Wechselseitige Instrumentalisierung Der Wert der Menschenwürde und ihre Grenzen

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Politik

Fast alle haben von der Menschenwürde eine positive Meinung, ohne sich davon Rechenschaft abzulegen, was sie sich mit ihr einhandeln.

Datum 2. Juli 2024
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Von der Menschenwürde ist meist die Rede, wenn es gilt, einen An- oder Einspruch zu formulieren. Allerdings geht die Menschenwürde nicht darin auf, gegen etwas geltend gemacht werden zu können. Sie legt das Selbst- und Weltverständnis moderner Bürger vielmehr auf eine recht spezielle Perspektive fest. Deren Probleme skizziert dieser Artikel. Das Grundgesetz räumt der Menschenwürde einen zentralen Platz ein. In den Lobreden auf das Grundgesetz anlässlich seines 75jährigen Bestehens war von den Grenzen der Menschenwürde keine Rede.

Die Menschenwürde als positive Errungenschaft

Die Menschenwürde hat ihre Berechtigung gegen vorbürgerliche Gesellschaften und autoritäre moderne Staaten. Letztere achten das Individuum nur in dem Masse, wie es seinen Dienst für das vermeintliche „Ganze“ leistet und schreiben der Person keinen eigenständigen Wert zu.

Zur Beachtung der Menschenwürde gehören
  • das Folterverbot,
  • die Gewährung von individuellen bürgerlichen und öffentlichen Rechten. Zwangen die Nazis in Wien jüdische Bürger, den Gehweg mit der Zahnbürste zu reinigen, so ging es ihnen „darum, sie als Wesen vorzuführen, die kein Recht haben, über wesentliche Bereiche ihres Lebens zu verfügen“ (Schaber 2010, 58),
  • „das Recht auf sozialen Kontakt. Eine vollständige Isolierung ist auch in der Haft unzulässig, sofern sie länger als nur kurze Zeit dauert“ (Battis, Gusy 1991, 297f.),
  • das Recht darauf, nicht herabgewürdigt zu werden (z. B. durch einen vorgeschriebenen herabwürdigenden Namen).

Was die Menschenwürde nicht garantiert

Allerdings besteht kein Anlass, sich von der Menschenwürde mehr zu versprechen, als sie enthält. Zwar verbietet sie es, Menschen die notwendigen materiellen Lebensgrundlagen zu entziehen. „Die Unterbringung einer siebenköpfigen Familie in einem einzigen Raum ist unzulässig. Umgekehrt ergibt sich aber aus Art 1 I GG kein Zahlungsanspruch gegen den Staat“ (Battis, Gusy 1991, 297f.). Art 1, Abs. 1 GG „verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‚Schützens' (der Menschenwürde – Verf.), doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw., gemeint. Art 1, Abs.1 GG begründet deshalb kein Grundrecht des einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat (BVerfGE 1, 104f.; 20, 32)“ (Schmidt-Bleibtreu, Klein 1970, 124).

Die Grenzen desjenigen Begriffs von Menschenwürde, der für das Recht in Deutschland massgeblich ist, zeigen sich auch im Arbeitsrecht. Zwar ist es dem Unternehmer untersagt, in die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers einzugreifen, indem der Beschäftigte bspw. „ohne seine Einwilligung auf einem Werbefoto für ein potenzstärkendes Mittel erscheinen würde“ (Däubler 1979, 113). Auch andere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte (unbefugte Weitergabe von Personaldaten, Diskriminierung aus unsachlichen Gründen) sind verboten. Allerdings „wird die Art und Weise der Arbeit an Maschinen und der Erbringung von Dienstleistungen nicht erfasst. […] So ist es etwa nicht rechtswidrig, wenn ein Arbeiter jede Stunde sechshundertmal denselben Handgriff machen muss, auch wenn ihn diese Tätigkeit im Laufe der Zeit zu sinnvollen Eigeninitiativen unfähig macht“ (Ebd., 112).

