1.
Diese Krisen öffnen fortgehend neue Bereiche (wie Klimawandel, Pandemien, usw.) und gleichzeitig - aufgrund der zunehmenden Verwobenheit der globalen Verhältnisse - beeinflussen sie immer grössere Teile der Welt und Gesellschaft. Aus dieser Perspektive ist die globale Krise, die sich aus der Ausbreitung der Corona-Pandemie ergibt, keine eigenständige Krise, sondern lediglich die jüngste Kombination kapitalistischer interner Krisen, die sicherlich mit neuen Merkmalen einhergeht.Diese Krisen entstehen durch die grundlegenden Strukturen und Mechanismen des kapitalistischen Systems. Daher ist es innerhalb dieses Systems nicht möglich, diese zu lösen. Historische Ereignisse und Beobachtungen zeigen, dass unter dem Kapitalismus selbst die relative Bewältigung der Krisen, also die Abschwächung ihrer jeweiligen Folgen, unrealistisch ist. Stattdessen häufen sich die Krisen an und verschärfen sich gegenseitig, wodurch sie wiederum neuen Krisen den Boden bereiten.
Aus diesem Grund haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Häufigkeit, Schwere und das geografische Ausmass von Krisen sowie ihre menschlichen und natürlichen Folgen beispiellos zugenommen. Die Corona-Pandemie trat nach den gefährlichen, aber geografisch begrenzten Epidemien der vergangenen Jahre auf, von denen jede eine echte Warnung vor der nächst grösseren Epidemie war[1]. Bei den Staaten als politische Vertreter des Kapitals stossen diese Warnungen jedoch auf taube Ohren.
2.
Die Fortsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise erfordert, dass der Umfang der Ausbeutung und Unterwerfung von Menschen sowie der Umfang der Ausbeutung und Zerstörung der Natur[2] so weit wie möglich erweitert werden. In den letzten Jahrzehnten war der Klimawandel das wichtigste Ereignis, das den kapitalistischen Aspekt der Zerstörung der Natur und das Grundbedürfnis des Kapitals zur „Ausbeutung der Natur“ hervorhob.Die innere Logik des Kapitallebens, also die Weiterverwertung des Wertes, kennt keine Grenzen; Das Leben der Natur (und des Menschen) ist jedoch durch bestimmte Grenzen begrenzt (z.B. die Endlichkeit natürlicher Ressourcen oder die Verwundbarkeit von Ökosystemen und Arten). In Bezug auf das Leben auf der Erde basiert die Logik des Kapitals auf destruktiver Abstraktion - statt inhaltlicher und langfristiger Planung zählt die kurzfristige Gewinnabschöpfung, die neutral gegenüber Leid und Umweltzerstörung ist. So gesehen war die jahrhundertealte Geschichte der kapitalistischen Entwicklung in der Tat die Geschichte der politischen Bemühungen des Kapitals, die Dominanz seiner abstrakten Logik über das konkrete Leben von Mensch, Fauna und Flora zu etablieren und auszudehnen (wobei auch verschiedene Formen des Widerstands - von Menschen und Natur- auftraten).
In gewisser Weise ist der Kapitalismus ein besonderes historisches System, in dem die Wirtschaft stark dazu tendiert, sich von Gesellschaft und Natur zu trennen, um über den Interessen und Bedürfnissen der meisten Menschen und der Natur zu stehen. Das Auftreten der Corona-Pandemie kann als eine weitere Manifestation der abschreckenden Reaktionen (oder des "Widerstands") der Natur auf kapitalistische Zerstörung angesehen werden. Viele Wissenschaftler*innen haben schon jahrelang davor gewarnt[3], dass tödliche weltweite Pandemien unvermeidlich sein werden, entweder durch steigende durchschnittliche atmosphärische Temperaturen oder durch die fortgesetzte Zerstörung lebender Arten und die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensräume.
3.
