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Für eine Rekonstruktion antifaschistischer Theorie und Praxis

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Zehn Thesen, zur Diskussion gestellt für das Rapoport-Kolloquium „Medizin und Antifaschismus“ Für eine Rekonstruktion antifaschistischer Theorie und Praxis

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Politik

Die antifaschistische Bewegung der Bundesrepublik Deutschland ist in Theorie, Praxis, Zielen und Aktionsformen vielfach gespalten und geschwächt.

Für eine Rekonstruktion antifaschistischer Theorie und Praxis.
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Für eine Rekonstruktion antifaschistischer Theorie und Praxis. Foto: Runner1928 (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 3. Juni 2020
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1. Sie befindet sich in ihrer tiefsten Krise genau in dem Moment, in dem sie historisch seit 1945 am wichtigsten wäre. Menschen wie Ingeborg und Mitja Rapoport, aber auch lebenslang aktive Antifaschisten und Kommunisten wie Etty und Peter Gingold stehen mit ihrem Lebensvorgang für die Erfahrung, was Faschismus an der Macht bedeutet und wie unabdingbar es aus humanistischer und politischer Sicht ist, sein Aufkommen nie wieder zuzulassen. Diese Erfahrung radikal ernst nehmen heisst nicht einfach, sie nachsprechen zu wollen, sondern vielmehr, heute das zu tun, was sie in ihrer Zeit beispielhaft getan haben.

2. Faschismus und Liberalismus sind mögliche Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft. In bürgerlichen, aber auch in marxistischen Kreisen gibt es oft die Tendenz, den Faschismus in der Analyse als Gegenmodell der bürgerlichen Demokratie gegenüberzustellen. Damit ist eine falsche Vorstellung über die bürgerliche Klassenherrschaft verbunden, die in jedem Fall eine Klassendiktatur ist und entsprechend den Bedürfnissen des Kapitals und den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf zwischen offenen und verdeckten Formen der Diktatur wechseln kann. Weder der Faschismus noch die bürgerliche Demokratie dürfen klassenneutral betrachtet werden (Kommunistische Organisation [Hrsg.], Programmatische Thesen, 5.: Faschismus und Antifaschismus).

3. Der Wechsel von bürgerlich-demokratischen zu faschistischen Herrschaftsformen kann defensiven oder offensiven Zielen dienen. Er kann schrittweise und allmählich oder putschartig erfolgen. Er ermöglicht es den Herrschenden, sich zur Durchsetzung sonst nicht erreichbarer Absichten der Schranken bürgerlich-demokratischer Standards zu entledigen und die Macht „des Finanzkapitals selbst“ (Georgi Dimitroff, 1935) offen und mit allen denkbaren Mitteln aufzurichten: „The essence of Fascism is the endeavour violently to suppress and overcome the ever-growing contradictions of capitalist society“ (Rajani Palme-Dutt, 1934), in der Absicht, die Struktur des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase aufrecht zu erhalten.

4. Es gibt keinen Faschismus ohne Imperialismus. Faschistische Bewegungen handeln, wie auch immer vermittelt und in sich widersprüchlich, letztlich im objektiven Interesse des Finanzkapitals (im marxistischen Sinn) und dessen Staatsapparat. Sie sind in der Regel politisch heterogen. Die Interessen ihrer Mitglieder stehen in ihrer grossen Mehrheit in einem antagonistischen Widerspruch zum eigenen Agieren.

5. Kern jeder antifaschistischen Praxis im „radikalen“, also das zugrundeliegende Problem an der Wurzel packenden Antifaschismus muss also sein, Kapitalismus und Imperialismus zu überwinden. Zwar ist selbstverständlich jede Praxis und jedes Denken, das die schrecklichsten Begleiterscheinungen des Faschismus wie etwas Krieg, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus bekämpft, zu unterstützen. Doch steht eine solche nicht-radikale Praxis immer objektiv in der Gefahr, letztlich genau die Bedingungszusammenhänge nicht anzugreifen, um die es gehen muss – also die bürgerliche Gesellschaft und ihre ökonomische Basis, den Kapitalismus.

6. Dieses zuletzt genannte Problem ist nicht zufällig kennzeichnend für die meisten Erscheinungsformen des heutigen Antifaschismus in der Bundesrepublik Deutschland. Als typisch für eine imperialistische Gesellschaft wurde der Begriff des „konstitutionellen Irrationalismus“ als Bezeichnung für die „ideologische Grundverfassung einer imperialistischen Gesellschaft“ vorgeschlagen. Sie entsteht nach diesem Modell aus dem Widerspruch zwischen weit vorangetriebener Rationalität in ihren Teilsektoren bei gleichzeitiger Anarchie der Gesellschaft als Ganzer.

Sie ist strukturell unfähig zur Formulierung globaler Ziele für das Überleben der Gattung, bringt eine „pathische Gesellschaft“ zum Ausdruck, die jederzeit zur Re-Barbarisierung bereits erkämpfter Standards eines Lebens in Freiheit und Gleichheit in der Lage ist. Irrationalismus, so verstanden, ist „die adäquate Vernunftform der imperialistischen Gesellschaft im Sinn expliziter … wie impliziter Ideologien, also im Sinn ihres allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstseins“. (Georg Lukács, 1954; Thomas Metscher, 2010). „Irrationalismus … heisst eine Weltauffassung und ein praktisches Verhalten, das die Erkennbarkeit und rationale Gestaltbarkeit … objektiv gegebener … Wirklichkeit grundsätzlich leugnet…“.