Das Recht findet an den sachlich erscheinenden Voraussetzungen der Gesellschaft des Privateigentums seine Grenze. Zu ihnen gehört die Unterordnung des Arbeitenden unter die Imperative einer Arbeit, die den Mehrwert steigert. Die Arbeitstechnologien und -organisationen, in die die Arbeitenden eingespannt werden, sind entsprechend eingerichtet.

Der Misserfolg in der wirtschaftlichen Konkurrenz und selbst die Insolvenz verletzen die eigene Menschenwürde nicht. „Der Grosskapitalist richtet den kleinen Kapitalisten ‚bona fide' (im Glauben, rechtmässig zu handeln – Verf.) zugrunde, ohne dabei die absolute Wertigkeit seiner Persönlichkeit irgendwie anzutasten. Die Persönlichkeit des Proletariers ist der Persönlichkeit des Kapitalisten ‚prinzipiell gleichwertig', dieser Umstand findet seinen Ausdruck in der Tatsache des ‚freien' Arbeitsvertrags“ (Paschukanis 1929, 139).

Die sog. Objektformel sieht vor, der Mensch solle nicht ausschliesslich als Objekt behandelt werden. In diesem „nicht ausschliesslich“ liegt die Grenze der Objektformel. „Der Mensch ist nicht selten blosses Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss“ (BVerfGE 30, 1). Nicht überall dort, wo Menschen zu Objekten werden, sieht das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Menschenwürde. Diese sei nur dort gegeben, wo die Behandlung eines Menschen „seine Subjektqualität prinzipiell infrage stellen oder in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Menschenwürde liegen (vgl. BVerfGE 30, 1)“ (Will 2011, 11) würde, insbesondere bei verächtlicher Behandlung.

Wechselseitige Instrumentalisierung

Die Teilnehmer am Geschäfts- und Erwerbsleben in der kapitalistischen Marktwirtschaft beziehen sich instrumentell auf ihr jeweiliges Gegenüber. In diesem bürgerlichen Materialismus gelten die Dinge und die Tauschpartner „nicht als ihre Bestimmung in sich selbst tragend, sondern bloss als Mittel, welche zur Realisierung eines ausserhalb ihrer liegenden Zwecks gebraucht und verbraucht werden“ (Hegel 8, 362). Fast alles hat in der kapitalistischen Gesellschaft einen Preis und ist tauschbar. Nur die menschliche Würde nicht (Kant VII, 68).

Der Imperativ, demzufolge Menschen nicht einseitig und hierarchisch andere Menschen nur (!) als Mittel und nicht auch (!) als Zweck behandeln sollen, gibt alle anderen Beziehungen wechselseitiger Instrumentalisierung frei. Geachtet werden sollen die Zwecke beider Seiten, die sie in diesem Verhältnis nur für sich selbst erreichen. An der Gleichgültigkeit der Wirtschaftsakteure gegeneinander, die ihre partikularen Privatinteressen verfolgen, nimmt das herrschende Verständnis von Menschenwürde keinen Anstoss.

Bereits die Waren tauschenden Bürger sind beides: Selbstzweck oder Sein für sich und Mittel oder Sein für anderes. Auf beiden Seiten des Tauschverhältnis gilt: Jede erreicht nur ihren Zweck, „insofern sie Mittel wird, und wird nur Mittel, insofern sie sich als Selbstzweck setzt“ (Marx 1974, 155). Auch die Lohnabhängigen sind sowohl Sein für anderes (als Arbeitskraft) sowie zugleich Sein für sich. Letzteres sind sie als Personen, die die Freiheit haben, die Nutzungsrechte an ihrer Arbeitskraft zu vermieten, den bestehenden Arbeitsvertrag zu beenden und einen neuen einzugehen.

Das Privateigentum

Das Privateigentum gilt in der bürgerlichen Gesellschaft als zentrale Teilmenge eines hohen Gutes, der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ (Grundgesetz, Artikel 2, Abs. 1). Das Bundesverfassungsgericht wertet das Eigentumsrecht als „ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht.“ Es diene dazu, dem Einzelnen „einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen“ (BverfGE 24, 267 (389)). „Das Privateigentum erscheint als die reale Grundlage der individuellen Unabhängigkeit und damit der Freiheit“ (Ramm 1974, 50).

