Seine Parteinahme galt immer den Ausgestossenen, Entrechteten und Ausgebeuteten, denen er sich mit tiefem menschlichem Gefühl verbunden fühlte. Bis heute zeigt sein Lebenswerk eine grosse Strahlkraft.
Am 6. April 1878 in Berlin geboren, wächst er in Lübeck im Haus des jüdischen Apothekers Siegfried Seligmann, ein Rohrstock-prügelnder Vater und seiner Mutter Rosalie, auf.
Wegen „sozialistischer Umtriebe“ wird Mühsam vom Gymnasium wegen Weitergabe von schulinternen Vorgängen an eine sozialdemokratische Zeitung verwiesen. Er beginnt eine Apothekerlehre, arbeitet danach als Apothekengehilfe in Lübeck, Blomberg und Berlin.
Schon früh wird sein literarisches Talent erkannt. Es gibt erste Veröffentlichungen in anarchistischen Zeitungen. Er wird freier Schriftsteller, schliesst sich der Dichtergruppe „Neue Gemeinschaft“ an, und bleibt mit Gustav Landauer bis zu seinem gewaltsamen Tod 1919 in enger Freundschaft verbunden, der ihn mit der kommunistisch-anarchistischen Bewegung bekannt macht. In dieser Lebensphase neigt Mühsam nach eigenem Bekunden zu einem theoretisch kaum reflektierten „Gefühlsanarchismus“, eine Phase starker romantisierender Hoffnungen. Er veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen, u.a. im „Simplicissimus“, und kritisiert scharf bürgerliche Normen und Autoritäten wie auch bürgerliche Tendenzen und den Reformismus der damaligen SPD. Den Marxismus lehnt er wegen autoritärer Züge ab und sympathisiert mit der „Revolte des Subproletariats“.
In der Zeit zwischen 1904 – 1908 unternimmt er ausgedehnte Reisen nach Zürich, Ascona, Norditalien, München, Wien und Paris. In München gründet er die „Gruppe Tat“ zur Agitation des Subproletariats und wird zu einer Zentralfigur der Schwabinger Bohème, und fällt als Bürgerschreck mit entsprechendem Lebenswandel auf. In dieser Zeit entsteht sein bekanntestes Gedicht „Der Revoluzzer“ mit dem Untertitel „Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet“, die ihm das sehr übelnahm. Das Gedicht wird in der Folgezeit unzählige Male vertont und aufgeführt.
Der Revoluzzer
War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.
Und er schrie:„ich revolüzze!“
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.
Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Strassen Mitten,
wo er sonst unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.
Sie vom Boden zu entfernen,
rupft man die Gaslaternen
aus dem Strassenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revoluzzer
schrie:„Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir Ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Lass die Lampen stehn, ich bitt!-
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!“
Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.
Dann ist er zu Haus geblieben
Und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
Ab 1911 veröffentlicht er die anarchistische Zeitung „Kain - Zeitschrift für Menschlichkeit“, eine Kampfschrift gegen Krieg, kapitalistische Ausbeutung und staatliche Bevormundung. Sie erscheint neun Jahre. Im „Kain“ ruft er zur Verbrüderung des Subproletariats von „Verbrechern, Landstreichern, Huren und Künstlern“ auf.
In der März-Ausgabe von 1913 schreibt er einen kritischen Beitrag über die damalige Suffragetten-Bewegung und bezieht eine positive Stellung zur Frauenbewegung. Seiner Meinung nach ist die Unterdrückung der Frauen ein „Verbrechen der von Männern inszenierten Weltwirtschaft“.
Während des Ersten Weltkriegs versucht er erfolglos einen internationalen Bund der Kriegsgegner zu gründen. Seine Rebellion gegen Krieg und Kapitalismus, und seine antimilitaristische, pazifistische Gesinnung bleibt allerdings weitgehend wirkungslos. Viele leidenschaftliche Gedichte und Zeitungsbeiträge aus der Zeit belegen seine politische Einstellung. Er ruft Soldaten auf Drill und Gehorsam zu verweigern, die Herrschaft des Militarismus abzuschütteln, er ruft zum Generalstreik auf und proklamiert eine Friedenssehnsucht über alle Gräben hinweg.
In dieser Zeit heiratet er seine Lebenspartnerin Kreszentia „Zenzl“ Elfinger, die ihn bis 1962 überlebt.
Ende des Ersten Weltkriegs wird Mühsam wegen Weigerung am „Vaterländischen Hilfsdienst“ teilzunehmen, verhaftet und zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt.
