Der Zerfall von Israel
"Nicht die Hamas bricht zusammen, sondern Israel" ist der Titel eines Artikels, den die Tageszeitung Haaretz am 9. September veröffentlichte. Der Autor, Yitzhak Brik, ein General der israelischen Armee, erklärt, warum der Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens, der alles zerstört hat, was in diesem Gebiet existierte, und der Zehntausende von Menschen getötet hat, zu einer strategischen Niederlage Israels führt.Wenn die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) gezwungen sind, diesen Krieg fortzusetzen oder die Frontlinie direkt zu erweitern, besteht nach Ansicht von Brik die Gefahr eines echten Zusammenbruchs. Der psycho-physische Zustand der Soldaten, die seit fast einem Jahr in die Praxis der Vernichtungsoperationen verwickelt sind, würde in Verbindung mit dem Mangel an verfügbaren Reservisten zum Zusammenbruch und zur Niederlage führen, so Brik.
Die physische und psychische Erschöpfung der israelischen Folterknechte erinnerte mich an das, was Jonathan Littell in seinem Roman Les bienveillantes, 2006 (ital. Le benevole, 2007; span. Las benévolas, 2006 dt.: Die Wohlgesinnten, 2009) schildert: den Zustand des geistigen Marasmus[1], der Übelkeit, des Grauens vor sich selbst, in dem sich die SS-Männer befinden, die monatelang und jahrelang getötet, gefoltert, massakriert haben und am Ende nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Gesicht im Spiegel zu erkennen. Das Grauen, das die Vernichter der IDF in jedem mit menschlichen Gefühlen ausgestatteten Menschen hervorrufen, kann nicht anders als ein innerer Zersetzungsfaktor für diejenigen sein, die eindeutig versuchen, sich mit Hitlers Mördern zu messen.
General Brik beschränkt sich in seinem Artikel darauf, die militärische Situation zu untersuchen, aber viele Anzeichen deuten darauf hin, dass die gesamte israelische Gesellschaft am Rande des Zerfalls angelangt ist. Die abscheuliche Falle, die die Hamas gestellt hat, funktioniert perfekt: Das Geiseldilemma verursacht einen Riss, der nicht heilen wird. Der Hass auf Netanjahu wird sich politisch explosiv auswirken, wenn früher oder später Bilanz gezogen wird und die zynische Führung zur Rechenschaft gezogen wird für ihren Umgang mit dem Massaker.
Ausserdem bricht die israelische Wirtschaft seit langem zusammen, und das ist kein vorübergehender Zustand, denn diejenigen, deren berufliche Fähigkeiten ausserhalb dieses verfluchten Landes gefragt sind, verlassen das Land. Die Ärzte gehen weg. Geschäftsleute wandern ab. Kein Intellektueller, der diesen Namen verdient, kann in einem Land bleiben, das an Grausamkeit und Fanatismus mit Hitlerdeutschland konkurriert.
Die Fanatiker bleiben, die blutrünstigen Verrückten, die Unmenschen, die nur nach Israel gekommen sind, um das Land anderer Leute zu übernehmen. [Anmerkungen d. Übersetzer*innen: Das stimmt natürlich so nicht, es gibt immerhin ja noch die Zivilgesellschaft!] Und vor allem ist das, was für die Juden der sicherste Ort der Welt sein sollte, für sie zum gefährlichsten Ort der Welt geworden: ein Ort, der vom Hass von 1800 Millionen Muslimen [AdÜ: auch sehr krass, sie sind nicht nur von Hass umgeben] umgeben ist, ein Ort, an dem jedes Auto, das auf der Strasse vorbeifährt, plötzlich wenden und die an der Bushaltestelle Wartenden töten kann. Früher stellte sich die Frage nach der Existenzberechtigung Israels als Staat angesichts der Gewalt, mit der sich dieser Staat durchgesetzt hat, und angesichts seiner systematischen Verletzung aller UN-Resolutionen. Ich glaube, dass sich diese Frage nicht mehr stellen wird: Israel wird nicht überleben.
Sein Zerfall ist bereits im Gange, und nichts kann ihn aufhalten. Die Frage, die sich morgen stellen wird, ist eine andere: Wie kann man die mörderische Wut von sechshunderttausend bewaffneten fanatischen Siedlern eindämmen, die sich illegal im Westjordanland niedergelassen haben? Wie kann man verhindern, dass die israelische Tragödie einen nuklearen Staatsstreich provoziert, eine hysterische Antwort auf die Ausbreitung der Gewalt in diesem von Hass erfüllten Gebiet?
