UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Basisbegriffe anarchistischen Denkens

7770

Herrschaftsverhältnisse und ihre Alternativen Basisbegriffe anarchistischen Denkens

earth-europe-677583-70

Politik

Theorie soll praktisch angewandt werden. Deswegen dient das folgende Schema dazu, eine anwendungsbezogene theoretische Grundlage über Anarchismus zu vermitteln – abseits von oft abgehobenen akademischen Kontexten und teilweise selbstbezüglichen marxistischen Debatten.

Basisbegriffe anarchistischen Denkens
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Datum 6. Juli 2023
2
0
Lesezeit18 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur

Tatsächlich ist es so, dass bestimmte Praktiken oder Perspektiven nicht aus der anarchistischen Theorie folgen. Es sind umgekehrt die Erfahrungen von Aktiven in sozialen Bewegungen, welche das anarchistische Denken prägen. Seine Basisbegriffe wurden in einer mittlerweile fast zweihundertjährigen Geschichte des modernen europäischen Anarchismus entwickelt. Werte wie Gleichheit und Freiheit, Organisationsprinzipien wie Dezentralität und Autonomie und Konzepte wie freie Vereinbarung und Kooperation werden schon seit über 150 Jahre so verwendet. Und es hat Gründe, warum auch Personen, die gerade heute aktiv werden, wieder auf diese Begriffe stossen. In unseren reflektierten Erfahrungen begründet sich ihre Wahrheit.

Das bedeutet, dass sie nicht als ein starres dogmatisches System angewandt oder wie ein Plan einfach verfolgt werden können. Stattdessen gilt es immer wieder neu zu entdecken und sich darüber auszutauschen, was wir unter den jeweiligen Begriffen verstehen – wie wir sie mit Leben füllen und konkret anwenden können, um die bestehende Gesellschaftsform und die Herrschaftsordnung zu kritisieren und zu beschreiben, wo wir stattdessen hin wollen. Dies ist für Anarchist*innen besonders wichtig, weil sie davon ausgehen, dass erstrebenswerte Alternativen bereits im Hier und Jetzt vorhanden sind und durch Zwischenraum-Strategien ausgedehnt werden können. Was wir insgesamt anstreben soll daher schon in unseren sozialen Bewegungen, Zusammenhängen und Lebensumfeldern umgesetzt werden. Dabei gilt es nicht starre und übermenschliche Ziele ins Auge zu fassen, welche wir ohnehin nie erreichen werden. Vielmehr können sich auch die Ziele verändern, während wir ihnen auf verschlungenen Wegen entgegengehen. Statt der konservativen Vorstellung von „Prinzipientreue“ brauchen wir kontinuierliche, gemeinsame und offene Diskussionsprozesse um ihre Ausgestaltung.

Mit dem hier entfalteten Schema geht es also darum, Orientierung in unsicheren Zeiten zu gewinnen, sich in einer bestimmten Tradition zu verorten und bewusst zu machen, dass es tatsächlich anarchistische Theorie gibt – die wie erwähnt keine Kopfgeburt ist, sondern in kollektiven Reflexions- und Diskussionsprozessen über einen langen Zeitraum entwickelt wird. Unser Bewusstsein ist notwendigerweise immer von der Ideologie und den Erfahrungen der gegenwärtigen Gesellschaftsform geprägt und deswegen von Widersprüchen durchzogen. Diese ergeben sich daraus, dass die Wirklichkeit komplex ist und wir als Einzelne oder Gruppen immer nur Teil-Wahrheiten erfassen können. Widersprüche entstehen aber auch durch den Konflikt mit der Ideologie der Herrschaftsordnung.

Mit emanzipatorischen Vorstellungen zielen wir darauf ab, diese Widersprüche nicht lediglich abzubilden, sondern auf eine höhere Ebene zu heben. Dies kann uns gelingen, wenn wir die damit verbundenen Spannungen als Paradoxien begreifen, welche wie die dargestellten Begriffe nicht abschliessend als Wahrheiten fixiert werden können oder überhaupt einmalig festgesetzt werden sollen. In den Konzepten von Zwischenraum, konkrete Utopie, direkte Aktion, soziale Revolution, aber ebenso in anarchistischen Debatten um Individualismus und Kollektivismus Gewalt, Entfremdung oder Technik, bildet sich eine paradoxe Denkweise ab – die sehr gewinnbringend sein kann, um ein sozial-revolutionäres Projekt heute denkbar zu machen.

