die Uneinigkeit, die Ungleichheit unter den Menschen wird.«

Den ökonomisch individualistisch gesinnten AnarchistInnen hält Malatesta denn auch vor, mit der Verallgemeinerung des Privateigentums ein unrealistisches Programm zu verfolgen, das notwendig wieder in kapitalistische Verhältnisse führen müsse. An erster Stelle der Revolution stehe daher die Aufhebung des Privateigentums zusammen mit der Abschaffung des Staates als dessen Garanten, obgleich Malatesta, die Sowjetunion vor Augen, Probleme des Übergangs zu kommunistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen nicht unterschlägt.Als letzter Punkt sei hier, da er ebenfalls zum Standardrepertoire der Anarchismuskritik gehört, darauf verwiesen, dass Malatesta ein pointierter Kritiker des politischen und institutionellen Spontaneismus ist.

Zum einen verherrlicht Malatesta nicht die Massen, deren politische Bewusstlosigkeit und MittäterInnenschaft klar benannt wird: »Polizeischergen und Faschisten sind Diener der Bourgeoisie, doch kommen sie aus der Masse!« Der Angriff auf das System der Herrschaft kann auch nicht auf der Liquidation einzelner FunktionärInnen und ProfiteurInnen hinauslaufen: »Mit ein paar Bomben und Messerstichen kann eine Gesellschaft wie die bürgerliche nicht gestürzt werden, denn sie beruht auf einer ungeheuren Menge privater Interessen und Vorurteile und wird, mehr als durch Waffengewalt, durch die Trägheit der Massen und ihre gewohnheitsmässige Unterordnung aufrechterhalten.«

Theorie und Praxis der Anarchie sei unter den gegebenen Bedingungen daher durchaus nur über eine »kleine, durch besondere Umstände begünstigte Minderheit« voranzutreiben. Jedoch folgt für den Anarchisten hieraus nicht, dass eine selbsternannte Elite sich anmassen kann, die Menschen zu befreien und zu ihrem Glück zu zwingen, folglich ist ihm die »schlimmste Demokratie der besten Diktatur stets vorzuziehen«. Auf autoritärem Wege muss sich Herrschaft reproduzieren, nicht nur weil die Sonderstellung der Avantgarde letztlich willkürlich ist, sondern vor allem weil es keine Alternative zur Selbstbefreiung geben kann.

Diese muss mit allen Mitteln forciert und unterstützt werden. Sie kann aber nicht, ohne den Begriff ad absurdum zu führen, durch StellvertreterInnen ersetzt werden. Das Bewusstsein der Freiheit kann sich nur in der Praxis der Freiheit bilden, so schwer dies, was die Attraktivität des Leninismus erzeugt, unter den Bedingungen der Herrschaft auch ist: »Diese Schwäche, diese Neigung der Masse, Befehle dessen, der sich an ihre Spitze stellt, zu erwarten und zu befolgen, hat schon viele Revolutionen schlecht enden lassen«. Dennoch sei es unmöglich, was die Aporie der Befreiung ist, »dass einzelne Menschen und Gruppen die Freiheit und das Glück anderer garantieren können«. Diese müssen vielmehr »alle Menschen […] selbst entdecken und erobern«.Zum anderen geht Malatesta mit einem nihilistischen Destruktivismus ins Gericht, der sich als anarchistisch missversteht. Malatestas politischer Imperativ lässt sich darin zusammenfassen, dass die Abschaffung herrschender Institutionen kein Selbstzweck ist, sondern die Revolution die Pflicht hat, an die Stelle der Organe der Herrschaft neue gesellschaftliche Formen zu setzen.

Nicht nur muss die Freiheit institutionalisiert werden, sondern vor allem muss das gesellschaftliche Leben, dessen Materialität keine Pause kenne, am Laufen gehalten werden, was eine ungemein »komplizierte, unausweichliche und unaufschiebbare« Aufgabe sei: »Was die Probleme des Wiederaufbaus betrifft, so glauben sie [DestruktivistInnen und Spontis; HW], dass alles sich spontan, ohne vorherige Vorbereitung und Pläne von selbst regeln wird, dank einer mystischen Fähigkeit der Masse oder Kraft eines vorgeblichen Naturgesetzes, aufgrund dessen die Menschen – kaum sind staatliche Gewalt und kapitalistische Privilegien beseitigt – alle gut und verständig werden, die Interessengegensätze sofort verschwinden und Überfluss, Frieden und Harmonie unangefochten in der Welt herrschen würden.«

