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Demos und ihre Funktionen

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Politik

In meinem Umfeld und in der linken Szene im weiteren Sinne beobachte ich seit geraumer Zeit die Tendenz, dass der Besuch von Demos und das Engagement in selbstorganisierten Gruppen immer weiter auseinander zu klaffen scheinen.

Frauenkampftag in Wintertur, März 2022.
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Frauenkampftag in Wintertur, März 2022. Foto: Nina (PD)

Datum 16. Januar 2023
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Die neoliberale Individualisierung, der immer schwerer zu entfliehende Zwang zur Lohnarbeit, als auch ein apokalyptisches Zeitgefühl lassen es nicht attraktiv erscheinen, sich langfristiger, verbindlicher und kontinuierlicher Basisarbeit zu widmen. Allgemein spricht nichts gegen das Organisieren und die Teilnahme an Demonstrationen. Im Gegenteil, sich im öffentlichen Raum zu versammeln, zu artikulieren und aktiv zu sein, ist äusserst wichtig für soziale Bewegungen.

Nur neigen viele leider dazu, das Mitlaufen bei der Demo als politische Betätigung schlechthin anzusehen – im schlimmsten Fall sogar als eine Art Ablass dafür zu begreifen, dass sie anderweitig keine Kapazitäten aufbringen könnten, um für eine andere Gesellschaftsform und konkrete Veränderungen zu kämpfen. Mit dieser Aussage lege ich keine Leistungsmassstäbe an, wie sie uns im Kapitalismus ohnehin gepredigt werde. Aber ich kritisiere jene, welche meinen und auch erzählen, dass sie sich engagieren, während sie tatsächlich nur gelegentliche Demobesucher*innen sind und sich ansonsten auf twitter, facebook und Co. belesen. Kraftvolle Demos sind gut, funktionierende Basisarbeit ist besser. Erstere sollten Ausdruck von Letzterem sein. Viel wichtiger als die spektakulären Ereignisse sind die oft stillen Prozesse.

Es kursiert die Annahme, eine Demo würde für sich genommen „Druck auf die Politik erzeugen“ oder irgendwelche Veränderungen bewirken. Doch das ist leider ein Mythos. Dennoch sage ich nicht, dass Demos gar nichts bringen, im Gegenteil. Allerdings müssen wir uns bewusst machen, wozu sie dienen können und sollen. Darüber machen sich auch viele Leute andere Gedanken. Die folgenden Überlegungen sollen dazu nur eine weitere Anregung sein.

Im Wesentlichen haben Demonstrationen meiner Ansicht nach fünf Funktionen: Erstens dienen sie der Versammlung von ähnlich gesinnten und sympathisierenden Menschen, damit der Pflege unserer Gemeinschaften und eventuell auch der Erweiterung von sozialen Kontakten. Zweitens ermächtigen und bestärken sich Menschen, wenn sie unter einem bestimmten Label und mit ähnlichen Vorstellungen zusammen kommen. Sie wollen sich verstanden und verbunden fühlen – was völlig legitime Bedürfnisse sind. Werden sie erfüllt, kommen die Beteiligten auch im Alltag eher ins Handeln. Demos haben drittens die Funktion der Bewusstseinsbildung und der Selbstverständigung. Das geschieht in Redebeiträgen, in Gesprächen am Rand, durch Parolen, Transpi-Aufschriften und andere Stilmittel. Dies ist nicht allein ein rationaler Vorgang. Viertens soll mit ihnen Kommunikation nach aussen und Überzeugung geschehen. Andere Menschen sollen mitbekommen, wofür die Demonstrierenden stehen, welche Wahrheit ihre Perspektive hat und wie sie begründet wird. Der fünfte Punkt besteht in der direkten Aktion. Das kann vieles beinhalten und muss keineswegs notwendigerweise in Glasbruch münden. Entscheidend ist aber, die Form des legitimierten Spaziergangs zu verlassen und sich selbstbestimmt die Strasse zu nehmen.

Gegen die Demo-Reflexe

Selbstverständlich können Demos – abhängig von den organisierenden Gruppen, den politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Situation, dem Anlass und dem lokalen Kontext – sehr stark variieren. Schon aus diesem Grund kann es keine an sich gelingende Demo geben – allerdings durchaus welche, die ihre Ziele verfehlen. Weil wir oftmals eher dazu neigen die Aspekte zu benennen, welche uns nicht passen, nerven oder stören, als jene, welche wir gut finden, sollten wir aber auch wertschätzen, was wir hinbekommen. Eine andere Frage ist allerdings, ob es denn überhaupt immer eine Demo sein muss, wenn es darum geht, einen Handlungswunsch auszudrücken.