Bei der Erstellung des Schemas schien es mir naheliegend zu sein, von der anarchistischen Ethik auszugehen. Dies schliesst keineswegs aus, dabei eine materialistische Weltanschauung zur Grundlage zu nehmen, also z.B. davon auszugehen, dass Klassenverhältnisse äusserst wirkmächtig sind, dass es das Privateigentum abzuschaffen und die Produktionsmittel zu vergesellschaften gilt, als auch zu verstehen, das unser Bewusstsein wesentlich von der materiellen Anordnung der Welt und der Verfügung über sie geprägt ist. Nur ist es eben nicht einseitig und eindimensional geprägt, sondern variiert, ist komplex und lässt Spielräume zu. Vor diesem Hintergrund ist der vorgeschlagene Begriffskatalog als Orientierungsrahmen für eine anwendungsbezogene (anti-)politische Theorie des Anarchismus zu verstehen. Wie alle Schemata reduziert die Auswahl und Anordnung der Begriffe die Wirklichkeit. Andererseits wäre es schon ein ziemlicher Gewinn, wenn zumindest sie allgemeiner unter Anarchist*innen verbreitet und durch gemeinsame Diskussion mit konkreten Inhalten gefüllt werden.

Die hier dargestellten Grundbegriffe können selbstverständlich ergänzt und erweitert werden. Wenn wir aber alleine darum gemeinsame Diskussionen führen, beziehungsweise unsere vorhandenen Diskussionen mit geschärften Begriffen strukturieren, würde dies bereits das Bewusstsein in anarchistischen Szenen anheben. Dabei geht es wie gesagt nicht um Rechthaberei, sondern um die gemeinsame Verständigung zu der möglichst alle Beteiligten befähigt werden sollen, um mitreden zu können.

Ich habe die Begriffe in einem System angeordnet, um deutlich zu machen, dass sie miteinander verknüpft sind. Auf horizontaler Ebene bedeutet dass, dass soziale Freiheit nur mit Gleichheit und Solidarität sowie Vielfalt nur mit Selbstbestimmung zu haben ist. Deswegen kann solidarisches Verhalten z.B. nur in Anerkennung vielfältiger Unterschiede gelebt werden. Organisatorisch gehören Dezentralität, Autonomie und Horizontalität, Föderalismus, Freiwilligkeit unbedingt zusammen. Deswegen führt z.B. die Betonung der Dezentralität eben nicht dazu, dass Aufgaben nicht eine überregionale Ebene übertragen werden. Freiwilligkeit ist in diesem Sinne nicht die individualistische Vereinzelung, wie im Liberalismus. Selbstverständlich führt dies auch zu Spannungen. Doch diese bestehen in unserer Lebenswirklichkeit und der Gesellschaftsform in der wir leben selbst und werden dadurch nur thematisiert. So sind auch die theoretischen Konzepte und die Kriterien für eine sozial-revolutionäre Orientierung jeweils miteinander verbunden.

Auf der vertikalen Ebene soll zumindest angedeutet werden, dass die anarchistische Ethik mit Organisationsprinzipien und theoretischen Konzepten in beide Richtungen vermittelt wird. Um in Vielfalt leben zu können braucht es dezentrale Organisationsformen und eine theoretische Beschäftigung mit Pluralität. Erst die Freiwilligkeit ermöglicht die Umsetzung von sozialer Freiheit und führt zum Nachdenken über gemeinschaftliche Individualität. Unter Autonomie verstehe ich ein Organisationsprinzip, welches so wertvoll ist, weil in die Selbstbestimmung von Einzelnen und das Konzept der gesellschaftlichen Selbstorganisation übergeht.