Wer nicht »etwas Besseres« zu bieten habe, so lässt sich Malatestas Kritik des Destruktivismus zusammenfassen, hat sein Recht verwirkt, das Bestehende anzugreifen: »›Den Nachkommen eine Erde ohne Privilegien, ohne Kirchen, ohne Gerichte, ohne Freudenhäuser, ohne Kasernen, ohne Unwissenheit, ohne törichte Ängste hinterlassen.‹ Ja, das ist unser Traum, und für seine Verwirklichung kämpfen wir. Aber das bedeutet, dass man ihnen eine neue gesellschaftliche Organisation, neue und bessere moralische und materielle Bedingungen hinterlassen muss.«

Steinberg: Kritik am Rätemythos

Obwohl oder vielleicht auch gerade weil Malatesta die Bedeutung der Frage der institutionellen Organisation der befreiten Gesellschaft besonders hervorhebt, gibt er kein präferiertes Modell hierfür vor. Dies widerspreche dem Grundgedanken der Anarchie, deren Wege zwar keinesfalls unergründlich, prinzipiell aber offen und unabgeschlossen seien. Allein dies sei realistisch, da es der unendlichen Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen entspreche: »Wir sind die Partei der Freiheit par excellence, die Partei der freien Entfaltung, die Partei gesellschaftlichen Experimentierens.« . Für den grössten Teil der radikalen Linken hingegen stell(t)en die Räte als Selbstregierungsorgane der Massen die »politische Form der sozialen Emanzipation« dar, wie eine viel zitierte, bisweilen geradezu kanonisierte Marxsche Formulierung lautet.

Der linke, federführend in die Oktoberrevolution involvierte Sozialrevolutionär Isaak Steinberg hat als einer der wenigen Vertreter der linksradikalen ArbeiterInnenbewegung eine Kritik am Rätemythos vorgelegt, die abermals die Reflexivität libertärer Freiheitsbegriffe unterstreicht. Steinberg war ein sich vom Anarchismus im engen Sinne abgrenzender libertärer Sozialrevolutionär. Er verortet den linken sozialrevolutionären Flügel zwar eindeutig in der Tradition des Anarchismus, da in ihren »Adern auch Bakunins Blut fliesst«.

So liegt die Idee der totalen Befreiung des Menschen als Individuum auch Steinbergs Sozialismusverständnis zugrunde, das im »scharfen Gegensatz zum tyrannischen Begriff und Fetisch vom Primat des gesellschaftlichen Gemeinwohls« steht. Dennoch ist für Steinberg der Anarchismus primär kein politisches Programm. Diesem fehle eine realistische politische Analyse, ohne die aber die Revolution zu einem blossen, wenn auch hehrem Ideal verkomme. Dass dies in dieser Allgemeinheit nicht zutrifft, sollten die Ausführungen zu Malatesta deutlich gemacht haben. Dennoch lassen sich Steinbergs Ausführungen als eine zugespitzte inner-libertäre Kritik – von marxistischen oder gar bolschewistischen Positionen wird sich unmissverständlich abgegrenzt – verstehen, die unumwunden zentrale Probleme radikaler Emanzipation benennt.

Die radikale Staatskritik und die Bekämpfung jeder Form von Herrschaft und Ausbeutung als dem Fundament der zu überwindenden Vorgeschichte haben sich zwar auch die linken SozialrevolutionäreInnen auf ihre Fahnen geschrieben. Diese ersetzt aber nicht die Beantwortung derjenigen politischen Fragen, von denen die revolutionäre Praxis durch die auf sie einstürmende Realität bedrängt wird. Der Anarchismus ist für Steinberg daher »keine sozial-organisatorische […], sondern nur eine sozial-psychologische Kategorie: er ist ein Prinzip der Transformation des Bewusstseins und des Willens eines Menschen, die letzte Verklärung seiner Seele.«

Das ›nur‹ ist eigentlich fehl am Platze, wenn man bedenkt, wo Steinberg die elementaren Quellen der Macht entspringen sieht. Gegenüber dem marxistischen Ökonomismus und dem staatstheoretischen Repressionismus skizziert Steinberg eine »Mikrophysik der Macht« (Michel Foucault), die die psychologischen Komponenten der Herrschaft keinesfalls als kleinbürgerliche Ideologie denunziert, um zentralen Problemen der Befreiung aus dem Weg gehen zu können, indem man ihre Existenz schlicht und einfach leugnet: »[D]as sublime Gift der Macht hat viele Gesichter und dringt in alle Bereiche der menschlichen Beziehungen ein.« Angesichts dieser Machtanalyse schätzt Steinberg aber nicht nur die Reife des Bewusstseins der Menschen »niedriger« ein »als der Anarchismus«. Er stellt sich ferner, was das ›nur‹ wiederum rechtfertigt, jene politisch-organisatorischen Fragen, die auch mit dem grössten anarchistischen Idealismus nicht aus der Welt zu schaffen sind.