Aufgrund seiner historischen Grundlagen, seiner Entstehung und Etablierung, parallel und verwoben mit der Entwicklung des Kapitalismus, sind die heutigen Staaten direkt oder indirekt[4] von der Fortsetzung der kapitalistischen wirtschaftspolitischen Verhältnisse abhängig. Da sie als politische Verkörperung der globalen kapitalistischen Verhältnisse den Interessen des Kapitals und der Kapitalistenklasse inhärent verpflichtet sind, können sie keine glaubwürdige Antwort auf die allgegenwärtigen Krisen des Kapitalismus geben. Denn die Entstehung dieser Krisen ist nicht auf die Nebenwirkungen (seitliche Fehler) des kapitalistischen Systems zurückzuführen, sondern eine grundlegende Folge der Befriedigung der Kapitalbedürfnisse[5].In den letzten Jahrzehnten hat die Art und Weise, wie Staaten mit der Klimakrise umgegangen sind, diese strukturelle Unfähigkeit deutlich gemacht. Die historische Ausweitung des Kapitalismus hat andererseits nicht nur die nationalen Grenzen und die nationalistische Politik nicht widerlegt, sondern verschärft, was den Erwartungen und Ansprüchen der bürgerlichen Denker widersprach. Grund dafür ist die Tatsache, dass das Kapital historisch gesehen hauptsächlich im Rahmen nationaler Zentren organisiert wurde und das nationale Kapital seine internen und externen Einflüsse nur durch die Vermittlung von Staaten aufrechterhalten und erweitern konnte. Die Staaten sind dabei neben ihrer Rolle als Hüter der kapitalistischen Ordnung auch selbst Akteure innerhalb des globalen Konkurrenzgeschehens. Über ihre wirtschaftlichen, militärischen und territorialen Machtmittel konkurrieren sie weltweit, um ihre Stellung zugunsten der eigenen (Wirtschafts-)Wachstumssteigerung und Machtausweitung zu verbessern.
Bei Rivalitäten und Konflikten zwischen Staaten spielen letztendlich die Konfrontationen der Bedürfnisse nationaler Grosskapitale eine grosse Rolle, da diese für die nationale Wirtschaft von wichtiger Bedeutung sind. Deshalb ging die Globalisierung der kapitalistischen Verhältnisse - entgegen den Erwartungen - mit der Stärkung und Ausweitung des Nationalismus einher. Globale Krisen (wie die Corona-Krise) erfordern globale Lösungen. Es liegt auf der Hand, dass Nationalstaaten sich zu solchen Lösungen nicht verpflichten können, da sie sowohl kapitalistische als auch nationale Interessen bedienen müssen.
4.
Die potenziell steigende Verbreitung der kapitalistischen Verhältnisse seit dem Zweiten Weltkrieg hat zu einer Zunahme der Kapitalmenge und zur Entstehung neuer Kapitalzentren auf globaler Ebene geführt. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen[6] sowie die Schaffung und Erweiterung neuer nationaler und globaler Märkte sind jedoch in geringerem Mass gewachsen, sodass sich die Ausbeutung vorhandener Ressourcen seinen grundlegenden "Grenzen" nähert.Diese Kollision ist die Hauptursache für die Entstehung aktueller Krisen. Die neoliberale Enteignung der Massen (insbesondere die Intensivierung der Kommodifizierung der Natur und der Kommerzialisierung der grundlegenden sozialen Dienste), die seit den 1980er Jahren auf der globalen kapitalistischen Agenda steht, konnte keine unbegrenzte Quelle bieten, um diesem Engpass zu entkommen und das Wachstum der Kapitalakkumulation sicherzustellen.
Die neoliberale Zwangsflexibilisierung der Arbeit und der Arbeitskräfte hat den Widerstand der Arbeitskräfte weltweit dramatisch niedergeschlagen und die antikapitalistischen Bewegungen geschwächt. Dadurch ist jedoch lediglich die politische Macht (Subjektivität) des Kapitals (bis auf weiteres) erhöht worden, ohne eine langfristige Option zur Überwindung des grundlegenden Engpasses[7] für das kapitalistische Wachstum schaffen zu können.