Dies ist wichtig, weil es eben nicht der anarchistischen Denk- und Herangehensweise entspricht, dass sich autonome Kommunen abschotten und sich dann einen Tyrannen wählen, Frauen unterdrücken oder Kinder schlagen. Dies würde die ethischen Grundwerte verletzen. Ebenso ist die Gleichheit nur formell zu verstehen, wie etwa in einem Wahlvorgang, sondern als tiefgreifende Beziehung aufgrund der Annahme von Kooperation zu realisieren und durch horizontale Organisationsformen umzusetzen. Wie schon gesagt, darf dieses Begriffssystem nicht starrsinnig als Programm verstanden werden, dass es einfach nur umzusetzen gilt. Daher sind auch die jeweiligen Begriffe nicht immer ganz genau ineinander übertragbar. Aber dieser Überblick kann eine Reflexion darüber anstossen, was Anarchist*innen und mit ihnen sympathisierende Leute bereits tun.

Schliesslich möchte ich noch offenlegen, dass ich diese Systematisierung aus einer bestimmten Sichtweise entwickelt habe. Meine Perspektive ist jene der anarchistischen Synthese und des Anarchismus ohne Adjektive. Diese ist nicht besser als andere Sichtweisen, beispielsweise aus dem anarchistischen Mutualismus, Individualismus, Kommunismus, Insurrektionalismus, Syndikalismus oder Kommunitarismus. Mit der Synthese wird lediglich versucht, die besten Punkte, welche Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen formulieren, einzubeziehen und ins Gespräch miteinander zu bringen. Daher sind die folgenden Begriffe auch ein Vorschlag, um eine gemeinsame Grundlage in einem sonst äusserst pluralen Anarchismus zu schaffen – dessen Interpretation, Schlussfolgerungen, Ansätze und Praktiken immer noch sehr unterschiedlich sein können.

Selbstverständlich macht es Unterschiede, ob man sich in Basisgewerkschaften, Affinitätsgruppen oder Genossenschaften organisiert; ob man Arbeitskämpfe, destruktive Akte oder Nachbarschaftsversammlungen für geeignete Mittel hält, um die Verhältnisse unmittelbar zu verändern. Darüber gilt es Diskussionen zu führen und sich zu streiten. Ebenso ist nicht einfach klar, was sich langfristig wirklich als radikal, emanzipatorisch, präfigurativ, konfrontativ und initiativ erweist. Auch hinsichtlich unserer Vorstellungen und Annahmen über Herrschaftsverhältnisse und erstrebenswerter Alternativen zu ihr, braucht es weiteres Nachdenken.

Unter einer Herrschaftsform, die uns nach Identitäten spaltet und durch die Brutalisierung (anti-)politischer Auseinandersetzungen, neigen wir jedoch dazu, vor allem Recht haben zu wollen und anderen unsere Sichtweisen aufzuzwingen, statt uns gegenseitig zu respektieren, uns zuzuhören und aufeinander zu beziehen. Wir lassen uns spalten von Autoritären, welche ihre Machtansprüche mit gesetzten Wahrheiten durchsetzen wollen, anstatt uns gemeinsam auf die Suche nach Wahrheiten zu begeben, die mit unseren verschiedenen Lebenswirklichkeiten verknüpft sind – und Werkzeuge zu ihrer Veränderung an die Hand geben. Dies bedeutet gerade nicht, Begriffe beliebig oder rein instrumentell zu definieren, sondern sie in langen emanzipatorischen Traditionen zu verorten und sich damit auf geteilte Ziele zu verständigen. Sich diesen Aufgaben zu widmen ist zugleich der Weg, gemeinsam sozial-revolutionär zu werden.

Es folgt eine knappe Beschreibung der jeweiligen Werte. Diese ist verkürzt und soll deswegen zur Reflexion und weiteren Diskussionen anregen...

Ethische Werte

Gleichheit hat eine materielle, eine politische und eine ethische Komponente: Alle Menschen erhalten bedingungslos die Ressourcen, um ihre Leben selbst zu gestalten. Sie können gleichberechtigt bei den Entscheidungen mitbestimmen, die sie betreffen. Und es geht um die Herstellung der gleichen Würde aller Personen.