Diese Annahmen konkretisiert Steinberg in seinen Thesen zum Staat, die 1921 auf der Parteikonferenz der Partei der Linken Sozialrevolutionäre vorgelegt und als Grundlage ihres Programms angenommen wurden. Die Thesen sind ein herausragendes, ziemlich einzigartiges theoretisch-analytisches Dokument des freiheitlichen Sozialismus, das aufgrund der bolschewistischen Repressionen leider nur fragmentarisch überliefert ist. Wer den Staat wirklich abschaffen will, so Steinbergs These, müsse seine Macht radikal einschränken und dezentrieren. Ausgehend von dieser Annahme kommt der Revolutionär zu einer Kritik des Rätesystems, dessen innere Verfassung er hinsichtlich der Organisation der Macht komplett umgestalten will. Für Steinberg ist nicht nur der Glaube, dass die richtige politische Form – Räte – per se auch den richtigen – revolutionären – politischen Inhalt generiert, ein Trugschluss. Zur Kritik steht vielmehr die Form selbst.

Steinberg rückt in seinen Thesen nicht den diktatorischen Anspruch der Bolschewiki auf die Alleinherrschaft ihrer Partei(-führung) in den Mittelpunkt; dieses Vorhaben erledigt sich unter emanzipatorischen Gesichtspunkten von selbst. Das herausstechende Merkmal seiner Thesen ist vielmehr, dass er den revolutionären Slogan Alle Macht den Sowjets selbst einer scharfen Kritik unterzieht. Der »Zusammenschluss der Gewalten (der gesetzgebenden und der exekutiven hauptsächlich) in einem Organ« ebnet für ihn den »Weg für eine unkontrollierte Konzentration der Macht in wenigen Händen«.

Es ist nicht allein der bolschewistische Wille zur Diktatur, der die Staatsmacht universalisiert, sondern es sei auch der Aufbau der Sowjets selbst, der die Konzentration der Macht in einem Organ bedinge, das am Ende die »Regelung aller Formen des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und alltäglichen Lebens der Bürger« usurpiere und monopolisiere. Steinberg stellt daher der Allmacht der Räte ein Konzept der libertären Dekonstruktion der Macht und eine Art sozialrevolutionäre Gewaltenteilung entgegen. Er fasst sein Vorhaben in einem Programm der Dezentralisierung der Macht zusammen, dass in Bezug auf die Räte folgende Schwerpunkte setzt: »Befreiung der Räte von wirtschaftlichen Funktionen«, d.h. »Zersplitterung der einheitlichen politisch-wirtschaftlichen Faust der Räte-Macht«.

Ziel ist die Trennung der Ökonomie von der Politik, deren staatliche Zusammenballung den sozialen Urgrund der ubiquitären Unfreiheit abgibt, weil jeder Einzelne dem kommunistischen Leviathan absolut ausgeliefert sei, der sich nicht nur sämtliche politische, sondern auch alle ökonomischen Machtressourcen und –quellen angeeignet habe. In den politischen Räten und den wirtschaftlichen Verbänden selbst muss ebenfalls Gewaltenteilung Einzug halten. Während in der Gewalteneinheit (in einem Organ oder gar in der »Hand einer Person«) der »Keim der Tyrannei« heranreife, sei die Gewaltenteilung von der zentralsten und obersten bis hin zur untersten lokalen Institution eine der substantiellen »Garantien der Freiheit des Menschen«; Steinberg scheut durchaus nicht den Hinweis auf die revolutionäre bürgerliche Tradition der Kritik am Absolutismus.

Zudem fordert er eine Demokratisierung des Rechtssystems sowie die unbedingte Unabhängigkeit der Justiz vom politischen Machtapparat. Des Weiteren müsse die Staatsgewalt, soweit wie möglich, humanisiert werden. Grundstein für diese Humanisierung der Staatsgewalt sei ihre menschenrechtliche Eingrenzung, die absolut ist und keine Ausnahme duldet. Die unveräusserlichen zivilen und politischen Menschenrechte sind demnach kein bürgerlicher Beschiss, sondern die Mindestanforderung für ein emanzipatorisches Gemeinwesen.

