Hier interessiert Blochs im September 1918 abgeschlossene und Anfang 1919 bei Der Freie Verlag Bern gedruckte 89-seitige Vademecum-Broschüre. Sie gilt dem Bloch-Biographen Zudeick als Zusammenfassung der „Quintessenz seiner publizistischen Tätigkeit“ seines ersten westschweizer Exils. Speziell aus dem Russland-Kapitel des Vademecum zitierte Zudeick, nicht ohne Blochs „Realitätsverlust im Exil“ anzumerken, vier Passagen und erkannte damit auch die Bedeutsamkeit dieses 18-seitigen siebten Broschürenkapitels.
Das nach dem letzten, achten und 21-seitigen, über Das verspätete Deutschland und seine mögliche Regeneration sowohl formal das zweitlängste als auch inhaltlich das Kapitel ist, in dem es dem Autor als exiliertem Sympathisanten der im April 1917 in Gotha gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) nicht nur um Deutschland, Deutschlands „Kriegsschuld“ am ersten „grossen Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) und den „preussisch-deutschen Militarismus“ als „Kulturkomplex“ mit junkerlicher Macht, Staatsbürokratie und feudalisierter Bourgeoisie ging – sondern um mit der Entwicklung Russlands 1917/18 diskutierte Probleme des Sozialismus.
Blochs Vademecum-Broschüre 1919
Hier geht es um kurze inhaltliche Konturierung; deshalb gehe ich auch nicht ein auf die besondere Bloch-Text-Tönung mit seiner zunächst chaotisch erscheinenden „Mischung aller möglichen Sprachebenen und Sprechhaltungen [als] ständiges Unterbrechen der gängigen Syntax, Wechsel von Parataxe und Hypotaxe, Ineinanderschieben von Vergleich, Gleichnis, Metapher, altertümliche Wendungen, ausuferndes Fabulieren im Wechsel mit äusserster Kürze.“Im Blochtext standen „zwei Programmpunkte im Vordergrund: die These von der Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg […] und die Forderung nach Sturz der Preussischen Monarchie und des preussischen Systems als der Wurzel allen Übels in Deutschland und dieses Weltkrieges.“
Kontexttuell und subtextuell gibt es weitere inhaltliche Topoi: die Kritik des von Bolschewiki um Lenin entwickelten Zimmerwalder Leitkonzepts des „rücksichtslose[n] Kampf[es] gegen den Imperialismus (Sozialimperialismus) als erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale“; das Verhältnis von in Russland fehlender bürgerlicher Revolution zur angestrebten sozialen und deren Gefährdung infolge nicht entwickelter Demokratie (1976 verwandte Bloch die Formel: „Es kann keine Revolution geben, die nicht 1789 in den Knochen hat“); die am Beispiel Russlands angesprochene fehlende, schon von Marx selbst am preussischen Beispiel vernachlässigte, sozioökonomische Analyse der Agrarfrage; die allgemeine Bedeutung neuer kapitalistischer Entwicklungen der Arbeitsorganisation im wirtschaftsmilitaristischen „Taylorsystem“ in Deutschland; und die auch kulturell unterfütterte westwärts gerichtete Nachkriegsentwicklung Deutschlands in Europa auf Grundlage einer Selbstanklage aller Deutscher zur Überwindung des Krieges durch Versöhnung der Welt mit Deutschland sowie Deutschlands mit der Welt in Abgrenzung zum östlichen autokratischem Herrschaftssystem sowohl Preussens als auch des Zarismus, gegen den sich vor und während des Krieges die kulturimperialistische Propaganda der deutschen Reichsleitung richtete.
Formal zu bedenken ist, dass Blochs Aussagen im Russland-Kapitel seiner Broschüre eher assoziativ-narrativ gereiht als analytisch-systematisch entwickelt daherkommen, dass sein Russland-Bild, wie das Rosa Luxemburgs, von Tolstoi- und Dostojewskij-Lektüren im Clichésinn von „russischer Seele“ geprägt, in hohem Masse idealisiert ist und dass seine aus der Vorstellung der Nachkriegsentwicklung abgeleitete Betonung der Vernachlässigung des geistig-Spirituellen im Marxismus wie moralisierende Kritik wirkt.