Soziale Freiheit ist ein Verhältnis, in welchem Einzelne ihre Leben in Bezug auf die Anderen gestalten und dadurch erst zu besonderen Individuen werden. Um dies zu entwickeln, werden auch Grenzen respektvoll überschritten und ausgelotet. Es gibt keine echte Freiheit für Einzelne auf Kosten Anderer.

Solidarität ist sowohl Ausgangspunkt wie auch Ergebnis sozialer Kämpfe. Sie beschreibt den Zusammenhalt von Leuten, die sich gegenseitig helfen, auch ohne, dass sie miteinander befreundet sind und sich mögen. Solidarität geschieht insbesondere dann, wenn Menschen in schwierigen Lagen unterstützt werden und Privilegien abgegeben werden.

Mit Selbstbestimmung wird der Wille und die Besonderheit von Einzelnen betont, die über ihre Lebensgestaltung, ihre Tätigkeiten und ihre Körper selbst verfügen. Aufgrund der Ungleichheit unter der Herrschaftsordnung, ist sie erst für alle zu erkämpfen.

Vielfalt: Eine libertär-sozialistische Gesellschaft lässt vielfältige Lebensformen zu. Ebenso gilt es in sozialen Bewegungen und unseren Umfeldern heute Vielfältigkeit zu begrüssen. Vielfalt im anarchistischen Sinne gelingt aber nicht durch die herrschaftliche Konstruktion von Identitäten und liberalen Multikulturalismus, sondern indem einzelne Gruppen und Gemeinschaften sich selbst definieren.

Organisationsprinzipien

Horizontalität bedeutet Organisation auf Augenhöhe. In gegenseitigem Respekt werden Formen verwirklicht, in welchen möglichst alle Gehör finden und einbezogen werden. Dazu gilt es Medien zur Vermittlung der Interessen, Anliegen und Meinungen zu schaffen.

Autonomie heisst, dass jede Gruppe die sich zusammenfindet selbst entscheidet, welchen Tätigkeiten sie nachgehen, welche Positionen sie vertreten und wie genau sie sich strukturieren wollen, statt vorgefertigte Konzepte zu übernehmen oder Aufgaben, welche andere gestellt haben. Autonomie ist auch mit dem Exodus aus den Herrschaftsverhältnissen bei der gleichzeitigen Umsetzung von Alternativen verknüpft.

Föderalismus ist der Zusammenschluss dezentraler, autonomer Gruppen und Kommunen. Anstatt dass diese sich ausschliesslich um ihre eigenen Angelegenheiten vor Ort kümmern, beziehen sie sich aufeinander, tauschen sich aus und treffen Entscheidungen auf einer höheren Ebene um gemeinsam stärker zu sein.

Freiwilligkeit: Niemand darf gezwungen werden, einer Gruppe anzugehören, darin bestimmte Aufgaben oder festgelegte Rollen zu übernehmen. Freiwilligkeit ist wichtig, weil mit ihr auch die Grenzen der Einzelnen ausgelotet werden. Im Zweifelsfall bedeutet dies, aus einer Gruppe auszutreten oder ihre Grundlagen neu zur Verhandlung zu stellen. Doch ist der Grad der Freiwilligkeit hoch, ist die Gruppe auch stabil, stark und kann sich kontinuierlich weiterentwickeln.

Dezentralität: Anarchist*innen gehen davon aus, dass die meisten gesellschaftlichen Funktionen und auch soziale Bewegungen besser dezentral organisiert werden sollen. Zentralisierung ist nicht emanzipatorisch, weil sie immer eine Machtkonzentration bedeutet. Wie genau sich Dezentralität umsetzen lässt, ist dabei von Bereich zu Bereich unterschiedlich geschieht nicht von selbst, sondern ist herzustellen.

Theoretische Konzepte

Das Konzept der Kooperation begründet sich in der Annahme, dass Menschen soziale Wesen sind, die sich erst im gemeinsamen Zusammenwirken selbst entfalten und die Bedingungen für ein gutes Leben für alle herstellen können. Dennoch ist Kooperation kein Naturgesetz, sondern einzuüben, zu praktizieren und auszuweiten.