Der Zerfall der Vereinigten Staaten
Israel ist das Symbol für die Arroganz des Westens, der seine Sünden wiedergutmachen wollte: Nachdem die Europäer Hitlers fliehende Juden isoliert und zurückgeschlagen hatten, nachdem sie sechs Millionen von ihnen in Konzentrationslagern vernichtet hatten, luden sie die überlebenden Juden ein, zu gehen und anderswo zu sterben oder zu töten. Im Gegenzug versprachen sie Israel unermüdliche Unterstützung gegen die Araber und Perser, die, gedemütigt durch die Überlegenheit des superbewaffneten zionistischen Molochs, Israel bedrohlich umzingeln und auf den Moment der Rache warten. Aber der Zerfall Israels muss im Zusammenhang mit dem Zerfall der ganzen Welt gesehen werden, die sich gerne frei nennt und dabei vergisst, dass sie auf Sklaverei beruht. Werfen wir einen Blick auf die Vereinigten Staaten.Am 11. September 2024, zum Gedenken an die Opfer des grössten Anschlags der Geschichte, sagte der völkermordende Joe Biden: "An diesem Tag vor dreiundzwanzig Jahren dachten die Terroristen, sie könnten unseren Willen brechen und uns in die Knie zwingen. Sie haben sich geirrt. Sie werden sich immer irren. In den dunkelsten Stunden haben wir das Licht gefunden. Und im Angesicht der Angst haben wir uns zusammengeschlossen, um unser Land zu verteidigen und uns gegenseitig zu helfen". Wir haben uns geeinigt, sagt der Präsident. Er lügt, wie das Foto beweist, das Harris und Biden, den damaligen New Yorker Bürgermeister Bloomberg und mit ihnen Trump und Vance zeigt.
Vereint im Kampf? Es ist lächerlich, ihre heuchlerischen Gesichter mit den Händen über dem Herzen zu sehen: Biden ist mit Trump vereint, und Vance ist mit Harris vereint? Inwiefern sollten diese Schurken, die sich täglich gegenseitig beleidigen, vereint sein, während sie darauf warten, wer die letzte Wahl gewinnt, die dazu bestimmt ist, den Zerfall zu beschleunigen? Sicherlich sind sie sich einig in der Bewaffnung des zionistischen Völkermordes. Sicherlich sind sie sich einig in der Abschiebung von Menschen, die als illegale Einwanderer bezeichnet werden. Doch damit hört ihre Einigkeit auf. Wenn es um die Macht geht, sind sie Todfeinde. Wenn Donald Trump im November gewinnt, ist das Spiel vorbei: Die grösste Deportation der Geschichte beginnt, aber auch die endgültige Zerstörung des atlantischen Bündnisses.
Was aber, wenn die Dinge einen anderen Verlauf nehmen, was, wenn Kamala Harris gewinnt? Trumps Anhänger haben keinen Hehl aus ihrer Position gemacht: Wenn die Demokratische Partei gewinnt, bedeutet das, dass die Demokraten uns den Sieg gestohlen haben und dass wir nicht aufgeben werden. Eine Dame, die eine glamouröse MAGA-Mütze auf dem Kopf trug und von CNN während einer Trump-Kundgebung interviewt wurde, drückte es unverblümt aus. Sollten sie gewinnen, "wird es einen Bürgerkrieg geben". Was genau bedeutet es, dass es in einem Land, in dem jeder Bürger mindestens eine Waffe besitzt und viele vier, zehn oder fünfundzwanzig, einen Bürgerkrieg geben wird?
Ich glaube nicht, dass es einen Bürgerkrieg wie zu Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs geben wird, bei dem bewaffnete Menschenmassen entlang einer mehr oder weniger definierten Front aufeinandertreffen. Nein, so wird sich der Bürgerkrieg im Zeitalter des postpolitischen und hypermedialen Wahns nicht abspielen. Im Gegenteil, es wird zu einer Vervielfachung der rassistischen Erschiessungen kommen, zu einer exponentiellen Zunahme der Massaker: Wir werden einfach das haben, was wir schon haben, aber in immer grösserer Zahl, und das alles mit immer grösserer Wut und immer mehr Gewalt.
Kamala Harris ihrerseits sagte am 11. September: "Heute ist ein Tag des feierlichen Gedenkens. Während wir um die Menschen trauern, die wir durch den abscheulichen Terroranschlag vom 11. September 2001 verloren haben, sollten wir uns an diesem Tag auf das besinnen, was uns verbindet: den Stolz und das Privileg, Amerikaner zu sein". Sie hat es so gesagt, wie es ist. Was die Amerikaner eint (die gespalten und bereit sind, nach Macht und Beute zu greifen), ist das Privileg.