Das Russland-Kapitel
Blochs Text beginnt mit aktuellen politischen Aussagen und endet mit literarisch gesättigten Bildern zur Entwicklung Russlands 1917/18. Zentral bei aller Kritik an Kapitalismus, Krieg und Kriegsschuld ist der „preussische kapitalistische Gegenwartsstaat.“ Die einleitende Passage betont, dass der Krieg „aus anderem als dem Kapitalismus entstand“, dass dem Autor Lenins Theorie und Politik „rätselhaft“ sei, dass die „soziale Revolution“ unwiderruflich „durch Russland in die Welt gekommen“ sei, ihre „Weiterführung“ besonders in Deutschland „durch die bolschewistische Politik Russlands selbst verhindert“ würde, „sofern plündernder Soldatenpöbel kein schaffendes Proletariat ist und darum diesem erkrankten, autokratischen Sozialismus die Propagandakraft nahm“ – zumal „durch blosse Aufklärung und Propaganda eine Revolution im streikfestesten Obrigkeitsstaat“ nicht eingeführt werden könne, weil die „Kräfte gerade des deutschen Kapitalismus, einzigartig gestärkt durch preussische staatskapitalistische Organisation, unermesslich sind.“ Deshalb sei der Kampf gegen Preussen „vom Standpunkt eines radikalen internationalen Sozialismus“ Grundvoraussetzung jeder sozialen Revolution in Deutschland.Die drei argumentativen Passagen Blochs enthalten seine doppelte – immanente wie transzendente – Marx(ismus)kritik. Agrarprobleme benennt als Theoriedefizit, dass schon Marx die Agrarfrage übersehen und „lediglich den industriellen Kapitalismus durchdacht und eingleisig erledigt“ habe. Bloch verweist auf das alte russische Dorf mit seinem „Rest bäuerlicher Gemeinfreiheit, kommunistischer Agrarwirtschaft“ und seine „Bauernmystik“ des Epochensprungs. Die auch Lenin „als Marxist“ zugunsten eines „hochkapitalistischen“ Fabriksystems mit „preussisch-zaristischer 'Diktatur des Proletariats'“ aufgab.
Zur Schuldfrage grenzt sich Bloch gegen „russische und andere Zimmerwaldisten“ scharf ab: der Krieg sei „aus rein ökonomischem Kalkül nicht zu erklären“. Besonders gegen die These des „scharfsinnigen, marxistisch orientierten Soziologen“ Emil Lederer: Der Krieg suspendiere, was damals "Gesellschaft im Staat" [societá civile] hiess, und organisiere sie in militaristischer Weise neu als - vermeintliche - „Schicksalsgemeinschaft" nach dem Modell des Heeres, besteht Bloch auf einer nur noch in Preussen-Deutschland möglichen Besonderheit, die er an die „Gestalt Ludendorffs“ bindet und so verallgemeinert: die Schuldfrage hänge „durchaus an Personen und ihrer Gesinnung“.
Sie sei nicht herabzusetzen auf „spukhafte Allgemeinheiten des Wirtschafts- oder auch Staatsprozesses.“ Diesen Grundtenor nimmt Bloch im letzten ideengeschichtlichen Teil unterm Stichwort „Problem der eliminierten Christlichkeit und Geistlichkeit im Marxismus überhaupt“ auf. Und der vermeintliche „deutsche Philosoph dcr Oktoberrevolution“ polemisiert erneut gegen „Sozialdiktatur“ der Bolschewiki und wertet die „Beibehaltung der zaristischen Staatsmacht als blossen notwendiger Übergang“ zum Macherhalt.
Blochs Kernargumentation wird in auch sprachlich dichter Form im Schlussakkord des Russlandkapitels der Broschüre so zusammengefasst:
„Trotzdem, gerade weil Russland voll von Bauern und Christentum ist, bleibt Grosses zu erhoffen, das uns von dorther als Vorbild noch kommen wird.