Als einer der ersten Initiatoren der Bayrischen Novemberrevolution, zusammen mit Ernst Toller und Gustav Landauer, tritt er dem Revolutionären Zentralrat bei und ruft den Freistaat Bayern als demokratische Räterepublik aus. Durch den sogenannten „Palmsonntagputsch“ republikanischer Schutztruppen, Reichswehr und rechtsnationaler Freikorpsverbände wird das sozialistische Experiment der Münchner Räterepublik beendet. Erich Mühsam wird zusammen mit anderen Inhaftierten aus der Zeit der Räterepublik 1919 erst in der Festungshaftanstalt Ansbach, später im Gefängnis Niederschönenfeld bis 1924 inhaftiert. Sein Urteil beläuft sich auf 15 Jahre Festungshaft, kommt aber nach fünf Jahren, im Zuge einer Amnestie, frei.
Direkt nach seiner Entlassung zieht er nach Berlin und gibt die anarchistische Zeitschrift „Fanal“ heraus und betätigt sich weiterhin als unermüdlicher Aktivist.
Anarchie und Kommunismus
Das Zusammengehen aller revolutionärer Kräfte ist für Mühsam eine politische Notwendigkeit wie auch seine Herzenzangelegenheit. Zwischen diesen beiden Polen positioniert er sein politisches Weltbild, und überall sitzt er zwischen allen Stühlen. Für ihn muss die Ablösung des Kapitalismus der Sozialismus sein. „Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfang schafft Fortschritt im engen Kreise. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung.“ schreibt er im „Idealistischen Manifest“. 1919 tritt Mühsam kurzzeitig der KPD bei, ruft zur Unterstützung der Russischen Revolution auf, verlässt die Partei jedoch ein Jahr später bereits.In der Zeit zwischen 1925 bis 1929 engagiert er sich unermüdlich mit programmatischen Schriften und Vorträgen für die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland, um inhaftierte Genossen in der Haft zu unterstützen. Aus diesem Grund wird er von der anarchistischen FKAD ausgeschlossen, die ihm eine zu grosse Nähe zur KPD vorwirft. Aber auch aus der Roten Hilfe tritt er 1929 aus, da sie entschieden hat ausschliesslich KPD-Genossen zu unterstützen und ihre Überparteilichkeit aufgibt, eine politische Entwicklung, die die zunehmende Stalinisierung der KPD als Ursache hat. Mit Beginn der dreissiger Jahre wird er dann Mitglied in der anarcho-syndikalistischen FAUD, was ihn aber nicht davon abhält auch politisch-satirische Beträge unter dem Pseudonym „Tobias“ in bürgerlichen Organen wie dem „Ulk“ und dem „Berliner Tageblatt“ zu veröffentlichen.
Früh erkennt Mühsam die Gefahr des heraufziehenden Faschismus und warnt als einer der Ersten vor dem Erstarken des Nationalsozialismus.
In der Nacht auf den 28. Februar 1933 wird er von der SA verhaftet und nach über 16-monatiger „Schutzhaft“ von der SS ermordet. Als Rätesozialist, anarchistischer Publizist, Jude, Antimilitarist und Rebell gegen Untertanengeist ist er den Nationalsozialisten besonders verhasst. Unzählige Mal geprügelt und misshandelt, die Finger gebrochen um ihn am Schreiben zu hindern, wird er mit einer Giftspritze getötet, und um einen Suizid vorzutäuschen in der Toilette aufgehängt. In der Nacht vor seinem Tod bekennt er einem Mitgefangenen gegenüber, dass er niemals in den Freitod gehen werde, eine letzte Form seines Widerstands.
Beerdigt liegt Erich Mühsam zusammen mit seiner Frau „Zenzl“ auf dem Berliner Waldfriedhof in Dahlem, ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Gedenksteine für ihn wurden auf dem Gelände des ehemaligen KZ Oranienburg errichtet, dem Ort seines Todes. Eine Vielzahl von Strassen und Plätzen tragen seinen Namen. Die Erich Mühsam-Gesellschaft verleiht den Erich-Mühsam-Preis nunmehr alle drei Jahre.
Sein lebenslanger Kampf war für ein würdiges Menschsein ohne Unterdrückung und für Gerechtigkeit unter gleichen Individuen. Moralisch aufrichtig, charismatisch, integer und ein unbeirrbarer Fundamentalkritiker, alles das war Erich Mühsam. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 verstarb er. Die Erinnerung an seinen 90-sten Todestag soll dem Mehltau des Vergessens entgegenwirken.