Und dennoch: »all diese Wege, jeder für sich und alle zusammen machen den Staat nicht zunichte«, sondern dienen letztlich, streng genommen, sogar seiner »Erhaltung«. Dies zu leugnen, käme entweder einem »naiven« Anarchismus oder aber »einer demagogisch falschen Darlegung der Lage« gleich. Die Teilung der Staatsgewalt, die Verrechtlichung der Macht und die zunehmende Überwindung von Zwang durch freiwillige Assoziation – sie alle schaffen noch nicht den Staat selbst aus der Welt. Dass dieser in der Transformationsperiode fortbesteht und nur langsam und unter beständigem äusserem Druck sich zum Sterben bettet, hat für Steinberg zwei Ursachen. Die eine ist ökonomischer Natur, die andere reicht in die psychologischen Wurzeln der Macht zurück.

Der erste, ökonomische Grund des Weiterlebens des Staates ist nach Steinberg im Wesen der modernen Grossindustrie zu lokalisieren. Die kapitalistische Hinterlassenschaft des Fabrik- und Maschinensystems ist für Steinberg untrennbar mit Formen der gesellschaftlichen Vermittlung und Arbeitsteilung verbunden, die zentralistische und hierarchische Strukturen aufweisen. Die Abschaffung des Staates, so Steinbergs Kritik am Anarchismus, setzt folglich eine radikale Transformation der Institutionen der ökonomischen Reproduktion der Gesellschaft voraus. Dies sei aber nicht mit einem Schlag durchführbar, sondern bedinge einen langwierigen Umbau grundlegender sozio-ökonomischer Verhältnisse, weil die befreite Gesellschaft nicht, wie die MarxistInnen annahmen, auf der proletarischen Eroberung und sozialistischen Umpolung kapitalistischer Technologie und Industrie basieren könne.

Es müssen vielmehr qualitativ neue Formen der materiellen Reproduktion gefunden werden, deren innere Zweckbestimmung nicht die Steigerung von Konsum und Produktion, sondern Herrschaftsfreiheit ist. Die soziale Revolution muss folglich sowohl auf die Wiederaneignung der enteigneten, materiellen Lebensbedingungen als auch auf die Zerstörung der Quellen geistiger Heteronomie zielen.

Der zweite Grund für die Persistenz der Staatlichkeit liegt in der Ubiquität der Macht begründet. Mit der Abschaffung des Staates allein ist es nicht getan. Dessen Herrschaft zehre von einer tieferliegenden, bisweilen weniger offensichtlichen, aber allgegenwärtigen Machtressource: von den herrschaftsförmig strukturierten zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Anarchie sind demnach nicht nur in ökonomischer Hinsicht noch nicht gegeben. Die Abschaffung des Staates ist ohne Beseitigung aller Formen von Herrschaft nicht möglich, wie auch seine Beseitigung selbst nicht identisch ist mit Abwesenheit von Macht an sich.

Dies ist die finale Aufgabe der sozialen Revolution, die zwar der Politik der Transformationsperiode inhärent sein muss, die selbst aber noch nicht das Maximum der Emanzipation darstellen kann. Von entsprechend herausragender Bedeutung ist daher die Praxis der Revolution selbst, muss diese doch das Tor zur Freiheit aufstossen und bereits zukünftige Formen freier Assoziationen von Menschen antizipieren. Dazu gehört unter anderem, dass man sich den Kopf nicht durch revolutionäre Phrasen vernebeln lässt und das Problem der Befreiung einfacher darstellt als es ist.

Systematische Relevanz historischer Erfahrung

Ob der historische Anarchismus überzeugende Antworten für die Gegenwart parat hat, mag dahingestellt sein. Vieles dürfte, wie sollte es auch anders sein, veraltet sein und kaum den komplexen Problemen gerecht werden, vor denen eine Revolution der gegenwärtigen Weltgesellschaft steht. Dass die Räte nicht die Antwort auf alle Fragen der sozialen Befreiung sein können, ist evident. Und auch eine so zentrale, Malatesta, Steinberg und viele andere verbindende Erkenntnis, dass der materialistisch fundierte Klassenkampf eines ihn transzendierenden ideellen Moments bedarf, schlägt immer wieder ins Problematische um: Das die Befreiung antreibende Gefühl universeller menschlicher Solidarität, welches der vernünftigen Einsicht in die Unteilbarkeit und Allgemeinheit der Freiheit entspringt – eine »Frage der Ethik« ist –, überspreizt sich immer wieder zu einer allmenschlichen »Liebe«.