Der Trank der Menschheit wird diesmal in gemeinsamer Aufbrausung hell. Der Völkerbund kommt gross herauf; wenn Börse die Weltgeschichte mit einem Haus vergleicht, das fast lauter Treppen und wenig Zimmer hat, so wird hier endlich ein Raum der Versammlung sichtbar, ein Vorraum zur künftigen sozialistischen Internationale. Das ist keine Abschwächung und kein Kompromiss; in nichts irrt der radikale Sozialismus von seinem Ziel ab, wenn er den Kampf der Entente gegen das preussische Junkertum als bürgerlichen Klassenkampf dem Kampf des Proletariats gegen die internationale, dann erst überall identisch vorhandene Bourgeoisie (der wahrlich an Dezidiertheit nichts verloren hat) noch voraufgehen lässt, voraufgehen lassen muss.
Das „Vaterland“ zum mindestens, diese bisher alle international sozialistische Aktion so gründlich hemmende Nationalstaats-Ideologie, ist jetzt schon auf seiten der Entente und ihrer Völkerliga verschwunden. So gewiss der preussische kapitalistische Gegenwartsstaat in diesem Kriege sich verfestigen will und danach alle deutschen Sozialisten zu seinen betrogenen Gefangenen machen möchte, ja den Sozialismus aller übrigen Staaten durch die Travestie des eigenen „Staatssozialismus“ ansteckte und pervertierte: so gewiss ist die politische Freiheit, für die die Welt kämpft, das unaufhaltsame, durch nichts zu ersetzende Vorspiel zur ökonomischen Freiheit, eine Sprengung der Diktatur jeder Art, auch wo sie sich noch so revolutionär vorkommt, und in Wahrheit doch nur verlängerte preussische Organisation oder Zarismus ist; so gewiss also kämpft die Sozialdemokratie der liberal revolutionären Welt ihren entsetzlichen Vorkampf gegen die sonstwie, durch Abschaffung des Kapitalismus durchaus noch nicht mit eliminierte, weil bereits vorkapitalistische Beherrschaftungsform junkerlicher Theokratie.
Schon einmal erhob sich gerade über den Besitzlosen feudalkirchliche Macht; und in dem gesamten Bündnis des gegenwärtigen deutschen Proletariats mit dem autokratisch monopolisierenden Staat liegt eine furchtbare Mahnung für alle jene, die echten Sozialismus ohne vorherige Zertrümmerung der Feudalsubstanz für möglich halten, als welche selbst in SaintSimons und August Comtes Sozialsystemen noch als Feudalismus und Katholizismus minus Christentum weiterlebt. Aber aus Russland, dem echten, genesenen, kommt nach dem gelungenen Menschenrecht endlich die Menschenliebe, die Flut der guten Neigung, das Ende aller Gewalt, die Geburt der menschlichen Erbtugend, die Lehre, wie Menschen zu Engeln werden können; und alle Wachträume Iwan Karamasows, der an Gott glaubte, aber seine Welt ablehnt, werden von Russland aus die Wirklichkeit durchdringen.“
Schiefe Rezeptionen, ambivalente Rezeptionsvorgabe, konkrete Utopie
Wie diese petit tour d'horizon zur Vademecum-Broschüre einerseits und zu Blochs Russland-Bild anderseits zeigt – ist der junge Bloch ausweislich seines alten Textes alles Andere als „der deutsche Philosoph der Oktoberrevolution“ (Oskar Negt) in Russland; vielmehr ihr im Selbstverständnis sozialistischer Kritiker.Und auch die These, Blochs politische Positionen 1917/19 wären grundlegend kongruent und in der Kritik undemokratisch-brutaler „Methoden der Bolschewiki“ gar in „totaler Übereinstimmung“ mit Rosa Luxemburgs, erweist sich als in dieser Pauschalität unzutreffend: wenn Bloch sowohl im Vademecum als auch in seinem 1918 abgeschlossenen, zuerst im von Emil Lederer redigierten Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienenen (Forschungs-) Bericht marxistische Analysen deshalb forsch kritisiert, weil sie „überall nur Zwangsläufigkeiten des kapitalistischen Expansionsdranges“ anerkennen würden, so trifft das nicht nur auf Lenins Imperialismustheorie zu, sondern auch auf Rosa Luxemburgs in der Schweiz gedruckte und illegal im Deutschen Reich unter den Bedingungen nachhaltig wirksamer Militärzensur verbreitete Junius-Broschüre, in der die Autorin speziell im reichsdeutschen Imperialismus in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und dessen Badgad-Bahn-Politik eine der wesentlichen Kriegsursachen sah.