Trotz der schnellen globalen Ausweitung der kapitalistischen Verhältnisse konnte das rasche Aufkommen und Wachstum neuer Technologien (einschliesslich Informations- und Digitaltechnologien sowie High-Tech-Industrien) die Arbeitsproduktivität und die Bandbreite neuer Verbraucherbedürfnisse nicht so stark steigern, dass das gewünschte Kapitalwachstum dauerhaft (jenseits seiner Grenzen) gewährleistet wird.
Mit dem Ausbruch der Krise von 2008 wurden alle Hoffnungen auf ewiges kapitalistisches Wachstum, die der Neoliberalismus geweckt hatte, plötzlich zunichte gemacht. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Expansion des Kapitals und der zunehmenden Kollision mit seinen Grenzen war (aufgrund der in These 3 beschriebenen gegenseitigen Abhängigkeit des kapitalistischen Wirtschaftens von der Infrastruktur der Nationalstaaten) eine zunehmende Konfrontation zwischen nationalen Zentren des Kapitals auf globaler Ebene.
Die äussere Manifestation davon ist einerseits die Zunahme inter-imperialistischer Konflikte und die Verschärfung ihrer Polarisierungen und andererseits haben sich die Kluft und die Herrschaftsverhältnisse zwischen den fortgeschrittenen Industrieländern und dem "globalen Süden" verschärft.
Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser historischen Situation war, dass erneut der Boden für die Glaubwürdigkeit nationalistischer und populistischer Ideologien und Politiken geschaffen wurde. Der Aufstieg des nationalistischen Populismus in den Vereinigten Staaten, Russland, dem Vereinigten Königreich, Brasilien, Indien, Ungarn, Polen usw. und die Stärkung der rechtsextremen Tendenzen in vielen anderen Ländern haben in diesem Kontext stattgefunden.
Die allgegenwärtige Krise infolge der Corona-Pandemie ist in einem globalen politischen Klima entstanden, das bereits von nationalistischen Konflikten zerrüttet worden ist. Mit den zunehmenden Folgen der Corona-Krise wird deshalb der politische und ideologische Einfluss der rechtspopulistischen Strömungen und ihre Bewegungsreichweite sicherlich zunehmen.
Darüber hinaus wird die steigende öffentliche Panik und Verzweiflung über die Todesfälle durch Corona die vermeintlich apokalyptischen Aspekte der Corona-Krise (und des Klimawandels) erhöhen und dadurch den Einfluss religiöser fundamentalistischer Tendenzen verstärken, die im Allgemeinen leicht mit dem rechtsextremen und rechtsgerichteten Populismus artikuliert werden (können).
5.
In den letzten Jahren sind die Folgen der Klimakrise für den Menschen - wie erwartet – sehr weit verbreitet, und haben die Dynamik vergangener Spannungen auf der Welt mit neuer Antriebskraft verstärkt. Die zunehmende Schwere von verheerenden Dürren, Bränden und Überschwemmungen führt jedes Jahr zu Hunger oder zur Vertreibung und Migration von Millionen.Aufgrund der Folgen der Klimakrise haben die sozialen, ethnischen und politischen Spannungen in vielen Ländern hinsichtlich des Zugangs zu sicherem Wohngebiet, Wasserressourcen, Ackerland und anderen Lebensressourcen bereits erheblich zugenommen. Auch politische Auseinandersetzungen und militärische Konflikte zwischen Nachbarländern haben zugenommen.
Im Bereich der Weltpolitik hat die Klimakrise die Kluft und den Konflikt zwischen den Industrieländern und dem "globalen Süden" vertieft und zu einer Zunahme politisch-imperialistischer Interventionen beigetragen, wobei sich viele Länder gezwungen sehen, sich mehr denn je einer der imperialistischen Polarisierungen anzuschliessen. Das Scheitern des Pariser Abkommens war/ist in der Tat ein klares historisches Zeichen für den Sieg der nationalistischen Politik über eine Politik internationaler Vereinbarungen in der heutigen Welt.
