„Freiheit ist nun wieder die Regel!“ jubiliert die FDP Anfang April 2023. Der Grund: Die letzten Corona-Massnahmen sind Geschichte. Die „massiven Eingriffe in unsere Grundrechte“ seien endlich überwunden. Diese Wortwahl der FDP gibt vielleicht Anlass zu hochgezogenen Augenbrauen, auf jeden Fall aber zu Fragen: Wenn jetzt wieder Freiheit herrscht, war unsere Gesellschaft während Corona etwa unfrei? Lebten wir gar, wie die Rede vom Eingriff in die Grundrechte zumindest nahelegt, in einer Diktatur?
Eigentlich sollte mensch glauben, dass hier nur eine Antwort möglich ist: Auch während Lockdowns und Maskenpflicht gab es kein totalitäres Regime in Deutschland. Keine Geheimpolizei kontrollierte die politische Meinung der Bevölkerung, es existierten keine Todesschwadronen, die Corona-Gegner:innen jagten, die Opposition konnte ungestört arbeiten. Dennoch ist die FDP mit ihrer drastischen Wortwahl nicht alleine. Im Gegenteil: Entgegen aller Fakten entstand in den Jahren der Pandemie ein politischer Diskurs, der um ein zentrales Motiv kreist: „Die Freiheit ist – aufgrund der Corona-Massnahmen – in Gefahr.“
Dieser Freiheitsdiskurs äussert sich am deutlichsten in den Massenprotesten der Querdenken-Bewegung. Doch auch im politischen Mainstream ist das Motiv der Freiheit in Gefahr in aller Munde: Bundespolitiker:innen wie der CDU-Mann Arnold Vaatz befürchten die Abschaffung der Demokratie. Ebenso behauptet der beliebte „Tatort“-Schauspieler Jan-Josef Liefers im Rahmen der Aktion #allesdichtmachen, die Bundesregierung schränke die Meinungsfreiheit ein. Und die Autor:innen des Manifests „Covid-19 ins Verhältnis setzen“ gehen soweit zu erklären, der Staat zensiere Regimekritiker:innen.
Nun ist es im Einzelnen natürlich etwas anderes, ob jemand glaubt, eine satanisch-kommunistische Kabale würde eine globale Diktatur errichten, oder unpassenderweise Corona-Schutzmassnahmen mit der DDR vergleicht, wie etwa Liefers oder Vaatz es tun. Gemeinsam ist diesen Aussagen aber, dass sie einen Begriff von Freiheit teilen. Dieser wird nicht unbedingt ausbuchstabiert, ergibt sich aber implizit aus der Art und Weise, wie über die vermeintliche Unfreiheit während Corona gesprochen wird:
1. Die Freiheit, um die es geht, ist immer eine Form der persönlichen Freiheit. Es geht um die Freiheit des individuellen Ausdrucks, der freien Wahl der Kleidung und des Konsums. Diese Individualisierung der Freiheit sehen wir zum Beispiel in der teils massiven Ablehnung der sogenannten Maskenpflicht: Obwohl die Pflicht, eine Maske zum Schutz vor einer Infektion zu tragen, eigentlich ein Gebot menschlicher Vernunft sein sollte, protestierten Menschen dagegen. Sie sahen in der Maskenpflicht einen Eingriff in ihre Freiheit, das heisst, sie interpretierten Freiheit nicht als einen gesellschaftlichen Zustand (zum Beispiel die Freiheit, durch Wahlen oder ähnliches an der Gesellschaft zu partizipieren), sondern als individuelle Souveränität.
2. Wie diese individualisierte Freiheit abgeschafft wird, wird dabei von den Verteidiger:innen der Freiheit kaum thematisiert: Es gab bekanntlich Eingriffe ins soziale Leben, wie beispielsweise das Verbot, nachts vor die Tür zu gehen, das sich recht direkt gegen Jugendliche richtete, die letztlich auf den Autoritarismus des Staates hinwiesen. Doch gegen solche und ähnliche, unsinnige und oft bevölkerungsfeindliche Massnahmen, rebellierten die individualisierten Freiheitskämpfer:innen nicht. Sondern der vermeintliche Entzug der Freiheitsrechte wird von ihnen stets als Beschneidung der eigenen persönlichen Freiheit erlebt.