Mit dem Grundgesetz wird „um der Würde des Menschen willen jede Steuer ausgeschlossen, die darauf ausgeht, die mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit wirtschaftlich zu einem Untertan im Rahmen einer allumfassenden, im Eigentum des Staates stehenden Wirtschaft zu machen.“ Steuern dürfen nicht auf die Erdrosselung selbständiger wirtschaftlicher Existenz hinauslaufen. „Nicht der Untertan, um dessen Wohl sich die Obrigkeit bemüht, sondern der kraft seiner Würde freie Menschen […] entspricht dem Grundgesetz. Die Besteuerung hat diesem Menschenbild zu dienen (VerfGE 5, 206f.)“ (Schmid-Bleibtreu, Klein 1970, 123f.).

Aufgrund der in der freiheitlich demokratischen Grundordnung gewünschten Pluralität der Antworten auf die Frage, was Menschsein positiv bedeuten soll, wird die Menschenwürde ex negativo definiert, ausgehend von den Verletzungstatbeständen. Als „anmassend“ gilt, „das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren“ (Maunz, Dürig 2011, Art. 10, Rn. 40).

Taschenspieltricks

Die gängige Rechtssprechung wendet sich gegen „Tendenzen zur Trivialisierung, zur Aufblähung und zur Ubiquität (Allgegenwart – Verf.) des Rekurses auf Art. 1 I GG“ und gegen dessen „Überhöhung“ zu „einem Problemlöser für alle komplexen und epochalen Entwicklungsprozesse (Dreier)“ (Gugel 2010, 115). Wer einen Begriff allzu expansiv fasst, ordnet ihm zu viel zu und entleert ihn damit. Wer den ersten Grundgesetzartikel inflationär in Anspruch nimmt, entwertet ihn.

Die Vorgehensweise, „Begriffe umzubesetzen“, erfreut sich hoher Beliebtheit. Wer so vorgeht, ersetzt den Inhalt z. B. eines Artikels des Grundgesetzes durch seine eigenen Vorstellungen. Einerseits interpretieren diejenigen, die so verfahren, ein Moment der Verfassung willkürlich gegen deren eigene Logik um. Andererseits wollen sie ihrem Publikum den Eindruck vermitteln, ihre eigenwillige Position sei durch das Grundgesetz legitimiert und autorisiert. Sie bestehen auf der Differenz ihrer Rechtsansichten zur allgemein herrschenden Auffassung der Verfassung und betonen zugleich ihre Übereinstimmung mit dem „eigentlichen“ Inhalt des Grundgesetzes. Sie lesen aus ihm heraus, was sie selbst in es hinein gelegt haben. Darüber hinausgehend tun sie so, als seien sie es, die das Grundgesetz am vortrefflichsten beherzigen. Überhaupt, so meinen sie, passe es am besten zu ihren Anliegen.

Nicht von dieser Welt und doch in ihr

Schon Kant bezieht die Menschenwürde keineswegs auf das Individuum in seinen Sinnen und Fähigkeiten, seinen Bedürfnissen und Interessen, seinen für es wesentlichen sozialen Beziehungen, sondern auf seinen Status als Rechts- und Vernunftsubjekt. Im Bemühen, ‚den Menschen' gegen soziale Verhältnisse stark zu machen, verkehrt sich die Absicht in eine recht spezielle Wirkung.

Dem Individuum wird mit der Menschenwürde eine Substanz zugesprochen. Es hat dann als Individuum, ganz unabhängig davon, wie die Gesellschaft aussieht, sein eigenes Reich. Dieses besteht aus der Seele, dem Gewissen und dem Individuum als Subjekt, das als „souveräner Inhaber seiner Rechte“ gilt. Dieser Humanismus ist so „die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: ‚Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein'“ (Foucault 1974, 114).

In der Menschenwürde kommt der Mensch als autonomes Vernunft-Subjekt oder als intelligibles Wesen vor, „dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist“, das „aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist“ (Kant IV, 493). Nur das Unbedingte ermöglicht Würde. Würde hat einen „absoluten Wert“ (Kant VII, 59).