Gerade im deutschsprachigen Raum scheint mir die Kreativität hinsichtlich des Repertoires an Aktionsformen oftmals ziemlich beschränkt zu sein. Ein Ereignis bestürzt uns, wir fühlen uns ohnmächtig und die Antwort darauf ist sehr schnell eine Demo zu organisieren. Gleiches betrifft Jahrestage oder Gegenproteste. So verständlich das ist, sollten wir ernsthaft überdenken, ob Demonstrationen immer das adäquate Mittel sind, um unsere Anliegen zu verwirklichen. Und wenn wir zum Ergebnis gelangen, dass eine Demo für uns in Bezug auf ein bestimmtes Ereignis Sinn ergibt, führt dies zurück zu den oben erwähnten Absichten, welche mit ihnen verfolgt werden können.

Erst dann stellen wir uns nämlich die Frage, WIE unsere Demo tatsächlich aussehen soll, um Gemeinschaften zu stiften, Menschen zu ermächtigen, Bewusstsein zu bilden, zu kommunizieren, zu überzeugen und direkte Aktionen zu ermöglichen. Und in diesem Zusammenhang gilt es die verdammte Konsummentalität zu überwinden: Nein, dies ist nicht allein die Aufgabe der Demo-Orga. Sondern von allen, die sich daran beteiligen und irgendwelche Kapazitäten haben, sich darauf vorzubereiten. Dann nämlich gestalten wir diese Ereignisse selbst, machen sie also zu unseren eigenen Veranstaltungen. Welche Demos hast du erlebt, die du richtig gut fandest und aus welchen Gründen war das so? Wie stellst du dir eine Demo vor, die du sinnvoll und kraftvoll findest, an der du dich gerne beteiligen und mitwirken willst? Von welchen Demos warst du genervt und frustriert? Woran lag das und wie lässt sich das verändern? Darüber lohnt es sich weiter nachzudenken.

Spontaneität und Lethargie der Masse

In der BRD wird zu viel herum gelaufen. Das ist nicht schlimm, sollte uns aber zu denken geben. Wer den Umkehrschluss daraus zieht, es müsste einfachmehr Krawall geben, bleibt oftmals ebenfalls bei einer recht eingeschränkten Vorstellung des Demonstrierens stehen. Deswegen gilt es militant zu werden. Das bedeutet, eine im besten Sinne kämpferische und lebendige Haltung zu entwickeln, sich also aktiv und dynamisch in die Ereignisse einzubringen.

Welche Handlungen sich daraus konkret ergeben bleibt dabei offen. Gruppen können kurze Strassentheater inszenieren, Flugblätter an Passant*innen verteilen, den Schatz an Demoslogans erweitern, mit Farbe arbeiten, nach Nazis kundschaften, völlig abseits der Route ein Statement setzen oder was auch immer. Es ist klar, dass dies nur durch organisierte Bezugsgruppen gelingen kann, in denen sich nach Möglichkeit nicht unmittelbar vor Beginn der Demo ein paar Einzelne zusammentun, die sich gar nicht kennen. Vielmehr sollten sich in ihnen Personen verschwören, die Überzeugungen und Aktionsformen teilen, miteinander und nach aussen kommunizieren und sich bei allen Vorkommnissen unterstützen bzw. Unterstützung suchen können. Eine Demo ist nur so stark wie unsere genossenschaftlichen Beziehungen zueinander.

Die Teilnahme an Demos wird zwar gelegentlich vorbereitet, viel zu selten aber geschieht ihre Auswertung – egal, ob im eigenen Kreis oder einem grösseren halböffentlichen Rahmen. Abgesehen davon, dass Repressionsdrohung zu vermeiden ist und Menschen begrenzte Kapazitäten haben, werden damit aber wichtige Lernprozesse verspielt – sei es in taktischer Hinsicht oder bei der Beziehungsarbeit. Jene Demonstration ist auch eine pädagogische Aktion.