Die Amerikaner verbrauchen viermal so viel Strom wie der Weltdurchschnitt. Und sie wollen weiter exzessiv konsumieren, denn nur das Schlemmen von Plastik und Scheisse gibt ihrem elenden Leben einen Sinn. Der Anschlag von 9/11 war ein strategisches Meisterwerk. Der mächtigste Militärgigant aller Zeiten konnte von niemandem besiegt werden. Er musste gegen sich selbst aufgebracht werden, er musste mit einer solchen Wucht angegriffen werden, dass er verrückt wurde, dass er zu selbstmörderischen Aktionen getrieben wurde, wie die Aggression gegen den Irak und der Krieg in den Bergen Afghanistans, der mit der ungeordneten Flucht aus Kabul, der Rückkehr der Taliban an die Macht und der Demütigung der amerikanischen Supermacht endete.
Osama Bin Laden hat seinen Krieg gewonnen und damit den kulturellen, psychologischen und militärischen Zerfallsprozess des Kolosses ausgelöst, der sich immer noch vor unseren Augen vollzieht. Aber wir können nicht mit einem friedlichen Zerfall der amerikanischen Macht rechnen.
Wie Polyphem, der von Odysseus geblendet wurde, führen die Vereinigten Staaten schreckliche Schläge gegen diejenigen aus, die sich ihnen nähern, denn der amerikanische Koloss ist zu einer Reaktion gezwungen: Der Schauplatz des endgültigen Zusammenstosses wird Europa sein, wenn die Demokraten gewinnen, oder der Pazifik, wenn die Republikaner gewinnen. In jedem Fall aber taumelt der Koloss entlang der Linie, die am Rande des nuklearen Abgrunds verläuft.
Der Zerfall der Europäischen Union
Schliesslich ist da noch die Europäische Union, deren Zerfall bereits sehr weit fortgeschritten ist, sicherlich über den Punkt hinaus, an dem es kein Zurück mehr gibt. Mario Draghi sagte es mit der Offenheit eines Mannes, der nichts zu verlieren hat als seinen Platz in der Geschichte: Wenn wir nicht in der Lage sind, einen gemeinsamen Investitionsplan und eine gemeinsame Ausgabe von Schuldtiteln auf den Weg zu bringen, können wir uns auf den Zerfall der Union vorbereiten.Am nächsten Tag klatschten alle Beifall, aber alle sagten, Draghis Vorschläge seien unrealistische Hirngespinste. Zuerst sagte es Deutschland, das nicht über eine gemeinsame Schuldenaufnahme sprechen will, da es beginnt, den Preis für einen Krieg zu zahlen, der in erster Linie gegen es gerichtet war. Biden und Hillary Clinton haben es geschafft, einen Krieg gegen Deutschland zu provozieren, den es sofort verloren hat.
Während die Rezession immer wahrscheinlicher wird und sich ein Krieg abzeichnet, übernehmen die Faschisten die Regierung eines europäischen Landes nach dem anderen und kippen so das Ergebnis einer Europawahl, bei der Ursulas Koalition glaubte, gewonnen zu haben, und bei der sie stattdessen nichts gewonnen hat. Obwohl sie über eine Mehrheit im nutzlosen Europäischen Parlament verfügt, muss sie mit dem Vormarsch der Rechten rechnen, die zwar keine Mehrheit in Strassburg, aber tendenziell in allen Ländern des Kontinents eine Mehrheit hat. In Frankreich und Deutschland gibt es zwei Regierungen, die nicht über eine Mehrheit verfügen. Macrons Putsch könnte zu einer Eskalation des sozialen Konflikts führen, der immer gewalttätigere Züge annimmt.
Oder er könnte sich zu einem endgültigen Staatsstreich der Lepenisten entwickeln. In Deutschland hat der Kampf zwischen zwei unversöhnlichen geopolitischen Visionen begonnen: die atlantische Vision, die Gehorsam gegenüber den amerikanischen Herren postuliert, die die Regierung Scholz bereits dazu gedrängt haben, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abzubrechen und damit in die wirtschaftliche Katastrophe zu stürzen. Oder die kontinentale Vision, die einen Ausgleich mit Russland, aber einen politisch unmöglichen Bruch mit der NATO vorsieht.
Der einzige Integrationsfaktor, der den Europäern (wie übrigens auch den Amerikanern) bleibt, ist die Angst vor der Menschenflut, die sie an den Grenzen überschwemmt, und die Verabschiedung von immer unmenschlicheren Massnahmen gegen die Migranten. Die Festung rückt näher an die nicht-weisse Welt heran, aber die Entfesselung des Krieges unter den Weissen selbst und die politische und kulturelle Desintegration, die sie erleiden, treibt diese in Richtung Atomkrieg.