Der Faschismus ist der in Hass umschlagende Angstschweiss, den die bürgerliche Mitte in der Krise absondert. Insofern ist die Lage durchaus mit der Systemkrise der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts vergleichbar, wobei der gegenwärtige Krisenprozess – der neben einer ökonomischen vor allem eine ökologische Dimension hat – weitaus tiefer reicht als die Wirtschaftseinbrüche am Vorabend der Machtübertragung an die Nazis.
Der Aufstieg dieser präfaschistischen Bewegungen scheint viel reibungsloser zu verlaufen als in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, was auf den höheren Grad der Verinnerlichung der widersprüchlichen kapitalistischen Systemimperative verweist. Der aufkommende Faschismus rebelliert ja nicht gegen die sich krisenbedingt verschärfenden Anforderungen und Sachzwänge, er treibt vielmehr die Systemlogik ins ideologische und praktische Extrem. Das ist das Geheimnis seines Erfolgs. Dieser Extremismus der Mitte treibt die nationale Identität ins nationalistische und chauvinistische Extrem, er bringt rassistische und antisemitische Extremformen des liberalen Konkurrenzdenkens hervor und tendiert dazu, die Krisenfolgen auf die Krisenopfer abzuwälzen.3
Kaum etwas wäre verheerender, als bei der Einschätzung des Vorfaschismus in die übliche Verdinglichung zu verfallen, also den aktuellen Zustand der Bewegung kontextlos absolut zu setzen und deren soziale Dynamik, wie auch die sie antreibenden Widersprüche auszublenden (um etwa angesichts der Unterschiede zum historischen Faschismus zu behaupten, die AfD sei keine faschistische Partei).
Diese reaktionäre Bewegung des Ins-Extrem-Treibens bestehender liberaler Ideologie, die in Wechselwirkung mit Krisenschüben den barbarischen Kern kapitalistischer Vergesellschaftung manifest macht, muss gerade als Bewegung verstanden werden.4 Und das wird nicht nur an deren Rhetorik, sondern gerade auch am Personal der AfD deutlich, die als „Professorenpartei“ von Ökonomen wie Bernd Lucke und Managern wie Hans Olaf Henkel gegründet wurde, denen der Sparsadismus Schäubles in der Eurokrise nicht weit genug ging. Nun – nach der rechtspopulistischen Phase unter Petry – sind rechtsextreme Kräfte in vielen Teilen dieser Partei dominant.5
Autoritäre Revolte im 21. Jahrhundert
Zudem scheint es auf den ersten Blick schwer, diese präfaschistischen Bewegungen auch als eine autoritäre Revolte zu begreifen. Seit der Sarrazin-Debatte werfen sich die Akteure der Neuen Rechten in die Pose des Rebellen, der nur „mutige Wahrheiten“ ausspreche, während sie mühsam in der Nachkriegszeit errichtete, zivilisatorische Mindeststandards einreissen.6 Doch gerade der autoritäre Kern faschistischer Bewegungen ist – aller Rhetorik zum Trotz – entscheidend für ihren Erfolg. Mit den sich immer stärker um den Hals der meisten Lohnabhängigen zusammenziehenden „Sachzwängen“ der kriselnden Kapitalverwertung bleiben diesen eigentlich nur zwei Optionen: die Rebellion gegen den Krisenwahnsinn, oder die gesteigerte irrationale Identifikation und Unterwerfung.Dabei ist es ein grundlegender psychischer Mechanismus, der gerade die Identifikation mit den gegebenen Autoritäten in Krisenzeiten befördert. Die Ausbildung des Gewissens, des freudschen Über-Ich, erfolgt in der frühen Kindheit gerade durch die Identifikation mit der äusseren (zumeist elterlichen) Autorität, die vom Kind verinnerlicht wird: Die elterlichen Verbote, die dem Lustprinzip des Kindes Grenzen setzten, wecken Aggressionen, die aber sublimiert werden und zur Aufrichtung des Über-Ich beitragen. „Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität“, wie Freud es formulierte.7 Bei der frühkindlichen Ausbildung des Gewissens wird die aggressive Haltung gegenüber einer äusseren Autorität durch einen Prozess der Identifizierung mit eben dieser Autorität verinnerlicht.