Rationals Denken auf der Ebene des Wesen der gesellschaftlichen Zusammenhänge wird vor allem deshalb ständig zerstört, weil eben dies der Zerrissenheit der Gesellschaft sowie ihrer Verfasstheit als Einheit höchst-rationaler Partialstrukturen bei völliger Irrationalität ihrer Gesamtziele entspricht. Rationales Verhalten in der imperialistischen Gesellschaft ist darum nur möglich von einer Position aus, die sich selbst begrifflich und praktisch als Opposition begreift: „Als Regel dürfte gelten, dass die Position eines bewussten Widerstands zum Imperialismus als Gesamtsystem – in gewissem Sinne eine logisch-politische Aussenposition – die epistemische Bedingung dafür ist, dieses System als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu durchschauen und damit als ‚strukturierte Totalität' (Leo Kofler) erkennen zu können.

Nur eine im Prinzip oppositionelle Theorie kann den Gesamtprozess noch als rationalen erfassen, die Irrationalität des Ganzen rational diagnostizieren und damit auf den Begriff bringen. Von einer ‚Innenposition' her, d.h. von der Position prinzipieller Akzeptanz der gegebenen Produktions-und Herrschaftsverhältnisse (wobei diese Akzeptanz kein bewusster Akt zu sein braucht) ist eine solche Erkenntnis nicht möglich. … Die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von imperialistischer Gesellschaft und Irrationalismus bedeutet nicht, dass das Irrationale in dieser Gesellschaft unaufhebbares Schicksal ist.

Es kann, als Teil der Mechanismen der Gesellschaft, die dieses hervorbrachte, erkannt und durchschaut werden. Bedingung dafür freilich ist (als Bedingung einer Möglichkeit, nicht als Garantie) eine bestimmt kognitive Haltung: die bewusste Opposition gegen den Imperialismus als Gesamtsystem. Eine solche Haltung ist heute zur Bedingung jeder Rationalität geworden …“.

7. Antifaschismus kann nichts anderes sein als die praktisch-politische Ausdrucksform jener „Aussenposition“ an der Front gegen den Faschismus. Er ist eine Form des organisierten Massenselbstschutzes der politischer Kräfte, die alle Formen dieser Herrschaft grundsätzlich beenden wollen. Er richtet sich gegen faschistischen (historisch: weissen) Terror und findet auf allen Ebenen statt: politisch, ideologisch, in der Aktion.

Die Aufgabe des Antifaschismus ist erst mit der revolutionären Beseitigung des Kapitalismus und dem erfolgreichen Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft beendet, in der Faschismus keine gesellschaftliche Funktion mehr haben wird. Antifaschismus, der erfolgreich sein möchte, ist deshalb nur im Rahmen einer revolutionären Gesamtstrategie möglich.

8. Solange sich Antifaschismus mit weniger zufrieden gibt, verteidigt er letztlich Formen der Herrschaft des Kapitalismus, deren Ausdruck Faschismus immer auch ist. Ein solcher Antifaschismus sät Illusionen über die Natur des Kapitalismus und seines imperialistischen Staats. Damit trägt er letztlich zur Stabilisierung der Entstehungsbedingungen von Faschismus bei.

9. Das am weitesten verbreitete Problem heutiger antifaschistischer Theorie und Praxis ist, das Verhältnis von Antifaschismus und revolutionärer Strategie / Praxis zur Beendigung des Kapitalismus auf den Kopf zu stellen. Seit langem hat sich der mainstream der heutigen „Antifa“ vom Historischen Materialismus und den Zielen eines revolutionären Antifaschismus entfernt. Sie will vornehmlich die in letzter Instanz und in ihren heutigen Formen vom Imperialismus hervorgebrachten Bewusstseinsformen wie Nationalismus, Rassismus, Sexismus usw. bekämpfen, anstatt sich am Kampf gegen die die gesellschaftliche Wurzel des Faschismus, den Kapitalismus / Imperialismus, zu beteiligen.

Damit bringt diese Bewegung unter anderem auch die jahrzehntelange Schwäche der revolutionären Bewegung in unserem Land zum Ausdruck. Mit dieser Phase der antifaschistischen Arbeit und ihren Vorstellungen muss deshalb grundsätzlich gebrochen werden. Dasselbe gilt auch für eine antifaschistische Praxis, die sich heute auf den Boden einer „Verteidigung der bürgerlichen Republik“ begibt, anstatt die Verteidigung des Rechts auf Revolution in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns zu rücken.

10. Die wichtigste aktuelle Aufgabe von Antifaschistinnen und Antifaschisten heute ist es, sich theoretisch und praktisch an der Klärung einer revolutionären Strategie für unser Land zu beteiligen. Eine solche Bewegung muss sich in den Rahmen einer sorgfältig begründeten Rekonstruktion marxistischen, revolutionären Denkens und mit ihr im Zusammenhang stehenden organisierten Praxis stellen. Unabhängig von einer solchen Praxis wird sie ziellos bleiben und scheitern.

Hans Christoph Stoodt

Literatur:

Georgi Dimitroff, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Bericht auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 2. August 1935, in: ders., Ausgewählte Schriften, Band 2, Berlin / DDR 1958, S. 523 – 668

Kommunistische Organisation (Hrsg.), Faschismus und Antifaschismus, in: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11 – 13

Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin/DDR – Weimar 1954

Thomas Metscher, Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins, Frankfurt am Main 2010

Rajani Palme-Dutt, Fascism and Social Revolution, London 1934