Die Perspektive, die hier also eingenommen wird, ist radikal-individualistisch. Gesellschaft, Staat und auch das Konzept der Freiheit sind in diesen Diskursen immer nur vom Individuum und der individuellen Lebenswelt her gedacht. Dass zum Beispiel eine Gesellschaft frei sein und dennoch gewisse individuelle Freiheiten (zum Beispiel die Freiheit, ohne Anschnallgurt Auto zu fahren) einschränken kann, kommt in diesem Freiheitsbegriff nicht vor. Persönlich erlebte Freiheit und Freiheit überhaupt ist ein und dasselbe.
3. Die Freiheit des Individuums ist deswegen in Gefahr, weil eine kollektive Instanz in den Bereich des Individuellen einbricht. Auch das zeigt sich am Beispiel der Maskenverweiger:innen sehr gut: Die Maskenpflicht wird deswegen als Beschneidung der Freiheit erlebt, weil etwas Überindividuelles ins Private eingreift: Staatliche Regelungen, aber auch die Gebote kollektiver Solidarität forderten eine gewisse Verhaltensweise, das heisst: Sie forderten, dass das Individuum ein wenig seiner Selbstbestimmung abgibt und zum Beispiel Maske trägt. Genau diese Unterordnung der persönlichen Selbstbestimmung unter das Prinzip eines gemeinsamen, höheren Guten, muss dann als Bedrohung der Freiheit erscheinen, wenn Freiheit mit der bedingungslosen Freiheit des Individuums vom Gesellschaftlichen identifiziert wird.
Friedrich August von Hayek lässt grüssen
Ob FDP oder Verschwörungsgläubige. Wir kommen bei einem Begriff von Freiheit an, der sich ungefähr so zusammenfassen lässt: Freiheit herrscht dann, wenn das Individuum sich keinen äusseren Zwängen ausgesetzt sieht. Diese Definition könnte direkt aus der Feder von Friedrich August von Hayek, dem Vater des Neoliberalismus stammen. In „The Constitution of Liberty“ erklärte von Hayek in diesem Sinne:„Wir befassen uns in diesem Buch mit dem Zustand des Menschen, in dem der Zwang der einen durch die anderen so weit reduziert ist, wie es in der Gesellschaft möglich ist. Diesen Zustand werden wir durchgehend als einen Zustand der Freiheit bezeichnen.“ (Hayek 2011 [1960], S. 57 (Übers. S. Sch.)
In von Hayeks Weltbild ist die Ordnung des freien Marktes die natürliche und unveränderliche Bedingung menschlichen Daseins. (Vgl.: Micocci 2018, S. 6-8) Das heisst, von Hayek stellt zwei Vorannahmen auf, die nicht nur seinem Gesamtwerk zugrunde liegen, sondern auch zentrale Glaubensinhalte des Neoliberalismus sind: Erstens wird angenommen, der Mensch strebe aufgrund seiner unumstösslichen Natur danach, einen möglichst grossen Anteil an den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu besitzen. In dieser Vorstellung ist einerseits nie genug für alle da, weswegen andererseits der von Natur aus egoistische Mensch versuche, sich an allen Rohstoffen einen möglichst grossen Anteil zu sichern. In der Urzeit hätten die Menschen etwa um Nahrung, Unterschlupf, et cetera gekämpft, heute erstrecke sich dieser Kampf ums Dasein etwa auch auf die Lebensformen, die Beziehungen, die wir führen, und so weiter. Als Mensch in der Welt zu leben bedeutet also immer nur, im Wettbewerb mit allen anderen Menschen zu stehen.
Zweitens aber schlussfolgert von Hayek daraus, dass der Markt die Ordnung sei, die dieser vermeintlichen Natur des Menschen angemessen ist. Denn aus der allgemeinen Konkurrenz heraus hätte sich, schon in grauer Vorzeit, die Notwendigkeit ergeben, mit anderen Menschen zu handeln. Beispielhaft gesprochen: Wer Zugang zu viel Nahrung hatte, konnte diese gegen andere Produkte eintauschen, so seine Position weiter festigen und sein Überleben sichern. Aus dem egoistischen Kampf aller gegen alle wäre also ganz natürlich der freie Markt entstanden. Dieser vermittle die egoistischen Interessen der menschlichen Einzelkämpfer:innen. Aus dieser marktförmigen Vermittlung heraus seien dann Institutionen entstanden, zum Beispiel der Staat, die das Funktionieren des Marktes sicherstellen können.