Menschenwürde ist ein Noumenon. Kant versteht darunter im Kontrast zum Phänomenon oder der Erscheinung etwas, das ausschliesslich gedacht, aber nicht angeschaut werden kann (Kant III, 290). Die Menschenwürde betrifft nicht das empirische Individuum, sondern das ideale oder eigentliche Selbst oder den intelligiblen Charakter. Das empirische Individuum gehört der Sinnenwelt an, das eigentliche Selbst der intelligiblen Welt oder dem ideellen „Reich der Zwecke“ (Kant). Das empirische Individuum ist Abhängigkeiten unterworfen. Das ideale oder eigentliche Selbst ist autonom, und das heisst, es folgt der Idee von sich, der eigenen Gesetzgebung. Die „Würde“ als „absoluter Wert“ ist von allem Sinnlichen und Empirischen frei, ihm entgegengesetzt und über es erhaben (Kant VIII, 569).

Zum Kriterium der Menschenwürde wird bei Kant, dass das Individuum „sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Prinzipien zu handeln, d.i. der innern Freiheit, nicht beraube und dadurch zum Spiel blosser Neigungen, also zur Sache mache“ (Kant VIII, 552). Diese „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (Kant VII, 69). Die Autonomie und die Menschenwürde entpuppen sich als gleichbedeutend mit der Interesselosigkeit an der empirischen Wirklichkeit und fordern ein höheres Selbst, das über sie erhaben ist.

Insofern stehen Menschenwürdekonzepte in der modernen bürgerlichen Gesellschaft in Kontinuität zum christlichen Verständnis. Passend zur Auffassung „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1. Joh. 5.4) bildet der Mensch in der christlichen Religion „ein über die Welt überständiges Wesen“. Deshalb „hat die äussere Welt allein niemals genügend Bedeutung für ihn. Sein Herz und sein Selbst sind immer schon über die Welt hinaus. Die Welt, an der wir arbeiten, genügt unserem Innersten nicht“ und kann ihm nie genügen (Koslowski 1987, 53). Eine profanisierende Teilübersetzung lautet: „Die Ruhe finde ich sowieso nur in mir selbst. Die kann man genauso haben, wenn man im Gefängnis sitzt, vielleicht sogar eher, als wenn man frei herumsaust und sich selbst in Zwänge setzt“ (Franz Beckenbauer, Bild Berlin 28.1. 1997, S. 12).

Lebenslange Haftstrafe

Wie wenig der empirische Mensch mit seinen Sinnen und Fähigkeiten in der Menschenwürde gemeint ist und wie stark sie sich auf ein Wesen ohne Körper und Psyche bezieht, zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1977 über die Verfassungsgemässheit der lebenslangen Haftstrafe. Der Begründung des Bundesverfassungsgerichts zufolge führt sie nicht „zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art, welche die Würde des Menschen (Art 1 Abs 1 GG) verletzen […], denn der Kern der Menschenwürde wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss. […] Diese Aussicht (macht) den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich“ (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1977 BVerfGE 45, S. 187, Rn. 191).

Die per Menschenwürde dem Individuum zugerechnete Selbstverfügung lässt sich dann gegen Beschwerden über die empirischen Schäden, die die zur lebenslangen Haft Verurteilten erleiden, ausspielen. Es liege im Bereich ihrer „Leistungen“, also ihrer Selbstverfügung und Selbstverantwortung, mit den Problemen fertig zu werden bzw. mit ihnen umzuegehen. Wo dies nicht gelinge, sei nicht die Haftsituation verantwortlich, sondern letztlich die Stärke oder Schwäche des individuellen Willens oder der suboptimale Gebrauch, den das Individuum von seiner Vernunft macht.