In einem solchen Kontext ist der nationalistische (und populistische) Ansatz als Reaktion auf die Ausbreitung der Corona-Pandemie keine Überraschung. Der heftige Wettbewerb zwischen mächtigen Ländern um die Monopolproduktion des Corona-Impfstoffs enthüllt sicherlich die krankhafte Bemühungen des Kapitals, die Krise zu kommodifizieren. Viel wichtiger ist jedoch, dass daraus die gefährliche Kraft der Verschmelzung von Kapital und Nationalismus deutlich wird, welche die Hauptantriebskraft für die Fortsetzung des Imperialismus und der Weltherrschaftsverhältnisse ist.
Die Tatsache, dass die Logik von Wettbewerb, Profit und imperialistischer Vorherrschaft selbst unter diesen kritischen Umständen gewichtiger ist als die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit, zeigt, dass sich mögliche globale Entwicklungen zwangsläufig auf den Schienen bewegen, die schon durch imperialistische/kapitalistische Machtverhältnisse verlegt worden sind. Infolgedessen müssen sich die Staaten als weitsichtiger Verwalter des nationalen Kapitals in ihrer Praxis in Richtungen bewegen, die letztendlich die immanente fatale Kurzsichtigkeit des Kapitals auf politischer Ebene verfolgen und erweitern.
Die gleichzeitige Unterordnung der Staaten unter die nationalistische und kapitalistische Politik hat angesichts der Corona-Krise eine tödliche Konsequenz: Die Voraussetzungen des Wirtschaftswachstums, ob gewollt oder ungewollt, haben Vorrang vor den Voraussetzungen der öffentlichen Gesundheit. Hier zeigt sich ein grundlegender Widerspruch, der unter normalen (also nicht krisenhaften) Bedingungen, insbesondere in Industrieländern, nicht so sichtbar ist: der Widerspruch zwischen der formellen Verpflichtung der Staaten zu Gesundheit und Überleben der Bürger*innen und derer tatsächlichen Verpflichtung auf die Interessen des nationalen Kapitals.
6.
Vielen Wissenschaftlern und Epidemiologen zufolge erfordert eine angemessene Reaktion gegenüber der Corona-Pandemie zur Minimierung der Inzidenz und Mortalitätsrate die enorme Reduzierung der öffentlichen Aktivitäten für einen bestimmten Zeitraum. Eine solche Lösung, die auch von den Staatsfunktionären und sogenannten Gesundheitsexperten befürwortet wird, widerspricht jedoch den Bedürfnissen und Prioritäten der Wirtschaft.Da die kapitalistische Wirtschaft ein ununterbrochenes Wachstum benötigt, verursacht selbst eine vorübergehende Reduzierung sogenannter "unnötigen Aktivitäten" einen erheblichen Schaden für ihre Wachstumsrate. Je langsamer das Wirtschaftstempo eines Landes infolge der Corona-Krise wird, desto mehr wird das Land in der globalen wirtschaftspolitischen Macht-Hierarchie fallen. In der Tat können Staaten daher ihren wissenschaftlichen Ansprüchen[8] nicht treu bleiben und müssen der Bereitstellung nationaler Kapitalinteressen und nationalistischer Erwägungen Vorrang vor den Anforderungen der Gesundheit der Bürger*innen einräumen.
In einem solchen Kontext haben fast alle Staaten der Welt die Politik der "Wirtschaft First!" durchgesetzt: sowohl eine Minderheit von ihnen (wie die USA und Brasilien, der Iran usw.), deren Regierungen sich offen für die Herdenimmunität entschieden haben, als auch die Mehrheit derer, die offiziell von der Priorität der Gesundheit (des Lebens) der Bürger*innen sprachen. Und jede Form der Politik von "Wirtschaft First!" läuft unweigerlich auf Herdenimmunität hinaus[9]. Allerdings ist die vollständige Umsetzung des Ansatzes “Herdenimmunität” sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene für die Staaten sehr riskant, da ihre menschlichen Folgen unvorhersehbar sind und leicht ausser Kontrolle geraten können, wodurch die politische Stabilität sowie die Verfügbarkeit von Arbeitskräften und damit letztendlich die Kapitalsicherheit gestört werden kann.