Ein ähnlicher Vorgang liegt aber auch der irrationalen, autoritären Krisenreaktion zugrunde, die den rechten Extremismus der Mitte ermöglichen. Ähnlich dem Kleinkind, verinnerlicht der durch eine autoritäre Charakterstruktur gekennzeichnete Träger rechtsextremer Ideologie die sich verschärfenden Anforderungen und Vorgaben der Kapitalverwertung. Die Irrationalität des Faschismus spiegelt somit die in der Krise offen zutage tretende Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung.
In den sich verschärfenden systemischen Zwängen wirken die – niemals überwundenen – autoritären Fixierungen aus dem familiären Umfeld weiter. Mit zunehmender Krisenintensität verschärft sich somit auch die Identifizierung des autoritären Charakters mit dem bestehenden System, wie Erich Fromm im berühmten Sammelband „Autorität und Familie“ schon 1936 feststellte:8 „Je mehr … die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und Lust.“
Dieser Sadomasochismus resultiert aus den ungeheuren Verzichtsforderungen, die den sich fügenden, autoritären Charakteren seitens der Krisendynamik aufgelegt werden. Auch hier stauen sich immer grössere Aggressionen an, die nach einem Ventil suchen. Je grösser die Triebversagung, desto grösser das Bedürfnis nach Triebabfuhr; der Masochismus verlangt nach sadistischer Satisfaktion. In ekelerregender Deutlichkeit war diese sadomasochistische Fixierung in der schäublerischen Krisenpolitik während der Eurokrise zu besichtigen, die ja explizit die Grausamkeiten, die der südeuropäischen Peripherie von Berlin angetan wurden,9 damit begründete, dass man hierzulande im Verlauf der Agenda 2010 eben Ähnliches erduldet und überstanden habe. Das unterwürfige Ertragen von Versagungen und Schmerzen berechtigt dazu, selber Schmerzen zuzufügen – dies ist eigentlich der sadomasochistische, pathologische Kern aller sozialdarwinistischen rechten Parolen von „Stärke“, „Durchsetzungsvermögen“ und „Härte“.
Dieser faschistoide Mechanismus der durch Krisenschübe befeuerten autoritären Aggression trat auch 2023 offen zutage,10 er lag der rechten Kampagne gegen die Erhöhung des Bürgergeldes zugrunde.11 Während die Bundesrepublik 2023 konjunkturell in einer Stagflation (hohe Inflation und Stagnation) verharrte, was Forderungen nach Verzicht und Sparmassnahmen nach sich zog, konnten mit Arbeitslosen erneut Krisenopfer zu Sündenböcken stilisiert werden. Wie im Zeitraffer lief bei dieser Kampagne das übliche Umschlagen von Unterwerfung in autoritäre Aggression ab, wie es auch die Genese der Neuen Rechten in Deutschland in Gestalt von Hartz IV und Sarrazin-Debatte begleitete.12
In der Periode der Faschisierung wirft der Faschismus – noch im Rahmen spätneoliberaler Diskurse – seine Schatten voraus. Nicht nur hinsichtlich der ökonomisch „Unverwertbaren“ in den Zentren, wo abermals Zwangsarbeit diskutiert wird,13 sondern vor allem bei der Abwehr der Fluchtbewegungen aus der Peripherie, die längst das Mittelmeer zu einem Massengrab verwandelte.