Solange Staat und Gesellschaft in den Wettbewerb nicht eingreifen – beziehungsweise nur soweit eingreifen, wie es zur Aufrechterhaltung des Marktes notwendig ist –, begreift dies von Hayek als Zustand der Freiheit. Das heisst, von Hayek und mit ihm die Ideologie des Neoliberalismus überhaupt fassen Freiheit nicht als etwas Politisches auf, als Bedingung einer Gesellschaft, sondern im Gegenteil als Zustand des Individuums im Gegensatz zur Gesellschaft.
Es ist leicht einzusehen, dass in den zahlreichen Variationen des Motivs der „Freiheit in Gefahr“ dieser Aspekt des neoliberalen Freiheitsbegriffes im pandemischen Gewand wiederkehrt: Auch hier wird ein Gegensatz zwischen der Freiheit des Individuums und dem Allgemeinwohl gezeichnet. Die Freiheit ist bedroht, weil sich das Individuum plötzlich dem Zugriff einer überindividuellen Instanz ausgesetzt sieht. Nun könnte mensch natürlich argumentieren, dass diese Perspektive im Grunde nicht ganz falsch ist: Tatsächlich fanden ja Beschränkungen der Selbstbestimmung des Individuums statt. Indes, die Massnahmen des Staates genauso wie die zivilgesellschaftlichen Aufrufe zum Social Distancing waren mit dem Schutz der Mitmenschen begründet. Die individuelle Freiheit wurde also dem Prinzip eines höheren Guten unterworfen, nämlich einem Gedanken kollektiver Solidarität.
Der Neoliberalismus an sich leugnet die Möglichkeit von Solidarität und Kollektivismus. Nicht nur weil der Wettbewerb und damit die gegenseitige Konkurrenz als der Naturzustand des Menschen angesehen wird. Sondern von Hayek geht auch, in bester sozialdarwinistischer Art und Weise, davon aus, dass Menschen von Natur aus ungleich seien. Es gäbe im Kampf jede:r gegen jede:n. Menschen, die auf Grund ihrer natürlichen Anlagen besser sind, und solche, die aus dem selben Grund biologisch minderwertig seien. (Vgl.: Stapelfeldt 2010, S. 180 f.) Dass die vermeintlich Starken und Erfolgreichen sich zu Gunsten der vermeintlich Schwachen einschränken, kommt für von Hayek nicht in Frage.
Diesen Gedanken überträgt der Freiheitsdiskurs in schlimmster Konsequenz auf die Corona-Situation: „Wer relativ fit und gesund ist, muss sich vor den Viren genauso wenig fürchten wie die jüngeren [sic!].“ erklären zum Beispiel 2020 Sucharit Bhakdi und Karina Reiss in ihrem Bestseller „Corona Fehlalarm“. Sie verweisen damit auf eine Idee, die unter dem Label „Immunschuld“ inzwischen zu grosser Popularität gekommen ist: Wer an Corona stirbt, ist nicht fit genug, es handle sich eben um natürliche Auslese. Einen Grund, die eigene Freiheit einzuschränken, gäbe es also nicht, wie in unterschiedlichen Formen diverse Personen des öffentlichen Lebens wiederholten.
Ganz wie von Hayek, der die Ansicht der menschlichen Ungleichheit ins Zentrum seines Werkes stellt, gehen die Anhänger:innen der pandemischen, neoliberalen Freiheit davon aus, dass vermeintlich schwachen Individuen nicht geholfen werden kann. Die Möglichkeiten, durch gesellschaftliches, solidarisches Handeln, diesen zu helfen, wird mehr oder minder offen negiert, Solidarität also als unsinnig verstanden. Entsprechend wird die Verantwortung für den Schutz vor der Seuche individualisiert: Wer sich ansteckt, leidet und stirbt, hatte eben eine schwache Konstitution und muss die Folgen so sich selbst zuschreiben.