Infolgedessen verwenden die meisten Staaten ergänzende Ansätze, während sie eine solche Vision (Herdenimmunität) beibehalten: Einerseits fordern sie die Menschen auf, mit der Krise zu leben[10] (genau wie ihren Umgang mit der Klimakrise, also eine Koexistenz) und versuchen diesbezüglich die Krise umfassend zu "normalisieren"; Andererseits versuchen sie, die öffentliche Meinung zu steuern, indem sie Pandemiedaten (oder ihre Interpretationen) manipulieren und Medienpropaganda entwickeln[11]. In dieser Hinsicht werden abhängig von den Umständen verschiedene Richtlinien angewendet: von der Schuldzuweisung an die Menschen und der Verurteilung ihrer Nachlässigkeit bei der Erhöhung der Inzidenzrate bis hin zum Vorgeben, Sondermassnahmen zu ergreifen, die aber wiederum völlig unzureichende und widersprüchliche Lösungen sind[12].
7.
In fast allen Gesellschaften, in denen die Corona-Pandemie weit verbreitet ausbricht, wurde seit dem ersten Monat ein wichtiges Phänomen beobachtet: Die Verteilung der gesundheitlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise ist eindeutig klassenabhängig: Menschen, die aufgrund ihrer anfälligen wirtschaftlichen Position stark von (Tages-)Arbeit und Tageslohn abhängig sind[13], können ihre täglichen Kontakte nicht einschränken oder sich zu Hause unter Quarantäne stellen und sind daher viel stärker als andere dem Virus ausgesetzt[14].Viele von ihnen sind auch nicht in der Lage, sich hygienische Präventionsmassnahmen, Corona-Tests und sogar notwendige medizinische Versorgung (nach der Ansteckung mit dem Virus) zu leisten. Gleichzeitig sind diese Gruppen diejenigen, die aufgrund unzureichender Ernährung ein relativ schwächeres Immunsystem haben und häufig in kleinen, aber dicht besiedelten Häusern in armen Stadtteilen oder am Rande von Städten leben.
Die derzeitige Verteilung der Infektionsfälle nach städtischen Gebieten zeigt deutlich, dass die Pandemie in den Armenvierteln, in denen eine grosse Anzahl von Menschen dicht bei einander wohnt, viel grössere Auswirkungen hat. Die intensiv besetzten Busse und U-Bahnen, die die Fahrgäste von den und in die armen Stadtteile transportieren, sind ein tägliches Symbol für die Klassenverteilung des Ansteckungsrisikos durch Corona zeigt. Noch härter sozial und gesundheitlich betroffen sind diejenigen Menschen, die in der kapitalistischen Gesellschaft und/oder der rassistischen Ideologie der Nationalstaaten nicht verwertbar sind (und damit als überflüssig oder parasitär angesehen werden[15]), also Menschen, die nicht arbeiten können oder dürfen. In Zeiten der Corona-Krise hat die Sorge um Gesundheit und Leben dieser Menschen keinerlei Priorität.
Konkret betroffen sind vor allem Menschen in Flüchtlingslagern, chronisch kranke und alte Menschen. Darüber hinaus kommen die Auswirkungen des neoliberalen Prozesses der Kommodifizierung und Kommerzialisierung der Gesundheit, die durch die Reduzierung der öffentlichen Infrastruktur in diesem Bereich (oder deren Zugänglichkeit) eine bedeutende Rolle bei der Erhöhung der Todesfälle der Corona-Pandemie gespielt haben. Diese Auswirkungen betreffen auch vor allem die Mehrheit der Gesellschaft (die Arbeiterklasse oder alle sozial Benachteiligten).