Weil eine funktionierende Bezugsgruppenpraxis meiner Wahrnehmung nach bei weitem zu wenig ausgeprägt ist, kommt es dann doch immer wieder zu den bekannten Latschdemos. Auch hier gilt: Die Demo-Orga steckt zwar einige Rahmenbedingungen ab, ist dabei aber weder in der Pflicht die Konsummentalität der Teilnehmenden zu bedienen, noch hat sie das Recht vollends zu bestimmen, was auf der Demo stattfinden darf oder nicht. Dennoch sollten Kommunikationsmöglichkeiten vor, während und nach der Demo ausgeschöpft werden, wenn man nicht gegeneinander, sondern gemeinsam etwas erreichen möchte. Statt der einlullenden passiven Lethargie der Masse gelangen wir zu ihrer selbstbestimmten Spontaneität.

Das Spannungsfeld zwischen Reform und Revolution überwinden

In linksradikalen Kreisen wird oftmals ein Gegensatz von Reform und Revolution konstruiert. Damit wird ein Spannungsfeld zwischen der Forderung nach ganz konkreten Verbesserungen innerhalb des bestehenden politischen, rechtlichen und ökonomischen Systems einerseits und der Überwindung des durch die bestehende Herrschaftsordnung gesetzten Rahmens aufgemacht. Historisch wurde dies ausgiebig im sogenannten Revisionismus-Streit diskutiert. Eduard Bernstein gab die revolutionäre Perspektive vollständig auf, während Karl Kautsky den Fakt, dass die Sozialdemokratie sich bereits vollkommen angepasst hatte, dadurch verschleiern wollte, dass sie sich revolutionärer Phrasen bediente, um ihre Mitglieder zu mobilisieren. Rosa Luxemburg ging einen anderen Weg, indem sie die Partei als Ausdruck der organisierten Arbeiter*innenklasse ansah und mit dieser eine „revolutionäre Realpolitik“ anstrebte. Dagegen entwarf Wladimir Iljitsch Lenin eine „Partei neuen Typs“, welche als straffe Avantgarde-Organisation streng auf die politische Revolution hin ausgerichtet war und die Staatsmacht übernehmen sollte.

Leider viel weniger bekannt als diese sozialdemokratischen und parteikommunistischen Strategien, sind die anarchistischen. Jene entstanden gerade in Kritik sowohl an politischen Reformen, welche nicht aufs Ganze zielen und die von der herrschenden Klasse gesetzten Rahmenbedingungen aufrecht erhalten, als auch an der politischen Revolution, mit welcher von der falschen Annahme ausgegangen wurde, die Staatsmacht könne als neutrales Instrument verwendet und die sozialistische Gesellschaft mittels einer Diktatur eingerichtet werden. Alternativ thematisiert Élisée Reclus in einem Beitrag von 1891 sehr schön, dass „Revolution“ und „Evolution“ keine Gegensätze, sondern vielmehr zwei verschiedene Momente des selben Prozesses seien.

Vielfältige Strategien für anhaltende Veränderungen

Damit wurden vier Wege entwickelt, um grundlegende Gesellschaftstransformation zu erzielen. Erstens – als Abkehr von der Reform – die mutualistische Selbstorganisation, mit welcher darauf gesetzt wurde, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich durch Graswurzelarbeit langfristig und radikal verändern lassen Pierre-Joseph Proudhon und Gustav Landauer standen z.B. für diesen Ansatz. Zweitens wurde in Enttäuschung von der politischen Revolution auf den Aufstand ohne konkrete Zielvorstellung gesetzt, etwa von Luigi Galleani. Näher am Politikmachen dran sind dagegen, drittens, organisierte Massenbewegungen, welche zivilen Ungehorsam praktizieren. Sie sind keineswegs nur anarchistisch, aber Anarchist*innen wie Errico Malatesta oder Emma Goldman beteiligten sich aktiv in einer eigenen Strömung in ihnen. Schliesslich beziehen sich alle diese Strategien, viertens, auch auf das Konzept der sozialen Revolution, welches sie gewissermassen zusammenbindet und auf die Gesellschaftstransformation insgesamt hin ausrichtet. Wie insbesondere Peter Kropotkin herausarbeitet, wird damit auch eine konkrete Utopie als positive Vision für eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform verbunden. In anarch@-syndikalistischen Ansätzen, z.B. bei Émile Pouget, wird dieser Bezugspunkt aufs Ganze wiederum mit konkreten sozialen Kämpfen im Alltag verbunden.