Das heisst aber: Im Kern des Corona-Freiheitsbegriffs finden wir ein autoritäres Menschen- und Weltbild vor. In einem Alltagsverständnis hat autoritär etwas mit Gehorsamkeit, mitunter mit blinder Unterwerfung zu tun. Genau diese Geste finden wir hier auch: Die Gesellschaft wird durch die Linse des Prinzips „Survival of the Fittest“ betrachtet. Das heisst einerseits, dass an die Stelle von Solidarität die Idee der menschlichen Ungleichheit tritt, die in Zeiten einer globalen Seuche nur bedeuten kann: Das Sterben und Leiden von Millionen wird als natürlicher Gang der Dinge hingenommen. Die Freiheit, die hier gemeint ist, ist die Freiheit des Sozialdarwinismus.
Diese Perspektive bedeutet aber andererseits, dass eine Unterwerfung aller Menschen unter den vermeintlich unabänderlichen Zwang einer „Natur“ gefordert wird. Die Menschen sollen ihre Welt nicht gestalten, sondern einfach die Verhältnisse, wie sie in den Augen der Anhänger:innen eines solchen Freiheitsbegriffs nun einmal vorherrschen, akzeptieren. Genau hier finden wir aber einen wahrhaften Autoritarismus vor – einen Autoritarismus, der Menschenleben abwertet, der von allen verlangt, sich widerspruchslos ins Bestehende zu fügen.
Ein solches Menschen- und Weltbild ist, so können wir frei nach Theodor W. Adorno sagen, typisch für die autoritäre Persönlichkeit. Deren Autoritarismus manifestiert sich in der Abwertung von Anderen. Die autoritäre Persönlichkeit stellt sich und ihre Bedürfnisse über das Recht von vermeintlich Schwächeren. Zweitens aber ist es immer autoritäres Persönlichkeitsmerkmal, die bestehenden Verhältnisse bedingungslos und mit Zwang zu verteidigen. Im Freiheitsbegriff der Massnahmenkritiker:innen und Coronaleugner:innen realisiert sich also zugleich die neoliberale Ideologie und ein Zug zum Autoritarismus.
Krisenreaktionen
Was sich hier zeigt, ist keineswegs nur eine gesellschaftliche Reaktion auf die Pandemie alleine. Im pandemischen Freiheitsdiskurs sehen wir also die ersten Anzeichen der Entstehung einer neuen, autoritären Formation des Neoliberalismus, ein autoritäres, sozialdarwinistisches Gesellschaftsmodell in den Zeiten der kommenden Krisen.Um das nachzuvollziehen, müssen wir einen Schritt zurücktreten: Seit 2008 befindet sich der Kapitalismus in der Dauerkrise. Diese äussert sich nicht nur im Zusammenbruch von Finanzmärkten und bei Immobilienkrisen, sondern auch in der rasanten Verschärfung der Klimakatastrophe, die zunehmend die Ausbeutung von Natur und Mensch verunmöglicht. Der Kapitalismus gelangt vielleicht noch nicht an sein Ende, er steckt aber in einer tiefen, systemischen Krise, die sich zunehmend verschlimmert. Die Pandemie führte dies im Schnelldurchlauf vor: Produktions- und Handelsketten wurden unterbrochen, der Konsum sogar lebenswichtiger Güter kam weitestgehend zum Erliegen, Milliarden von Menschen stürzten in die Armut. Hungerrevolten, politische Krisen, Profiteinbrüche, Rezession waren die Folge.