Sicher sollte man gerade bei einem Wort wie »Liebe« Malatestas hermeneutischer Tugend folgen und sich erst einmal darüber verständigen, was hiermit gemeint sein könnte. Malatestas wie Steinbergs ›Liebe‹ impliziert die Einsicht, dass es nicht alleine um die Befreiung des Proletariats, sondern um die der gesamten Menschheit geht; beide suchten ihr Heil folgerichtig nicht allein in der ArbeiterInnenbewegung, deren Tendenz zu einem berufsständisch-ökonomistisch verengten Geist nicht unerkannt blieb. Dennoch ist der Verdacht wohl nicht gänzlich unbegründet, hier eine »Verwechslung des Kommunismus mit der Kommunion« zu wittern, die einem die »Knallbüchse der Liebe auf die Brust« setzt.

Wie immer es sich mit diesen und vielen weiteren neuralgischen Punkten im Einzelnen auch verhalten mag, unter systematischen Gesichtspunkten sind es so oder so nicht die alten Antworten, sondern die richtig gestellten Fragen, die die andauernde Aktualität des Anarchismus ausmachen. Und diese basieren auf Einsichten, deren Wahrheitsgehalt unbenommen ist. Auch wenn der klassische Anarchismus letztlich (und zu Recht) in der Tradition der Aufklärung und ihrer Idee des Fortschritts steht, so ist diese doch ökonomiekritisch gebrochen: Die Geschichte ist nicht per se mit uns, da die kapitalistische Produktionsweise nicht qua historischer Dialektik wider Willen den Sozialismus generiert, sondern vielmehr ihre Prinzipien gesellschaftlicher Vermittlung in einer Form totalisiert, die alle Auswege aus ihrer Hölle zunehmend und effektiv verschliesst.

Hiermit einher geht die zweite, anarchistische Zentraleinsicht: Es müssen wirklich qualitativ neue – herrschaftsfreie – Formen sozialer Vermittlung im Hier und Jetzt aufgebaut werden, da Kapital und Staat Herrschaft, nicht aber Freiheit gratis liefern. Der Revolutionsbegriff ist daher gerade – abermals wider herrschender Gerüchte – im reflektierten Anarchismus, wie etwa bei Rudolf Rocker, durchaus nüchtern und frei von eschatologischen Heilserwartungen: »Dieser Wunderglaube an die Allmacht der Revolution, die allein alles vollbringen und das Paradies auf Erden errichten werde, unterscheidet sich in nichts von jedem anderen Wunderglauben.«

Es waren denn auch die beiden vielleicht bedeutendsten deutschen Anarchisten, Gustav Landauer und der besagte Rocker, die zentrale marxistische Irrtümer in ihrer beissenden Kritik an der Sozialdemokratie zuspitzten: Die Hoffnung auf die Geschichte ist auf Sand gebaut, die proletarische Übernahme und Transformation bürgerlich-kapitalistischer Institutionen eine Illusion.Um den Kreis zu schliessen: Der Freiheitsbegriff des kommunistischen Anarchismus und der linken SozialrevolutionärInnen ist weder naiv noch bürgerlich-liberal, sondern basiert auf Vernunft, die sich auch von der brutalen Übermacht des Bestehenden nicht dumm und klein machen lässt.

Womit wir wieder bei Adorno wären, dem seine nicht zuletzt auch durch die Dominanz des Marxismus besonders anarchismusfeindlich geprägte deutsche Herkunft verbaute, in der besten anarchistischen Tradition vielleicht doch so etwas wie den praktischen Arm Kritischer Theorie zu sehen. Dass der Anarchismus den späteren Generationen ebenfalls nur zersplitterte und verschüttete Flaschenpost übermitteln konnte, dürfte ja gerade am wenigsten für den Denker der Negativität der Geschichte gegen seinen Wahrheitsgehalt zeugen: »Keine priesterliche Gebärde vermag es, die Idee eines Menschen möglichen Zustandes fortzuweisen, in dem die Menschen frei wären von Angst, in dem sie nicht mehr als blind Geworfene sich erführen […]: wenn sie nämlich einmal der Einrichtung einer gerechten Welt mächtig sind.«

Hendrik Wallat
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 50
www.phase-zwei.org

Die Fussnoten wurden in diesem Text weggelassen.