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Klassencharakters der Corona-Krise ist die zusätzliche Verschärfung der bereits existierenden Widersprüche und Krisen der Kapitalverwertung auf Kosten der Arbeiterklasse, der unterprivilegierten, Ausgeschlossenen, Ausgestossenen. Steigende Arbeitslosigkeit, Arbeitsprekarisierung, gesteigerte Ausbeutung und Unsicherheit des Lebensunterhalts, Ausbreitung von Armut und der Entzug von Rechten und sozialen Absicherungen usw. werden als Folge der wirtschaftlichen Einbrüche durch die Corona-Krise weiterhin und verstärkt zunehmen. Daher stellt sich die Frage: Wie sieht eine alternative politische Herangehensweise aus, die sich mit der Notlage der Mehrheit (der Arbeiterklasse und der Unterprivilegierten und der sozial benachteiligten) angesichts der vielfältigen und allgegenwärtigen Folgen der Corona-Pandemie beschäftigt?
8.
Eines der Probleme, die die Linke in ihrer politischen Herangehensweise an die Klimakrise in den letzten zwei Jahrzehnten hatte, und die einen grossen Teil von ihnen daran gehindert hat, sich als Teil einer Kampfstrategie aktiv zu beteiligen, ist, dass ihnen die tatsächlich betroffenen, also die eigentlichen Subjekte dieses Kampfes, meistens unbekannt erschienen und weiterhin erscheinen; die Teilnahme am Klima-Kampf war daher ausschliesslich mit moralischen und intellektuellen Motivationen verbunden oder wurde auch so betrachtet[16]. Hinsichtlich der linken Reaktionen auf die Corona-Krise scheint dies in den letzten Monaten erneut aufzutreten und verwirrt linke und fortschrittliche Kräfte.Dieses Dilemma sollte jedoch im Fall der Corona-Krise nicht als ungelöstes Problem wiederholt werden: Die Folgen der Corona-Krise sind unmittelbarer und greifbarer als die Krise der globalen Erwärmung und haben (zumindest kurzfristig) weitreichendere soziale und geografische Auswirkungen. Angesichts des Klassencharakters dieser Folgen ist das potenzielle Hauptsubjekt politischer Intervention in dieser Situation die Arbeiterklasse (im weitesten Sinne des Wortes); also die benachteiligte/untergeordnete und unterdrückte Mehrheit der Gesellschaften, die immer die Hauptlast der kapitalistischen Krisen trägt.
Neben der direkten Bedrohung des menschlichen Lebens und Gesundheit, insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Folgen, hat die Corona-Pandemie das tägliche Leben der Benachteiligten in allen Gesellschaften stark beeinträchtigt und ist bereits zu einem herausfordernden politischen Thema geworden. Alle Fakten und Beobachtungen deuten darauf hin, dass die bereits heute sichtbaren sozio-ökonomischen Folgen der Corona-Krise nur die Spitze des Eisbergs sind.
Es ist daher anzunehmen, dass die Corona-Krise mit der Verschärfung ihrer Folgen zunehmend zu einem Hauptproblem aller Gesellschaften wird. Wenn in naher Zukunft kein zuverlässiger Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden und in Massenproduktion hergestellt wird, wird diese Pandemie die aktuelle Weltlage weiter in Richtung einer ausgewachsenen Krise treiben, wodurch die Widersprüche des kapitalistischen Systems und die Grenzen seines politischen Rahmens (also der liberalen Demokratie) mehr denn je aufgedeckt werden. In dieser Hinsicht werden mit den wachsenden sozioökonomischen Dimensionen der Corona-Pandemie ihre politischen Implikationen als Triebfedern kapitalistischer Krisen sichtbarer und entscheidender.
In diesem Kontext werden auch die Staaten ein deutlicheres Bild ihres Klassencharakters und ihres repressiven Inhaltes vermitteln, indem sie mehr denn je die Interessen der Mehrheit ignorieren und mehr denn je die daraus resultierenden Protestbewegungen und antikapitalistischen Kräfte zerschlagen müssen. Die wichtige Frage (angelehnt an die bereits in der vorherigen These beschriebene) lautet also: Wie könnte der antikapitalistische Kampf inmitten der kommenden tiefen Krise neu definiert werden und ihre potenziellen Subjekte einbeziehen?
9.