Es gibt also eine ganze Menge Strategien, um umfassende, radikale und anhaltende Gesellschaftsveränderung zu denken und soziale Kämpfe an ihnen auszurichten. Und wir sollten uns bewusst werden und entscheiden, welche Strategien wir – langfristig und auf bestimmte Situationen bezogen – eigentlich verfolgen. Denn auch dies wird sich auf die Gestaltung unserer Demos auswirken, ihren Charakter und ihre Effekte prägen. Es ist völlig klar, dass es dabei nicht den einen richtigen Weg oder nur eine sinnvolle Strategie geben kann. Tatsächlich vermischen sie sich, was auch völlig okay und bereichernd ist. Irritation und Streit kommen aber auf, wenn die Strategien, Ziele und Praktiken der unterschiedlichen Teilnehmenden sehr verschiedene sind – und wenn dies weder bewusst gemacht noch transparent und ehrlich kommuniziert und diskutiert wird. Und dies wirkt sich logischerweise auch auf die Gestaltung, den Ausdruck von Demonstrationen und die Handlungsoptionen in ihnen aus.

Autonomie oder Integration

Reform und Revolution gegeneinander zu stellen, ist konstruierter Widerspruch, den wir auch in der Ausgestaltung unserer Demos praktisch überwinden können. Viel eher lohnt es sich in einem Gegensatz von Autonomie und Integration zu denken. Denn dieses Spannungsfeld zieht sich im Grunde genommen durch alle sozialen Bewegungen und ihre verschiedenen Flügel. Zielen wir mit einer Demonstration vor allem darauf ab, Gehör für unsere partikularen Forderungen zu finden, ein Thema in den Mainstream-Medien zu setzen oder gar eine bestimmte Gesetzesveränderung zu bewirken? Oder wollen wir deutlich machen, dass wir uns selbst organisieren, die erstrebenswerten gesellschaftlichen Verhältnisse bereits praktisch einrichten und eine selbstbestimmte Agenda verfolgen, mit welcher wir auf eine möglichst klare Distanz zum gesetzten Rahmen der politisch und ökonomisch herrschenden Klassen und ihres Verwaltungs- und Zwangsapparates gehen? Hierbei geht es – ebenso wie bei den Transformationsstrategien – nicht in erster Linie darum, wie viel Macht die Aktiven in emanzipatorischen sozialen Bewegungen aktuell haben. Stattdessen ist entscheidend, wie und worauf hin sie ihre Botschaften, Ausdrucks-, Aktions- und Organisationsformen orientieren.

Auch wenn es zunächst etwas befremdlich wirkt – selbstverständlich können wir unser Handeln auch in einer kleinen Bezugsgruppe sozial-revolutionär, aufständisch, zivil-ungehorsam oder mutualistisch-selbstorganisierend ausrichten. Die Frage ist, WIE wir etwa tun und WO wir hin wollen. Und ob unser Handeln mit unseren Strategien, Vorstellungen und Aussagen übereinstimmt. Die Behauptungen, wir lebten in nicht-revolutionären Zeiten, erst müssten wir den Faschismus zurückschlagen oder aktuell wären nur Symbolpolitik oder marginale Reformen möglich, sind Schein-Argumente, die immer zur Integration in den Rahmen der bestehenden politischen Herrschaft dienen – auch wenn sie mit noch so linksradikal klingenden Phrasen und Begründungen vorgetragen werden. Dagegen wird es Zeit, dass wir eine andere Herangehensweise wieder entdecken und nach Autonomie streben.

Allerdings müssen wir uns dabei vor Augen halten, wer in welcher Position ist. Für Migrantinnen ist es beispielsweise entscheidend, dass sie einen Aufenthaltsstatus erhalten, damit sie in der BRD bleiben können – auch wenn das bedeutet, dass sie sich integrieren sollen. Ebenso ist es wünschenswert, wenn Aktivistinnen, die einer Lohnarbeit als Lehrerin, Anwältin, Journalistin, Sanitäterin oder Kulturschaffende nachgehen, ihre Positionen nutzen, um soziale Bewegungen zu stärken – auch wenn dies regelmässig zu Widersprüchen führt. Dennoch können sie in ihren Aktivitäten für eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform kämpfen, anstatt sich mühevoll am starren Rahmen der verwelkenden, zerrütteten Herrschaftsordnung abzuarbeiten. Eine solche Herangehensweise wird sich auch auf den Charakter von Demonstrationen und alle anderen Praktiken auswirken.

Jonathan Eibisch

Zuerst erschienen in Bella Ciao Nr. 3