Mit gemeinschaftliche Individualität wird versucht, denkbar zu machen, wie der scheinbare Gegensatz von Einzelnen und Kollektiven abgebaut werden kann. Es gilt Gemeinschaften zu schaffen, in welchen die Einzelnen nicht gezwungen werden, aber ebenso Einzelne darauf hin zu orientieren, dass sie gemeinschaftlich werden können.

Die freie Vereinbarung zwischen Einzelnen und Gruppen richtet sich gegen den bürgerlichen Vertrag, in welchem Zwangsinstanzen entscheiden, wer im Zweifelsfall Recht und welche Ansprüche hat und diese durchsetzen. Stattdessen klären die Beteiligten ihre Angelegenheiten selbst und verhandeln sie bei Unstimmigkeiten neu. Die schliesst nicht aus, dass sie externe Gruppen für die Begleitung und Beurteilung ihrer Prozesse hinzuziehen.

Selbstorganisation ist ein Begriff der erst seit den 1950er Jahren verwendet wird, aber sehr treffend beschreibt, was Anarchist*innen bereits vorher annahmen. Ähnlich wie Systeme in der Natur könnte sich auch Gesellschaft ohne von ihr abgesonderten Staat selbst organisieren. Dennoch ist dies kein Naturgesetz, sondern bedeutet, dass Räume und Formen der Selbstorganisation aktiv einzurichten sind.

Pluralität: Wie kann Vielfalt ermöglicht und Dezentralität organisiert werden? Dies gilt es mit dem Konzept der Pluralität zu durchdenken, mit welchem ebenso danach gesucht wird, welche gemeinsamen Grundlagen es braucht, damit Unterschiedlichkeit überhaupt möglich wird ohne in Beliebigkeit oder Separatismus zu verfallen.

Sozial-revolutionäre Kriterien

Emanzipation: Soziale Bewegungen sollen emanzipatorisch sein in dem Sinne, als dass sich Gruppen, die unterschiedlich von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung und Zerstörung betroffen sind, selbst ermächtigen, um die Gesellschaft zu verändern. Nicht für Betroffene, sondern durch sie selbst geschieht der entscheidende Wandel. In diesem Prozess verändern sich Einzelne individuell, Gruppen partikular und die Gesellschaft insgesamt. Dies gilt es zusammen zu denken und nicht gegeneinander auszuspielen.

Radikalität: Im Anarchismus gibt es eine lange und anhaltende Debatte darüber, in welchem Verhältnis Ziele und Mittel gesehen werden. Der Zweck heiligt demnach nicht die Methoden, sondern beide sollen soweit es geht einander entsprechen. Doch im Widerspruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung reicht es nicht aus, wenn Mittel zum Selbstzweck werden und sich damit der Auseinandersetzung entziehen. Aus diesen Überlegungen heraus wurde der Ansatz der direkten Aktion entwickelt, welche die Radikalität sozialer Bewegungen begründet. Gesellschaftskritik wird damit praktisch angewandt.

Präfiguration: Anarchist*innen gehen davon aus, dass die Utopie konkret und immanent vorhanden ist. Das heisst, sie wird nicht an anderen Orten oder in andere Zeiten projiziert, sondern ist das Verdrängte und Ausgeschlossene in der Gegenwartsgesellschaft, das sich in unserer Sehnsucht nach etwas anderem manifestiert. Aus diesem Grund wird für ein Handeln im Hier und Jetzt plädiert. Sollen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend ändern, gilt es heute und dort wo wir stehen, damit anzufangen. Präfiguration bedeutet die experimentelle Vorwegnahme der allgemein angestrebten Formen und Beziehungen.

Konfrontation: Eine grosse Diskussion mit verschiedenen Standpunkten gibt es hinsichtlich des Verhältnisses von Negation und Konstruktion. Für die soziale Revolution gehört beides zusammen: Um nach den Möglichkeiten der vorgefundenen Bedingungen zu handeln, sind diese anzugreifen. Aus dieser Herangehensweise des auflösenden Aufbaus heraus sollen soziale Bewegungen die Konfrontation suchen. Dies kann je nach Situation und Konstellation verschiedene Ausprägungen annehmen.