Speziell der hier besonders interessierende Russlandtext im Vademecum (wörtlich übersetzt: folge mir) lässt sich, als textliche Rezeptionsvorgabe, je nach Schwer- und Standpunkten nicht nur unterschiedlich, sondern auch kontrovers lesen: Sozialdemokratische Ideologen läsen Blochs Warnung vor den bolschewistischen neuen Zarenautokraten als weitsichtigen Vorläufer des Totalitarismuskonzepts, Faschismushistoriker sähen im militanten Antipreussentum die vorweggenommene Kritik nationalsozialistischer Bündnispolitik zur Machtübernahme 1933. Und wie Marxismuskritiker den Autor als einen der ihren reklamierten, so könnten Marxisten Bloch auch als Vordenker der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus rezipieren.
Was mich betrifft, so sehe ich keinen antagonistischen Widerspruch zwischen der theoretisch auf Allgemeines und „konkrete Totalität“ bezogenen Lenin'schen Imperialismustheorie und Blochs luxemburganalogem Plädoyer für den Kampf gegen den Feind im eigenen Land - durchaus im konkret-historischen und erkenntnisleitenden Sinn des deutschen Sozialisten Karl Liebknecht, der gegen die erneute Bewilligung von Krediten zur Kriegsfinanzierung am 2. Dezember 1914 erklärte: „Die deutsche Parole „Gegen den Zarismus“ diente – ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole „Gegen den Militarismus“ – dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhass zu mobilisieren. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muss deren eigenes Werk sein.“
Über Blochs Russland-Bild hinaus gibt es aber auch eine in der Vademecum-Broschüre sicherlich nicht im Vordergrund stehende, aber doch subkutan wirksame transpolitische Dimension des Autors und seiner 1917/19 vertretenen USP-nahen, westlich-entantefreundlichen Positionen mit beständiger Kritik am und Polemik gegen den „Sozialismus maximalistischer Richtung“ und den „andauernd ententefeindlichen Bolschewismus“. Was als aktueller politischer Richtungsstreit erscheint, hat jedoch, hier vergleichbar dem idealisierten Russland-Bild Blochs, eine tiefendimensionelle Schicht: Bloch vermisst das Spirituelle.
Was sich bereits 1918 sowohl im Vademecum als auch im Übersichtreferat zu politischen Programmen und Utopien in der neutralen Schweiz während des Ersten Grossen Krieges passagenhaft andeutete, wird wenig später im 1919 veröffentlichten programmtischen Zeitschriftenbeitrag Wie ist Sozialismus möglich? explizit und verdeutlicht eine mit Blochs Sozialismus-Bild verbundene Erlösungs- und Heilserwartung als kommunistische Utopie und parareligiöse Eschatologie zugleich.
Erneut kritisiert Ernst Bloch hier jedes ökonomistische Verständnis von „Sozialismus als eine blosse Wirtschaftsform“, erinnert an die von Marx begründete „erlösend kommunistische Haltung: jeder produzierend nach seinen Fähigkeiten, jeder konsumierend nach seinen Bedürfnissen“ – und erkennt, als Hiatus, „das Problem des Sprungs zum gänzlich unkapitalistischen, brüderlich entbrannten Liebes- und Gemeinschaftsethos“; wobei es besonders im frühen ersten Nachkriegsdeutschland fehle „an Tradition der Güte, der Brüderlichkeit, der sozialen Erbtugend, der herzlichen anarchischen Katholizität in und mit der Menschheit als den einzigen Ermöglichungen des radikalen Sozialismus.“