Der freie Wille bildet eine Nachfolgefigur der Seele. Das bürgerliche Selbst- und Weltverständnis „versteht das Bewusstsein im Grunde als ein Lichtlein, das in jedem Menschen gleich brennt, im Kranken wie im Gesunden, im Geplagten wie in demjenigen, dessen Bedürfnisse harmonisch befriedigt werden. Aber wer sonst kann mit dieser Gerechtigkeit der Vorsehung in jedem Menschen ein solches Lichtlein entzündet haben, wenn nicht ein unbestimmter Lebensspender, irgendein Gott?“ Schon die christliche Religion, nicht erst die bürgerliche Ideologie, „unterstellt den Menschen einen ‚freien Willen', von dessen Gebrauch Heil und Verdammung im Jenseits abhängen“ (NN 1922).

Du bist nichts, Deine Menschenwürde ist alles

Die Menschenwürde bezieht sich auf eine Substanz, die zugleich in der Welt, nicht von dieser Welt und sie prinzipiell übersteigend ist. Diese Substanz soll normative Orientierung geben. Ein solches Vorgehen weist eigene Zugzwänge auf. Max Stirner hat diese Herangehensweise treffend kritisiert. „Solange Etwas von Dir ausgesagt wird, wirst Du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist, Christ u.s.f.) anerkannt“ (Stirner 1986, 152f.). Daraus ergibst sich folgende Frage: „Können Wir Uns das gefallen lassen, dass ‚Unser Wesen' zu Uns in einen Gegensatz gebracht, dass Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, ausser Uns selbst Uns verbannt zu sehen?“ (Stirner 1979, 34).

Auch Marx kritisiert „den Universalismus der Menschenrechte selber. Und zwar nicht nur, weil dieser sich als eine hegemoniale Verallgemeinerung einer eigentlich partikularen Lebensweise erweist, sondern weil in ihm die Menschen ‚lediglich' als Menschen anerkannt werden. […] Die Menschen werden ‚nur' in und aufgrund ihres Menschseins an sich, nicht in ihrer konkreten Individualität anerkannt“ (Maihofer 1992, 96).

Soll eine Substanz oder ein normatives Wesen das Eigentliche an der Existenz empirischer Individuen bilden, bleibt die Scheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen nicht aus. Sie zieht notwendigerweise problematische Konsequenzen nach sich. Vieles kommt dem Individuum als Attribut zu, gilt aber gleichzeitig gegenüber seiner Substanz als nebenher, beiläufig oder als blosses Akzidens. Diese Scheidung kann sich radikalisieren. Dann gilt das Unwesentliche nicht bloss als nicht-wesentlich, sondern als anti-wesentlich. Es verdecke, verstelle oder entstelle das Wesentliche.

Kant konfrontiert den „tierischen Hang“ des Menschen, „sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen“, mit der „Bestimmung der Vernunft“, „tätig“ sowie „im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen“ (Kant XII, 678). Viele verstehen die Menschenwürde allein als Schutznorm. Sie übersehen, wie die Menschenwürde als anspruchsvolle Norm Verwendung findet, an der die Individuen gemessen und auf die sie verpflichtet werden. „Autonomie bedeutet, mehr als ein blosses Bedürfnis- und Gesellschaftswesen zu sein und in dem Mehr – hier liegt Kants Provokation – zu seinem eigentlichen Selbst zu finden, dem moralischen Wesen, der reinen praktischen Vernunft“ (Höffe, zit. n. Ludwig 1995, 105).

Wer zwischen Wesen (Menschenwürde) und empirischer Realität (Individuum) unterscheidet, wird folgerichtig vieles als für die Menschenwürde unwesentlich erachten. In dieser Logik lassen sich massive Schädigungen der empirisch vorfindlichen Menschen legitimieren. Bspw. gilt die lebenslange Haftstrafe deshalb als beanstandungsfrei, weil sie den menschlichen Kern nicht tangiere. Das dem Individuum als dessen Wesen Zugeschriebene eignet sich vorzüglich dafür, es gegen das bloss empirische Individuum auszuspielen. Dabei käme es darauf an, überzugehen von der positiven Verwendung von „Menschenwürde“ als verschwommenem Wohlfühlwort zum Bewusstsein von deren problematischen Implikationen.

Meinhard Creydt