Initiative: Im Anarchismus wird die Herangehensweise einer Avantgarde, welche mit einer ausgebildeten Ideologie und geschlossenen Kadergruppen soziale Bewegungen anführt, abgelehnt. Stattdessen sollen sich die Unterdrückten und Ausgebeuteten selbst ermächtigen. Um sich zu organisieren und zielgerichtet zu kämpfen, braucht es aber bestimmte Bedingungen, unter anderem Zeit, Bildung, Überzeugungen und Zugehörigkeit. Da die Voraussetzungen dafür sehr unterschiedlich verteilt sind, wollen Anarchist*innen soziale Bewegungen begleiten, motivieren und orientieren. Sie bilden eine Art „convoyer-garde“, ergreifen Initiative, versuchen diese aber ebenso bei anderen anzuregen.

Herrschaftsverhältnisse und ihre Alternativen

Staat / Föderation dezentraler autonomer Kommunen

Im Staat verdichtet sich das politische Herrschaftsverhältnis, dass in der Moderne mit der Nation als konstruierter Zwangsgemeinschaft verbunden ist. Er funktioniert nach den Prinzipien des Autoritarismus, der Zentralisierung und Hierarchisierung und weitet diese in alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Damit wird gleichzeitig Staat als Ansammlung unterschiedlicher Institutionen zusammengehalten, welche das Politische monopolisieren und auf sich hin zuordnen. Obwohl der Staat in seinem Kern auf nackter Gewalt und direkter Unterwerfung beruht, übernimmt er auch unterschiedliche Funktionen, sich zu kümmern, umzuverteilen und die öffentliche Infrastruktur zu organisieren. Daher ist für viele schwer vorstellbar, dass wir ohne Staat besser leben würden.

Als Gegenmodell streben viele Anarchist*innen eine Föderation dezentraler autonomer Kommunen an. Diese ist eng mit der Rätedemokratie verwandt. Statt einer Kaste professioneller Politiker*innen werden engagierte Leute in ihren jeweiligen Kommunen Aufgaben übertragen. Dabei wird die Ausübung dieser Mandate kontrolliert und rotiert. Dieses Modell ist kein konstruiertes Idealbild, sondern ergibt sich aus der Lebenswirklichkeit von Parallelstrukturen, die in Ansätzen überall vorhanden sind. Wenn dieses Modell in grösserem Massstab umgesetzt wird, sind Mechanismen zu schaffen, dass es nicht Macht kontinuierlich verteilt wird, damit es nicht wieder staatliche Züge annimmt.

Kapitalismus / dezentraler Sozialismus

Kapitalismus ist ein ökonomisches Herrschaftsverhältnis, welches auf Privateigentum, der Aneignung von Gemeingütern, sowie dem freiwilligen Zwang zur Lohnarbeit beruht. Der Kapitalismus bringt notwendigerweise eine Klassengesellschaft mit sich, die ohne staatliche Kompensation, wie das Prinzip der Profitmaximierung, selbstzerstörerisch ist. Weil er durch Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur unglaublichen Reichtum geschaffen hat, gelang es auch grosse Teile der Arbeiter*innenklasse zu befrieden. Seine Folgen alles andere als sozial, nachhaltig oder effektiv, doch hat der Kapitalismus die Fähigkeit, sich flexibel anzupassen und Widerstand gegen ihn einzubeziehen.

Dagegen streben viele Anarchist*innen einen dezentralen Sozialismus an. Wie auch der staatliche Kapitalismus weist dieser planwirtschaftliche Elemente auf, überlässt aber den einzelnen Akteur*innen die Entscheidung, wie sie auf Anfragen nach der Produktion oder Verteilung von Gütern reagieren. Weiterhin basiert der dezentrale Sozialismus auf unterschiedlichen Genossenschaften, in welchem Menschen ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und Kultur kollektiv und lokal organisieren. Die technischen Voraussetzungen für eine solche Organisation der Wirtschaft sind in jedem Fall gegeben. Die individuelle Verfügung über Güter wird geringer sein. Dafür ist die Grundabsicherung gewährleistet, gibt es wesentlich mehr Zeit zur freien Verfügung sind die Möglichkeiten nach sinnerfüllenden Tätigkeiten wesentlich höher, wobei anstrengende und belastende Arbeiten besonders gewürdigt werden.