Linke Kräfte und Organisationen haben - mit wenigen Ausnahmen - bislang passiv auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierende globale Krise reagiert. Am optimistischsten betrachtet, wurden sie einfach von der Geschwindigkeit historischer Ereignisse überholt (wie in vielen anderen Fällen in den letzten Jahrzehnten).Im Allgemeinen nahmen sie entweder das Ausmass der Corona-Krise nicht ernst genug oder waren so in ihrer derzeitigen Routine verwickelt, dass sie nicht die Gelegenheit (oder die Lust) hatten, ihre Kampfstrategie zu erneuern. Im Gegensatz zu den Linken haben die Staaten diese Krise sehr ernst genommen: sowohl ihre Gefahren/Bedrohungen für ihre eigenen Prioritäten und Ziele, als auch ihre Möglichkeiten die eigene Herrschaft zu erweitern[17].
Die Passivität der linken Kräfte angesichts der Corona-Krise beruht natürlich auf einige Einschätzungen, von denen die wichtigsten die folgenden wären:
a) Durch "Übertreiben" der Corona-Krise können die Staaten ihre Macht erweitern, indem sie den Notstand ausnutzen und dadurch weitere Kontrollmassnahmen durchsetzen und normalisieren.
b) Die Herausforderung, die die Corona-Krise mit sich bringt, führt zu einer unbeabsichtigten Stärkung der rechten Strömungen. Diese leugnen die Gefahren der Pandemie und bekämpfen die Vorsichtsmassnahmen der Staaten.
c) Die Corona-Pandemie ist eine vorübergehende Krise und die Dimensionen ihrer tatsächlichen und potenziellen Folgen sind im Vergleich zu anderen bestehenden Problemen nicht besonders ausgeprägt. Wenn sich die Linken darauf konzentrieren, werden sie ihre grundlegenden Aktivitäten vernachlässigen, was im Interesse der Bourgeoisie liegt.
d) Die Bewältigung dieser Krise liegt ausserhalb der praktischen Möglichkeiten und Funktionen der linken Kräfte. Eine Lösung, die sich grundlegend von den staatlichen Ansätzen unterscheidet, ist unvorstellbar.
e) Auch wenn die grundlegende Einschränkung wirtschaftlicher Aktivitäten eine gerechtfertigte wissenschaftliche Lösung wäre, wird ihre Umsetzung den Arbeiter*innen und den Benachteiligten zusätzlichen Lebensdruck auferlegen. Daher ist die Umsetzung einer solchen Politik weit von den Bedürfnissen der Menschen entfernt und stellt die Linke gegen sie. … Durch eine Kombination dieser Argumente haben die Linken ihre politische Arena bezüglich der Corona-Krise in der Tat ihren Gegner überlassen[18]. Das Spielfeld wurde den Staaten und in geringem Masse den rechtspopulistischen Strömungen überlassen (dies ist ganz offensichtlich, insbesondere in der deutschen Gesellschaft).
10.
Die revolutionären linken Kräfte sollten einer gegenwärtigen welthistorischen Krise aufgrund ihrer Erfahrungen, Ziele und Kampftraditionen grundsätzlich nicht gleichgültig gegenüberstehen oder planlos die daraus resultierenden Gefahren/Bedrohungen und Chancen beobachten. Ihre aktuelle geschwächte Situation zeichnet sich insbesondere durch eine Zerstreuung und ihre eigene Verzweiflung aus. Dies führt dazu, dass sie nicht mit der Krise Schritt halten können und demnach sich auch nicht spezifisch damit auseinander setzen können.Die Fragen der historischen Herausforderung, die sich die Linken stellen müssen, sind: Wie kann die Corona-Krise als historisch bestehender und entscheidender Faktor mit den gegenwärtigen und zukünftigen Kampfstrategien und Prioritäten der Linken verbunden werden, damit diese erneut im Einklang mit der politischen Aufgaben und Vision der Linken steht? Wie kann auf dieser Grundlage eine gemeinschaftliche Agenda aufgestellt werden, um so viele linke Kräfte und fortschrittliche Tendenzen wie nur möglich zu vereinen?