Zu diesen gesellschaftlichen und ökonomischen Krisenerscheinungen kam aber auch noch eine ideologische. Seit mehr als 30 Jahren herrscht unangefochten der Neoliberalismus. Wie Mark Fisher sinngemäss einmal meinte: Jede Alternative zum Kapitalismus scheint undenkbar. In der Pandemie bekam diese Alternativlosigkeit Haarnadelrisse: Es entstanden weltweit Bewegungen der Solidarität. Dieses Kapitel der Pandemie ist vielleicht schon vergessen, doch ist es durchaus bedeutsam. Von Aktionen in Süditalien oder Frankreich, in denen Militante Fastfood-Filialen besetzten, um Essen zu verteilen, über Manifeste wie #staythefuckhome bis hin zu lokalen Solidaritätskomitees, die Botengänge und Einkäufe erledigten sowie psychosozialen Kontakt für Menschen mit erhöhtem Risiko herstellten. Überall flammten gerade in den Anfangsmonaten von Corona Formen von kollektiver Solidarität und Protest gegen den Status quo auf.
Zwar waren dies vielleicht nur unzusammenhängende Ereignisse, die keine politische Macht entfalten konnten, aber es handelte sich dennoch um einen Bruch mit der Allgegenwart neoliberaler Ideologeme. Kollektive Solidarität war praktizierte Lebensrealität, – und damit wurde die Möglichkeit einer nicht- und nach-neoliberalen Gesellschaft zumindest denkbar. Es ist dieser Kontext, in dem wir den pandemischen Freiheitsdiskurs denken müssen. Die ökonomischen Krisen, die Handlungen des Staates und nicht zuletzt die Aktionen zivilgesellschaftlicher Solidarität stellten die neoliberale Alternativlosigkeit in Frage.
Es handelte sich damit um Provokationen der neoliberalen Hegemonie – und damit all derer, die von dieser profitieren, beziehungsweise die aus diversen Gründen der neoliberalen Weltanschauung anhängen. Auf diese Provokation entsteht eine ideologische Reaktion, die wir gerade mit dem etwas ungelenken Ausdruck des pandemischen Freiheitsdiskurses bezeichnet haben. In diesem kehrt der Neoliberalismus wieder, aber in autoritärer Form: in einem Freiheitsbegriff, der die Selbstbestimmung von privilegierten, „starken“ Individuen über kollektive Verantwortung, Solidarität, ja über das Leben der vermeintlich Schwachen stellt. Und so wie der Kern dieser Ansicht autoritär ist, setzt sich diese neoliberale Freiheit auch autoritär um: Hetzmeuten jagen in sozialen Medien alle, die für die Idee kollektiver Solidarität stehen, angefeuert von bekannten Personen des öffentlichen Lebens, der Politik und des Feuilletons.
Diese Gewalt ist inzwischen strukturell geworden: Staat und Gesellschaft haben den Schutz von Risikogruppen beendet, das Leiden und Sterben an Corona wird hingenommen und weitestgehend ignoriert. Das heisst, gegen die blosse Möglichkeit, Gesellschaft nach solidarischen und kollektivistischen Massgaben zu gestalten, entsteht eine ideologische Formation, die das Leiden und Sterben vermeintlich Schwacher als naturgegeben rechtfertigt und die Freiheit des Individuums als wertvoller einstuft als das Überleben von Millionen.
Diese Tendenz lässt erahnen, in welche Richtung sich die kapitalistische Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird. Die Klimakatastrophe wird uns vor ähnliche, aber grössere Herausforderungen stellen als die Pandemie: Naturkatastrophen, massenhafte Verarmung, Hunger, der Zusammenbruch von ganzen Handels- und Produktionsketten, massenhaft Tote aufgrund natürlicher Ereignisse wie Hitzewellen oder Dürren. Diese Herausforderungen würden eigentlich einen Bruch mit dem Kapitalismus nahelegen, den Versuch, Wohlstand umzuverteilen und die Krisenfolgen solidarisch und kollektiv in Angriff zu nehmen. Stattdessen zeigt sich aber, dass autoritäre Krisenlösungen denkbar sind, in denen die persönlichen Rechte einiger weniger über das Leben und die Würde von fast allen gestellt werden. Der Kapitalismus wird unter allen Umständen verteidigt, bis zum Tod. Die pandemische Freiheit droht unsere Zukunft zu werden.