Patriarchat / egalitäre Geschlechterverhältnisse

Herrschaft bildet sich auch in ungleichen Geschlechterverhältnissen ab, wobei das Patriarchat in verschiedenen Ausprägungen schon viele Jahrtausende besteht und weltweit durchgesetzt wurde. Es beinhaltet die Privilegierung von gesunden hetero Cis-Männern gegenüber allen Menschen in anderen Positionen. Zur Legitimierung wird eine vermeintlich natürliche Überlegenheit behauptet. Dass das Patriarchat ein wesentliches Herrschaftsverhältnis ist, zeigt sich auch am brutalen Kulturkampf, der von rechten Akteur*innen gegen emanzipatorische Bestrebungen geführt wird. Teilweise gelingt es dabei die Kategorie der Frauen von Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten zu spalten. Stattdessen setzen sich Anarchist*innen für die Gleichbehandlung aller Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und Begehren ein. Dies bedeutet materielle Anliegen umzusetzen wie gleichen Lohn und gleiche Arbeitsrechte für Frauen, sowie eine echte Wertschätzung und Gleichverteilung von Care-Arbeiten und Reproduktionstätigkeiten, die abwertend feminisiert werden. Weiterhin gilt es Angehörige in Minderheitspositionen besonders zu unterstützen. Die Konstruktion von Geschlechtsidentität überhaupt ist mit der modernen Gesellschaftsform verknüpft, die Menschen kategorisiert und in welcher sie sich definieren müssen. Dies ist an sich problematisch, weswegen die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht als solche zu problematisieren ist.

weisse Vorherrschaft / gegenseitiger Respekt

Die Entstehung des modernen Nationalstaates ist ebenso wie jene des Kapitalismus mit rassistischer Diskriminierung und Unterdrückung verknüpft, die ebenso wie das Patriarchat Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Aussehens in Kategorien presst, ihnen Eigenschaften zuschreibt und sie in einer Hierarchie anordnet. Dabei bildete die Versklavung Schwarzer Menschen in der Neuzeit eine der ökonomischen Grundlage kapitalistischer Ausbeutung, welche davon ausgehend auf das Lohnarbeitsverhältnis übertragen wurde. Rassismus zeigt sich in globalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, schlechten Arbeitsbedingungen, geringen Bildungszugängen, ethnischer Segregation und Polizeigewalt. Anarchist*innen wollen die weisse Vorherrschaft als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis überwinden, welches den Rassismus hervorbringt und aufrechterhält. Der Kampf gegen dagegen ist auf verschiedenen Ebenen zu führen und beinhaltet auch die Reflexion eigener rassistischer Vorurteile und Verhaltensweisen. Allen Menschen soll unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Aussehen und ihrer Sprache der gleiche Respekt zukommen.

Naturbeherrschung / konviviales Naturverhältnis

Die Herrschaft des Menschen über die Natur ist viele tausend Jahre alt, hat sich in modernen Gesellschaftsformen aber massiv gesteigert. Menschen setzen sich in das Zentrum des Kosmos, ordnen ihnen alle anderen Lebewesen unter und verwerten sie für ihre Zwecke. Um dies zu ermöglichen, wird erst eine künstliche Trennung von „Natur“ und „Kultur“ gezogen, die unsinnig ist, weil alles was Menschen bauen verarbeitete Natur ist, wie sie selbst auch. Deswegen werden mit der Naturbeherrschung letztendlich auch die Möglichkeiten eines guten Lebens für alle Menschen untergraben. Anarchist*innen wollen nicht „zurück zur Natur“, weil dies eine Projektion ist, sondern ein Brechen mit der verselbständigten Technokratie und dem anthropozentrischen Weltbild. Es gilt ein konviviales, also auf Gegenseitigkeit beruhendes, gesellschaftliches Naturverhältnis auszuweiten und die Produktion grundlegend umzugestalten. Darüber hinaus braucht es eine Dezentrierung des Menschen, um ihn entgegen des Zustands seiner Entfremdung, im Zusammenspiel mit der Welt und anderen Lebewesen zu erfahren.

Jonathan Eibisch

weitere Anregungen unter: paradox-a.de