Antifaschismus in der Systemkrise
Es gib bei dieser Abfolge von Krisenschub, Verzichtsforderung („Sparen!“, „Gürtel enger schnallen!“) und autoritärer Aggression („Nehmt den Arbeitslosen die Kippen weg!“)14 keinen Boden, kein logisches Ende, da es sich um einen durch die Krise des Kapitals befeuerten Prozess handelt. Je stärker die Krise des Kapitals das Alltagsleben der Bevölkerung tangiert, desto heftiger fällt diese aggressive Überidentifikation mit dem in Zerfall übergehenden System aus – und desto schwerer wird es auch, angesichts dieser ideologischen Verhärtungen in der „Mitte“ überhaupt noch radikale Kritik zu formulieren und gesellschaftliche Alternativen überhaupt zu diskutieren. Je offener die Systemkrise zutage tritt, desto alternativloser scheint das in Faschisierung begriffene System. Die Unfähigkeit der kapitalistischen Funktionseliten, der ökologischen und sozialen Krise des Kapitals zu begegnen, tritt offen hervor in einer Zeit, in der nur noch faschistische Alternativen für Deutschland propagiert werden.Der öffentliche Diskurs kippt gewissermassen nach rechts. Die Debatte in den kapitalistischen Demokratien kreist hauptsächlich um „Wirtschaftsfragen“, also um die Optimierung des Verwertungsprozesses des Kapitals. Dieser orwellsche Diskurs, in dem die Objekte der fetischistischen Kapitaldynamik ihre eigene Ausbeutung perfektionieren, er ist besonders effizient, viel effektiver als der Ukas autoritärer Systeme. Deswegen ist – zumindest in den Zentren des Weltsystems – die bürgerliche Demokratie die Optimalform subjektloser kapitalistischer Herrschaft.15
Dieser auf breiter Verinnerlichung der kapitalistischen Systemimperative beruhende Diskurs kann aber nur aufrechterhalten werden, solange es eine einigermassen stabile, breite Mittelklasse gibt, d. h. eine im ausreichenden Ausmasse stattfindende „kapitalistische Normalität“. Wenn die Balance zwischen Sachzwängen und Gratifikationen krisenbedingt aus den Fugen gerät, dann droht gerade der Mainstream Richtung Autoritarismus und Faschismus umzukippen. Die nur zu berechtigte Angst vor dem kapitalistischen Krisenprozess erstickt dann jede Debatte über Systemtransformation und Alternativen, um Zuflucht in Hasskampagnen gegen Flüchtlinge16 oder Arbeitslose17 zu suchen.
Da der Kapitalismus ausserstande ist,18 seinen sozioökologischen Krisenprozess zu überwinden,19 wird irgendwann zwangsläufig ein Kipppunkt überschritten, wo die Faschisierung der kapitalistischen Gesellschaften in Faschismus als die Krisenform kapitalistischer Herrschaft umzuschlagen droht (schlussendlich in Form von Bürgerkrieg und Staatszerfall). Deswegen kommt dem antifaschistischen Kampf in der Systemkrise eine zentrale Bedeutung zu (Dies war auch schon bei der Systemkrise der 30er-Jahre der Fall, die ja in das grösste Gemetzel der Menschheitsgeschichte, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust mündete, der entlang antifaschistischer Frontstellungen von einer sehr breiten, von den USA bis zur Sowjetunion reichenden Koalition geführt wurde.).
Primär gilt es, durch breite antifaschistische Bündnispolitik dieses Umkippen der spätkapitalistischen Gesellschaften in ihre faschistische Krisenform zu verhindern. Kooperation mit allen nicht-faschistischen Kräften in breiten Bündnissen, ein offensives Vorgehen gegen Hetze und die rechte Hegemonie in der Öffentlichkeit, sie waren schon in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zeitweise erfolgreich. Doch ist die Faschisierung der Bundesrepublik schon so weit gediehen, dass dieser offensive antifaschistische Bündniskampf nur gemeinsam mit einem Parteiverbot der AfD erfolgreich geführt werden könnte. Es ist gewissermassen schon zu spät, um die rechte Gefahr durch blosse Mobilisierungen und Kampagnen abzuwehren.20 Das ambivalente Notmittel staatlicher Repression, die auch Druck auf die rechten Seilschaften im „tiefen Staat“ der Bundesrepublik ausüben würde, ist gegenüber präfaschistischen Bewegungen zumindest kurzfristig effektiv.
Für progressive Kräfte besteht die eigentliche Aufgabe innerhalb antifaschistischer Bündnisse aber darin, in diese ein radikales Krisenbewusstsein hineinzutragen. Nur dadurch kann die Neue Rechte auch tatsächlich besiegt werden. Es gilt, schlicht zu sagen, was Sache ist: Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die soziale und ökologische Krise zu lösen, die er verursacht. Es steht unweigerlich eine ergebnisoffene Systemtransformation an, um deren Ausgang ein Transformationskampf geführt werden wird – gerade gegen die faschistische Gefahr. Die bewusste Reflexion der Systemkrise in einer kämpfenden antifaschistischen Bewegung, die schon die Grundlagen einer fortschrittlichen Systemtransformation legt, bildet das beste Gegengift gegen das verschwörerische Krisengeraune der Neuen Rechten.