Welche Elemente, Merkmale und Methoden sollte diese Agenda enthalten, damit sich die Unterdrückten oder potenzielle Zielgruppen oder Träger der linken Politik verbinden und gleichzeitig einen starken Gegendiskurs (gegen den staatlichen Ansatz zur Normalisierung der Krise) schaffen können?
Kurz gesagt, wie kann eine aktive Intervention in der aktuellen Krise die Aussichten des antikapitalistischen Kampfes stärken und Möglichkeiten bieten, die potenziellen Subjekte dieses Kampfes zu stärken und zu organisieren? Um klare und konkrete Antworten auf diese Fragen zu finden, ist eine gemeinsame Auseinandersetzung mit der aktuellen Krise erforderlich, die es selbst wiederum erfordert, die Krise als grundlegende bestehende Herausforderung anzuerkennen.
Nach dem, was gesagt wurde, kann es jedoch möglich sein, einige Grundelemente des linken alternativen Ansatzes zur Corona-Krise zu skizzieren:
a) Dieser Ansatz sollte die Lage und die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft (untere Klassen) und ihre täglichen Anliegen und Bedürfnisse hervorheben und die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, Solidarität und Organisation der unteren Klassen stärken. Dieser Prozess sollte dazu dienen, durch Stärken des kritischen Denkens und linker Werte sowie solidarischer Kämpfe in der Gesellschaft, die Perspektive revolutionärer Organisierung gegen den Kapitalismus zu entwickeln. Klassischer ausgedrückt: die linke Konfrontation mit der Corona-Krise muss einen Klassenansatz beinhalten, da der wahre Klassenkampf in der heutigen Situation ohne Pandemiefolgen nicht denkbar oder effektiv wäre; die Folgen der Corona-Krise treffen die unterste Klasse und dadurch ist der Klassenkampf unweigerlich mit dem täglichen Leben der Menschen verbunden. Deshalb müssen die Linken wieder in der Gesellschaft präsenter sein - ohne Angst vor den Vorwürfen, Schwierigkeiten und Gefahren, die damit verbunden sind, oder vor dem langen Weg, der bevorsteht.
b) Eine alternative Intervention in der Corona-Krise erfordert eine aktive und grundlegende Auseinandersetzung mit der widersprüchlichen Politik des Staates, da der Staat als politisches Organ des Kapitalismus unter allen Umständen verpflichtet ist, Kapitalinteressen zu sichern und somit den Vorrang der Wirtschaft vor den Bedürfnissen der Gesellschaft um jeden Preis aufrechtzuerhalten und zu gewährleisten. Um die dominierende Wirtschaft zu retten, normalisiert der Staat einerseits unerbittlich die Krise und macht gleichzeitig das unachtsame Verhalten der Menschen für die Zunahme der Todesfälle verantwortlich; Zusätzlich legt der Staat die wirtschaftlichen Kosten der Krise und die Rettung grosser Unternehmen auf die Schultern der unteren Klassen. Darüber hinaus nutzt der Staat die Krise als Mittel zur Schaffung eines Ausnahmezustands, um die Kontroll- und Repressionspolitik zu verschärfen.
c) Da der Klimawandel (die kapitalistische Zerstörung der Natur) letztendlich der Ursprung der Corona-Pandemie ist, müssen die Linken ihre Strategie und Politik zur Bekämpfung der Corona-Krise auf die Bekämpfung der Klimakrise ausrichten. Dies ist nicht nur ein Kampf, der auf moralischen und ideologischen Werten beruht, sondern ein Kampf um das Überleben auf diesem Planeten[19]. In dieser Hinsicht sollte nicht vergessen werden, dass dieser Kampf auch mit der möglichen Entdeckung des Corona-Impfstoffs nicht enden wird, denn mit der anhaltenden krankhaften Fortsetzung des Kapitalismus und deren Grenzüberschreitung werden zukünftige Pandemien und weitere gefährliche Folgen der Klimakrise noch hinzu kommen. Diese Ansätze der Linken zu der Corona-Krise ebnen folglich nur den Weg der nächsten notwendigen und ernsthaften Kämpfe.