Die Freiheit der Solidarität
Ist also der Begriff der Freiheit verloren? Fast scheint es so. Die Anhänger:innen neoliberaler Glaubenssysteme schafften es, in der öffentlichen Wahrnehmung ein einfaches Bild zu zeichnen. Auf der einen Seite: Die radikale Selbstbestimmtheit des Individuums, mit der die Freiheit überhaupt identifiziert wurde. Auf der anderen: Staat und politische Linke. Jeder Versuch, die Pandemie solidarisch zu lösen, wurde entsprechend als autoritäre Eingriffe in die Freiheit abgetan, Bewegungen wie #zeroCovid gar als „halbtotalitär“ verunglimpft. Der Begriff der Freiheit ist heute vergiftet für die politische Linke. Doch das müsste nicht so sein.Um ein in der gegenwärtigen deutschen Linken ungeliebtes Wort zu verwenden: Gerade die Praxis der Massen während Corona zeigen, wie der Begriff der Freiheit wiedergewonnen werden könnte. Während der Seuche, während Lockdowns und Hygieneverordnungen, begannen Menschen ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Oft ohne politische Vermittlung organisierten sie sich in den Vierteln, in den Wohnblocks und Häusern. Es entstanden solidarische Gemeinschaftsküchen, Hilfskomitees, Menschen versuchten sich durch Kunst, Musik gegenseitig zu unterstützen, Individuen begriffen sich als Teil des grössten Kollektivs – der Menschheit – und versuchten demnach zu handeln, um so nicht nur sich selbst zu schützen, sondern dieses Kollektiv.
Natürlich waren dies häufig einfache Reaktionen auf die Seuche – aber in diesen Reaktionen steckt ein Begehren: das Begehren einzugreifen, das eigene Leben, den Wohnort, die konkreten Verhältnisse im Kollektiv zu gestalten und durch das eigene Verhalten positiv auf die Gesellschaft als Ganzes gestalterisch einzuwirken. Dies sind Freiheiten, die der Neoliberalismus nie gewähren kann. Seine Freiheit endet an der Grenze des Individuums, an der Tür des Kaufhauses mithin. Es ist eine Freiheit, die ausschliesst. Nicht nur, weil sie vermeintlich lebensunwerte, schwache Individuen aussondert, sondern weil sie notwendig die Gestaltbarkeit der Gesellschaft ausschliesst. Das Individuum ist frei, aber nur frei, sich den Kräften des Marktes zu unterwerfen, die unhintergehbar sind. In der Freiheit, die der Neoliberalismus meint, herrscht der Zwang zu Arbeit, Konsum, Verwertung, ein Zwang einer unveränderbaren Allgegenwart des Kapitals.
Die politische Linke steht für einen anderen Freiheitsbegriff, eine Freiheit der Solidarität. In den Forderungen, die Fabriken bei voller Weiterzahlung der Gehälter, zu schliessen, die #zeroCovid erhob, steckt die Freiheit vom Arbeitszwang. In der Praxis, penibel auf Social Distancing zu achten, steckt die Freiheit für alte oder vorerkrankte Menschen, ohne Angst am Leben partizipieren zu können. In den diversen Aktionen gegenseitiger Hilfe während der Lockdowns steckt die Freiheit, die Verhältnisse, in denen mensch lebt, gemeinsam zu gestalten.
Diese Momente der Freiheit in Solidarität und Kollektivismus freizulegen und gegen den entstehenden, autoritären Neoliberalismus zu positionieren, wird die Aufgabe der kommenden Jahre und Jahrzehnte sein. In den kommenden Krisen müssen wir auf die Freiheit bestehen, partizipativ und demokratisch Leben, Welt und Gesellschaft zu gestalten. Auf eine Freiheit vom Arbeitszwang, eine Freiheit von beengten Wohnverhältnissen, eine Freiheit von autoritären Verhältnissen, in denen Alte, Schwache und Kranke Menschen zweiter Klasse sind. Wir müssen erkennen, dass nicht wir die Feinde der Freiheit sind, weil wir die Marktwirtschaft in Frage stellen, sondern dass, im Gegenteil, die Ordnung des absoluten Wettbewerbs, der wir unterworfen sind, die grösste Feindin der Freiheit ist. Es gilt, den autoritären Neoliberalen nicht die Freiheit zu überlassen, sondern zu zeigen, dass Freiheit nur in einer geteilten Welt der Solidarität und Gleichheit möglich ist.