Die aus dem Extremismus der Mitte entspringende Ideologie des Präfaschismus, die faktisch eine Verwilderungsform des Neoliberalismus ist,21 kann somit nur in offensiver Konfrontation mit der Krisenrealität überwunden werden. Eine der grossen Lügen des Faschismus, der längst strukturell antisemitische Krisennarrative fabriziert,22 besteht darin, dass er – in Zuspitzung des üblichen marktliberalen Konkurrenzgebarens – die Krise schlicht ausschliessen will. Diese falsche Logik reicht von der Parole „Grenzen dicht!“ rechter Kampagnen, die Europa gegenüber Fluchtbewegungen abriegeln wollen, über den Aufbau rechter Wehrdörfer in der ostdeutschen Provinz, bis zur individuellen Abkapslung durch Prepper. Diese weitverbreiteten rechten Krisenreaktionen deuten auch schon darauf hin, dass hinter dem rechten Ruf nach autoritärer Ordnung nur die Rackets lauern.
Autoritäre Formierung und gesellschaftlicher Zerfall gehen ineinander über, da diesmal – im Gegensatz zum Faschismus der 30er – sich kein neues Akkumulationsregime, wie der Fordismus der 50er, am Horizont abzeichnet. Da sind nur noch der drohende sozioökologische Kollaps und die aufsteigende Panik,23 die die Fieberfantasien rechtsextremer Wehrdörfer und Prepperbunker befeuern.24 Die Neue Rechte wird nicht „Ordnung schaffen“, sie ist in Wahrheit der Exekutor des sozialen Zerfalls, der schon vom Neoliberalismus befördert wurde, ist also die „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“ (Robert Kurz).
Die Krise als eine fetischistische Dynamik,25 bei der die inneren und äusseren Widersprüche des Kapitalverhältnisses die Welt verwüsten, lässt sich nicht durch Abkapslung oder den Ausschluss der Krisenopfer ausschliessen – weder in ihrer ökonomischen, noch in der ökologischen Dimension.26 Die Lächerlichkeit dieses reaktionären Reflexes ist eigentlich evident. Der kapitalistischen Systemkrise kann nur, durch die Verbreitung eines radikalen Krisenbewusstseins, mittels einer bewusst erkämpften Systemtransformation in eine postkapitalistische Gesellschaft begegnet werden. Es ist die einzige Chance, den Absturz in die Barbarei zu verhindern. Das ist die simple Wahrheit, die eigentlich auch alle ahnen.
Und das ist der springende Punkt hinsichtlich einer antifaschistischen Bündnispraxis, die den Krisenprozess reflektiert und ein radikales, transformatorisches Krisenbewusstsein propagiert: Selbst wenn progressive Kräfte mit ihrer transformatorischen Rhetorik in breiten antifaschistischen Bündnissen vornehmlich auf taube Ohren stossen würden, wäre dies zweitrangig, sofern faschistische Machtübertragungen verhindert werden können. Die fetischistische Krisendynamik wird sich weiter entfalten – unabhängig vom Bewusstseinsstand der Bevölkerung.
Der Krisenprozess wird die spätkapitalistischen Gesellschaften in eine Transformation in eine andere, postkapitalistische Formation zwingen, sodass radikales Krisenbewusstsein sich durchsetzen könnte, solange die faschistische Option verhindert werden kann. Der gesellschaftliche Fallout der Krise des Kapitals ist ambivalent: er materialisiert sich einerseits in autoritärer Aggression und Panik, die dem Vorfaschismus Auftrieb verschaffen, doch zugleich kann die Krise im Rahmen antifaschistischer Kämpfe zur Ausbildung und Verbreitung eines emanzipatorischen Bewusstseins beitragen.
Deswegen geniesst Antifaschismus in der gegenwärtigen Systemkrise, die zwangsläufig in eine Systemtransformation übergehen wird, oberste Priorität. Es reicht erst mal, die faschistische Krisenoption zu verhindern, um nicht-faschistische, mithin emanzipatorische Transformationswege offen zu halten.